Modalität / Temporalität
in kontrastiver
und typologischer Sicht
Dan z ig e r
Band 30
Beiträge zur
Germanistik
PETER LANG
Andrzej Kątny / Anna Socka (Hrsg.)
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf Referate einer Tagung des Arbeitskreises Modalität im Deutschen zurück, die an der Universität Gdańsk
gehalten wurden. Neben verbalen und lexikalischen Ausdrucksmitteln der
Modalität wird insbesondere das Zusammenspiel der beiden semantischen
Bereiche Modalität und Temporalität unter verschiedenen Gesichtspunkten
behandelt. In mehreren Beiträgen wird auch auf die konzeptuelle Domäne
der Evidentialität Bezug genommen. Beides geschieht meistens aus kontrastiver oder (seltener) typologischer Perspektive. Berücksichtigte Sprachen
sind vor allem Deutsch, Englisch, Niederländisch, Norwegisch, Russisch und
Polnisch.
Andrzej Kątny, ordentlicher Professor am Institut für Germanistik der Universität Gdańsk (Polen); Forschungsgebiete: kontrastive Linguistik, Modalität, Aspektualität, Lexikologie, Sprachkontakte, die Danziger Literatur.
Anna Socka, Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität
Gdańsk (Polen); Forschungsgebiete: Redewiedergabe, Evidentialität, kontrastive Linguistik.
www.peterlang.de
Modalität / Temporalität in kontrastiver und typologischer Sicht
Dan z ig e r
Beiträge zur
germanist ik
Herausgegeben von Andrzej Kątny
Band 30
Peter Lang
Frankfurt am Main · Berlin · Bern · Bruxelles · new York · Oxford · Wien
andrzej Kątny / anna Socka (Hrsg.)
Modalität / Temporalität
in kontrastiver
und typologischer Sicht
Peter Lang
Internationaler Verlag der Wissenschaften
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlaggestaltung:
Olaf Glöckler, Atelier Platen, Friedberg
Umschlagabbildung: Panorama von Danzig
mit dem Motto der Universität Gdańsk.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung
der Universität Gdańsk.
Gedruckt auf alterungsbeständigem,
säurefreiem Papier.
ISSN 1617-8440
ISBN 978-3-653-00319-2
© Peter Lang GmbH
Internationaler Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 2010
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort (Andrzej Kątny /Anna Socka) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
I. Zur Interaktion von Modalität und Temporalität
Werner Abraham
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen: Interaktionen und deren Brüche .
Woi kommen die epistemischen Lesarten ti-her? . . . . . . . . . . . . . . 13
Michail L. Kotin
Zur referentiellen Identität von Tempus- und Modusformen . . . . . . . . . 29
Olga Kostrova
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen und Russischen:
eine Fallstudie anhand der temporalen Konjunktionen . . . . . . . . . . . 39
Andrzej Kątny
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart
aus kontrastiver Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Sigbjørn L. Berge
Modal interpretations of the preterite tense in English and Norwegian . . . . 77
II. Modal- und Modalitätsverben
Heinz Vater
Möchten als Modalverb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität im heutigen Deutsch . . . . . 113
Tanja Mortelmans
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben must, müssen
und moeten nicht entsprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Ole Letnes
Zur „affektiven“ Komponente epistemischer müssen-Verwendungen . . . . 149
Kjetil Berg Henjum
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp „Imperativ
+ skal + Personalpronomen + Infinitiv“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
6
Inhaltsverzeichnis
III. Lexikalische Modalitätsmarker
Veronika Ehrich
Das modale Satzadverb vielleicht – Epistemische (und andere?) Lesarten . . 183
Monika Schönherr
Korpusgestützte Analyse der nicht-morphologischen Kodierungsformen
der epistemischen Modalität in Otfrids Evangelienbuch . . . . . . . . . . 203
Irina A. Šipova
Epistemische Modalität im Deutschen und Russischen
in kontrastiver Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Anna V. Averina
