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  4. Hermann Broch: Eine Wiederentdeckung zum 70. Todestag

Literatur Hermann Broch

Von der Verführbarkeit der Menschen

Hermann Broch, um 1935 Hermann Broch, um 1935
Hermann Broch, um 1935
Quelle: Getty Images
Vor 70 Jahren starb Hermann Broch. Sein vergessener Roman „Die Verzauberung“ liest sich heute wieder unheimlich aktuell: Eine Gemeinschaft lässt sich auf spalterische Rhetorik ein. Besonders gefährdet sind die, die es gut meinen.

Ende Mai 1951 ist es heiß und stickig in New York City. Ein 64-jähriger Wiener Emigrant, den die Fotografien aus jener Zeit als einen frühzeitig Gealterten mit Jackett, Krawatte, Bügelfaltenhose und Krückstock zeigen, quält sich durch das Menschengewühl auf Subway-Treppen. Dem renommierten Verlag Knopf muss er eine Terminverlängerung für die Abgabe seines Romans „Die Verzauberung“ abhandeln, außerdem gilt es, Freunde und Bekannte zu besuchen. Aber nur kurz, um schnell an den Schreibtisch in New Haven zurückzukehren, um am Roman weiterzuarbeiten, dessen Niederschrift er bereits 1934 im niederösterreichischen Laxenburg begonnen hatte.

Zuvor aber noch eine kurze Visite in der New School for Social Research, wo man seit Längerem versucht, einflussreiche Schriftsteller und Institutionen dafür zu gewinnen, in Stockholm diesen Namen vorzuschlagen für den Literaturnobelpreis 1951: Hermann Broch, 1938 nach New York geflüchteter Autor der Trilogie „Die Schlafwandler“ sowie der Romane „Der Tod des Vergil“ und „Die Schuldlosen“. Ob römische Antike, die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts oder österreichische Zwischenkriegszeit – immer ging es, in filigraner, essayistischer oder rhapsodischer Sprache, um Auflösungsprozesse, um das Zerfasern von Gesellschaften und religiösen Gewissheiten, um metaphysische Obdachlosigkeit und Möglichkeiten humaner Resistenz.

Broch, der Exilant

Dass „Die Verzauberung“ immer noch nicht beendet war, lag auch daran, dass sich in den Jahren der Emigration immer wieder anderes dazwischen geschoben hatte, vom ständigen Geldmangel ganz zu schweigen: Broch – 1886 in eine jüdische Familie in Wien geboren und 1909 zum Katholizismus konvertiert – verfasste Resolutionen und Essays, um den Völkerbund und die junge UN auf die Verteidigung der Menschenrechte zu verpflichten. Er bemühte sich um lebensrettende Visa, um die im nazibesetzten Frankreich gestrandeten Kollegen in die Vereinigten Staaten zu bringen: Franz Blei, Franz Werfel, Alfred Polgar, Hans Sahl.

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Aus London hatte Elias Canetti Brochs Vorschlag abgelehnt, sich im Exil über die aktuellen Phänomene der politischen Massenhysterie auszutauschen. (Jahrzehnte später wird er in seiner Nobelpreisrede Brochs Einfluss dennoch dankend erwähnen.) Also musste Broch, ohnehin Solitär, ganz allein an seiner Theorie über den Massenwahn arbeiten. Erste Vorarbeiten hatte er an Hannah Arendt geschickt, die sich wiederum mit Auszügen aus „The Origins of Totalitarism“ revanchierte, das 1951 schließlich erschien.

Da war Hermann Broch jedoch bereits tot, nach dem letzten New-York-Besuch war er in seinem Exilort in New Haven am Morgen des 30. Mai vor lauter Erschöpfung zusammengebrochen und einem Herzschlag erlegen. Zusammen mit seiner Witwe Annemarie kümmerte sich Arendt um die Modalitäten des konfessionslosen Begräbnisses – der Grabstein auf dem kleinen Friedhof in Killingworth/Connecticut erinnert an Broch als „Poet und Philosopher“. Als seine Fragment gebliebene Studie „Massenwahntheorie“ 1979 posthum erschien, war Arendt ihrerseits seit vier Jahren tot und konnte nichts mehr für das Werk ihres Kollegenfreundes tun.

Buchwerbung für Hermann Brochs „Die Schlafwandler“ (1931)
Verlagsanzeige für Hermann Brochs „Die Schlafwandler“
Quelle: Getty Images

Broch, so scheint es sieben Jahrzehnte nach seinem Tod, ist vor allem ein „writer’s writer“ geblieben, hochgelobt etwa von Milan Kundera, der ihn zur Gilde der „denkenden Romanciers“ rechnete, doch letztlich kaum gelesen. Seine „Massenwahntheorie“ fristet im Vergleich zu Canettis „Masse und Macht“ und Arendts Totalitarismus-Buch bis heute ein Schattendasein (vgl. Aufsatz zum Thema). Als erklärter Anti-Marxist („Marxisten wissen Antworten auf jede Frage, nur nicht auf jene, die in jeder Antwort steckt“) und menschenrechtssensibler Skeptiker eines homogenisierenden „Selbstbestimmungsrechts der Völker“ passte Broch auch nicht in vorgeblich „progressive“ Raster.

