Worin ein wahres Abenteuer besteht und was es heißt, dem Leben heldenhaft die Stirn zu bieten, darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen, auch unter Schriftstellern. Wo der eine den Schreibtisch flieht, um gegen Löwen zu kämpfen oder sich in kriegerischen Stahlgewittern zu beweisen, und wo die andere nach Afrika übersiedelt, um eine Farm zu betreiben, da haben die leiseren Gemüter genug damit zu tun, sich in die Abgründe ihres Seelenlebens zu vertiefen und sich vor den Anfeindungen des Lebens in ein Schneckenhaus zurückzuziehen.
Ganze literarische Epochen und ihre Vertreter scheinen zu Rückzügen dieser Art zu neigen, die ihre Verächter vorschnell Eskapismus schelten. Das Biedermeier ist eine solche Zeit, deren Autorinnen und Autoren selten zu extrovertierten Aktionen tendierten. Wie Eduard Mörike, der mit der Schaffensfreude seiner schwäbischen Landsleute wenig anfangen konnte und von diesen argwöhnisch betrachtet wurde. Faul sei er gewesen, hieß und heißt es über ihn, und in der Tat lässt es sich nicht von der Hand weisen, dass es ihn wenig interessierte, was seine Mitmenschen unter einer bürgerlichen Erfolgsgeschichte verstanden.
Als es ihm 1834 endlich gelingt, eine Pfarrstelle im lauschig-beschaulichen Cleversulzbach (dessen altem Turmhahn er später ein feines Gedicht widmete) zu ergattern, ermatten ihn die überschaubaren Dienstpflichten alsbald. Liebend gern lässt er sich von Vikaren vertreten, und um von der Last der Gottesdienstvorbereitung entbunden zu werden, bittet er seinen Freund Hartlaub, Pfarrer wie er, um einen Packen Predigten. Merkt doch keiner, dass das Vorgetragene nicht auf seinem Mist gewachsen ist. Stattdessen zieht es Mörike vor, schönste Gedichte zu schreiben, lesend im Garten zu sitzen, den Wolken bei ihrem aufregenden Tun zuzusehen oder den Gesängen der Dorfkinder zu lauschen.
Ruhestand mit 39
1843 hat er es endlich geschafft. Im zarten Alter von 39 Jahren wird sein Antrag auf Pensionierung genehmigt. Ein paar Jahre später heiratet er, der evangelische Theologe, eine Katholikin und zieht mit ihr nach Stuttgart, wo er mit seiner Schwester Klara einen Dreierhausstand gründet, auf dem kein Segen gelingt. Immerhin, er gilt als geachteter Dichter, empfängt Kollegen wie Theodor Storm, die ihn schätzen, und hat nichts dagegen, wenn er seine Ruhe hat.
Große Werke packt er in seinen letzten Lebensjahrzehnten nicht mehr an, doch immerhin macht man ihn zum Professor, der am Stuttgarter Katharinenstift viele Jahre lang Literaturunterricht erteilt, sogenannte „Frauenzimmer-Lektionen“. Eine Stunde in der Woche lautet der Auftrag, was darauf schließen lässt, dass er sich wieder nicht überarbeitet hat. Immerhin widerfährt ihm während einer dieser Unterrichtsstunden etwas, was fast als Abenteuer durchgehen kann.
Die Schriftstellerin Isolde Kurz hat davon berichtet, dass es Mörike, während er seinen Schülerinnen Goethes „Iphigenie“ nahebrachte, nach einem Schnupftuch verlangte. Gedankenverloren greift der Dozent hinter sich, kriegt etwas Weißes zu fassen, dessen Stoff ihm merkwürdig grob erscheint. Er schnäuzt in dieses Objekt, versucht es anschließend in der Hosentasche zu versenken, was nur unter Anstrengung glückt. Erst als ihn wenig später erneut ein Schnäuzbedürfnis ereilt, stellt Mörike zu seinem Entsetzen fest, dass er in lyrischer Erregung sein Sacktuch mit der Fenstergardine verwechselt hat. Ein rechtes Abenteuer, keine Frage – und eines, das seine artigen Zöglinge reglos quittieren, sich jedes Lachen verkneifend. So ging das damals in Stuttgart zu.
Alles Schriftstellerleben sei Papier, heißt es. In dieser Reihe treten wir den Gegenbeweis an.