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen im Vergleich
zum Russischen und Besonderheiten ihres Funktionierens in der Rede . . 223
Anna Socka
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch) . . . . . . . 239
Vorwort
Der Band enthält Beiträge der vom 5. bis 7. Mai 2008 von der Universität Gdańsk
veranstalteten Konferenz „Modalität / Temporalität in kontrastiver und typologischer Sicht“ . Bei dieser Tagung handelte es sich um das siebente Treffen des
Arbeitskreises Modalität im Deutschen, der 1992 von Prof . Heinz Vater (Köln)
und Prof . Oddleif Leirbukt (Bergen) gegründet wurde und sich regelmäßig zu
Workshops und Tagungen trifft . Die Konferenzmaterialien wurden bisher in der
Reihe Fokus des Wissenschaftlichen Verlags Trier herausgegeben .*
Die Beiträge dieses Bandes kann man drei Themenkreisen zuordnen:
1. Zur Interaktion von Modalität und Temporalität
Werner Abraham (Universität Wien und München) weist auf die Interaktion
zwischen der aktionalen Charakteristik des Hauptverbs und dem Modalitätstyp,
d .h . auf die enge Abhängigkeit zwischen der epistemischen Lesart des Modalverbs und der imperfektiven Aktionsart sowie zwischen der deontischen Modalverblesart und der perfektiven Aktionsart hin . Eine wichtige Funktion kommt
außerdem der Zeitreferenz und dem Personsmerkmal zu . Michail Kotin (Universität Zielona Góra) stellt die These auf, dass es zwischen den Tempora und
Modi nicht nur eine kategoriale, sondern auch eine referentielle Identität gibt . Es
werden die wechselseitigen Beziehungen der morphologischen Tempus- und Modusmarkierung im Gemeingermanischen, Gotischen, Althochdeutschen und Altgriechischen skizzenhaft behandelt . Für die temporale Perspektive gilt folgende
Verteilung: Vergangenheit in Kombination mit dem Indikativ ergibt Faktizität und
mit dem Konjunktiv – Nichtfaktizität; Zukunft mit dem Indikativ oder Konjunktiv indiziert Möglichkeit, mit dem Konjunktiv – Unmöglichkeit . Olga Kostrova
(Pädagogische Universität Samara) versucht die Grenzgebiete der Temporalität
im Deutschen, Englischen und Russischen darzustellen, indem sie die temporalen
Konjunktionen auf ihre Etymologie hin untersucht . Dabei geht sie von der Annahme aus, dass die räumlichen Konzepte die Hauptquelle für die Ausbildung von
temporalen Bedeutungen auf dem Wege der Metaphorisierung bildeten . Weitere
Möglichkeiten sind der temporale Vergleich, demonstrative Deixis und Interrogativität . Andrzej Kątny (Universität Gdańsk) wendet sich zuerst einer Gruppe der
Resultativa im Polnischen (mieć-Zustandsform) zu und geht der Frage nach, ob sie
auf dem Wege der Grammatikalisierung (vergleichbar mit den germanischen und
romanischen Sprachen) ein neues Tempus (Perfekt) bilden bilden; im zweiten Teil
* Vater, Heinz / Ole Letnes (Hgg .) (2001): Modalität und mehr / Modality and More (= Fokus
23); Fabricius-Hansen, Cathrine / Oddleif Leirbukt / Ole Letnes (Hgg .) (2002): Modus, Modalverben, Modalpartikeln (= Fokus 25); Letnes, Ole / Heinz Vater (Hgg .) (2004): Modalität
und Übersetzung – Modality and Translation (= Fokus 29); Letnes, Ole / Eva Maagerø/
Heinz Vater (Hgg .) (2008): Modalität und Grammatikalisierung – Modality and Grammaticalization (= Fokus 34) .
8
Vorwort
unternimmt der Verfasser den Versuch, die These von der Relevanz der aktionalen
und referentiellen Charakteristik für die Deutung der Modalverben im Deutschen
und Polnischen einer kritischen Überprüfung zu unterziehen . Sigbjørn Berge (Universität Agder) weist einen wichtigen Unterschied zwischen dem norwegischen und
dem englischen einfachen Präteritum nach: das norwegische Präteritum vermittelt
neben der temporalen auch die modale Bedeutung . Dies hängt damit zusammen,
dass die Modalverben im Englischen (im Unterschied zum Norwegischen) in ihrer
lexikalischen Bedeutung das grammatische Merkmal ‘nichtindikativischer Modus’
enthalten und für die Kodierung der modalen (kontrafaktiven) Inhalte die im Verbsystem verankerte grammatische Form einsetzen müssen .