Nun hat sein Biograf und langjähriger Herausgeber Paul Michael Lützeler – Essayist und emeritierter Professor in St. Louis/USA – unter dem Titel „Hermann Broch und die Menschenrechte: Anti-Versklavung als Ethos der Welt“ eine Studie verfasst (De Gruyter Verlag, 300 S., 39,95 €). Bleibt zu hoffen, dass sie mehr Leser findet als Brochs politische Schriften, die seit Jahrzehnten als sorgsam edierte, blaufarbene Suhrkamp-Taschenbücher verfügbar sind. Schon deshalb, weil diverse Schurkenstaaten sich ja nach wie vor hinter der von Broch kritisierten „Staatssouveränität“ verschanzen, um Menschen zu kujonieren und zu morden, während gleichzeitig so manch hochgemute Aktivisten bis heute nicht verstehen, dass „Konstitutionstreue und Autonomie des Gerichts“ keine „formaljuristischen Aspekte“ sind, sondern aufklärerische Errungenschaften, die es unbedingt zu verteidigen gilt.

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Brochs Fragment gebliebener Roman „Die Verzauberung“ lässt sich indes als Buch zur Stunde lesen: Schauplatz ist ein abgelegener Berg-Ort, seit alters her in Ober- und Unterdorf geteilt, Anfang der 1930er Jahre. Nicht besonders reich, nicht exzeptionell arm, jedenfalls ohne die Figur eines Ausbeuters, unter dessen Joch „das Volk“ stöhnen würde. Und doch sorgt dann ein dubioser Zugereister in geradezu rasender Schnelle für Aufruhr.

Obwohl sein Name Marius Ratti und die Physiognomie eher südlich wirken und der soziale Hintergrund auf einen womöglich bankrott gegangenen Kleinbürger hindeutet, gelingt es ihm im Handumdrehen (mit Gestik und Mimik des salbungsvollen Schwadroneurs), sich als besorgter Mann des bäurischen Bodens zu präsentieren, als authentischer Sohn der Erde. Kaum bei einem gutmütigen Bauern als Knecht angestellt, moniert er auch schon den Radioapparat in der Küche, durch den Städtisch-Fremdes ins Dorf dringe, so wie auch die im Oberdorf unter prekären Umständen lebende Familie eines Agenten für Landwirtschaftsgeräte schollenfern sei und folglich vertrieben werden müsse: Brauche es doch weder Radio noch mechanische Dreschmaschinen, wenn man den Ruf der Berge, Täler und Wiesen wirklich zu hören wisse. Zur reaktionären Ökologie gesellt sich purer Materialismus.

Die Figur Marius Ratti

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Existiert im Oberdorf, so fragt Marius im Wirtshaus und bei der sommerlichen Mahd, nicht das Stollensystem eines seit Ewigkeiten stillgelegten Bergwerks, aus dem man mit „autochthoner männlicher Tatkraft“ doch ganz bestimmt noch Gold fördern könnte? Der mit Hass-Rhetorik agierende Gemeinschafts-Apostel erinnert an ethisch Depravierte vom Schlage eines Björn Höcke. Unterstützt wird Marius von einem grausigen Spaßvogel namens Wenzel, auch er ein Vorläufer-Prototyp, eine Art kalkulierend provozierender Fox-Moderator oder Ken Jebsen seiner Zeit.

Brochs Erzähler ist ein alter Landarzt, der Tagebuch führt und zum Zeugen wird, wie ein Mischmasch aus Verzichts-Rhetorik, Städtehass, Reichtums-Versprechen und permanenter neuer Feinderklärungen den gesamten Ort in fiebrige Spannung versetzen. Womöglich hatte der legendäre Literaturwissenschaftler George Steiner recht mit seinem Diktum, Brochs Roman stelle eine noch größere Leistung dar als Thomas Manns „Doktor Faustus“. Denn jenes „Ober- und Unter-Kuppron“ lehrt mehr über die (Selbst-)Infizierung einer Gesellschaft als das Geschehen in Manns fiktivem Berg-Ort Pfeiffering. Zumal Hermann Brochs zuvor integrer Chronist bei einem ins Paganistisch-Orgiastische abdriftenden Kirchweihfest entscheidende Minuten selbst paralysiert ist.

Als sich die Nacht herabsenkt, wird das Ländler-Gefiedel auf der Wiese immer lauter, die tanzenden Bauernleiber werden drängender und verschwitzter, die Burschen immer aggressiver und die Rede des Marius Ratti immer suggestiver: Erde und Berg seien geschändet und entfremdet, also müsse ein unschuldiges Opfer für Schicksals-Versöhnung sorgen. Worauf ein junges Bauernmädchen ritualmäßig geschlachtet wird – freilich nicht etwa durch die Hand des schlauen Verführers, sondern durch den aufgeheizten Dorfmetzger, der nach seiner Tat ins Gebirge flieht und dort umkommt.

Marius hingegen distanziert sich von der Bluttat, die er dennoch als gerechtfertigt preist; er wird kurz darauf in den Gemeinderat gewählt und überlebt dort politisch sogar das Desaster eines erfolglosen Goldgrabens im Stollen, das erneut Menschenopfer fordert. Brochs Doktor ist da längst wieder zur Besinnung gekommen, weiß ab nun um die Verführbarkeit auch der sogenannten „Guten“ – doch wem nützt das noch? Uns. Wir Nachgeborene, die wir angesichts des Gegenwartsgeschehens allzu oft töricht „Warum?“ fragen und von „neuen Phänomenen“ plappern, haben mit „Der Verzauberung“ einen absolut hellsichtigen Vermächtnis-Roman zur Lektüre. Höchste Zeit, Broch neu zu entdecken.

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