2. Modal- und Modalitätsverben
Heinz Vater (ehemals Universität zu Köln) zeigt anhand zahlreicher aktueller
Belege auf, dass sich möchten im heutigen Deutsch als ein selbständiges Modalverb herausbildet, das eine epistemische (z .B . Kommt Paul morgen? Das möchte
schon sein), evidentielle (Keiner möchte auch nur Verdacht geschöpft haben),
deontische (Sie möchten zum Chef kommen!) oder dispositionelle Lesart (Die
Leute möchten immer gesichert sein) haben kann . Gabriele Diewald und Elena
Smirnova (Universität Hannover) plädieren für eine klare Abgrenzung der beiden
semantisch-kognitiven Domänen Epistemik (sprachliche Enkodierung eines deiktischen Faktizitätsgrades bezüglich des dargestellten Sachverhalts) und Evidentialität (sprachliche Enkodierung der Informationsquelle des Sprechers über den
dargestellten Sachverhalt) . Werden sowie drei Modalitätsverben des Deutschen
teilen mit Modalverben das epistemische Merkmal [+unsichere Faktizität], drücken jedoch zusätzlich Evidentialität aus: scheinen besitzt die Merkmale [+spezifische Evidenzen, (+)/-direkte Evidenzen], werden [- spezifische Evidenzen].
Drohen und versprechen teilen die Merkmale [+ spezifische Evidenzen, + direkte Evidenzen], unterscheiden sich jedoch im Wert des Merkmals [± erwünscht] .
Die Autorinnen beschäftigen sich auch mit der weiteren Unterteilung des Bedeutungsfeldes der unsicheren Faktizität außerhalb der Evidentialität sowie mit der
Frage nach Eingrenzung und Erklärung der Überschneidungsbereiche von beiden .
Anhand eines Korpus vergleicht Tanja Mortelmans (Universität Antwerpen) die
Funktionsbereiche des englischen Modalverbs must und seiner Äquivalente im
Deutschen (müssen) und Niederländischen (moeten) . Ein besonderes Augenmerk
der Autorin gilt dabei ihren epistemischen Verwendungen . Offen lässt sie die vieldiskutierte Frage nach der gegenseitigen Relation der epistemischen Modalität
einerseits und der (inferentiellen) Evidentialität andererseits . Die auffällig hohe
Frequenz von moeten führt sie auf die Polyfunktionalität des Verbs zurück: Es
weist eine ganze Skala dispositioneller, deontischer und evidentieller Verwendungen auf . Das stark grammatikalisierte englische must hat sich dagegen auf zwei
Verwendungen spezialisiert: eine sprecherbezogene deontische und eine epistemische, die auch als evidentiell interpretiert werden kann . Das deutsche müssen
nimmt eine Mittelstellung ein . Zahlreiche Belege für müssen-Verwendungen des
Vorwort
9
Typs Ich muss wohl verrückt sein!, die Ole Letnes (Universität Agder) anführt und
typologisiert, untermauern seine These, dass sie eine deutliche affektive Komponente (die insbesondere als [+Übertreibung] oder [+Empathie] ausbuchstabiert
werden kann) aufweisen . Diese Komponente, die die inferentielle überlagert oder
sie sogar völlig aufhebt, bedarf einer systematischen semantischen Erklärung .
Kjetil Berg Henjum (Universität Bergen) präsentiert die Ergebnisse einer Korpusuntersuchung des norwegischen Konstruktionstyps Kom (så) skal vi klippe
sauen (wörtl.: ‛Komm (so) sollen wir das Schaf scheren’), in der das Modalverb
skulle immer eine hortative Bedeutung hat . Bei dem imperativischen Verb handelt
es sich meistens um komme ‛kommen’, bei dem Pronomen um du. Die häufigsten
deutschen Übersetzungsäquivalente enthalten die Verben wollen (Komm, wir wollen das Schaf scheren) und lassen (Komm, lass uns das Schaf scheren) .
3. Lexikalische Modalitätsmarker
Veronika Ehrich (Universität Tübingen) stellt die Frage nach den Lesarten des
modalen Satzadverbs vielleicht. Ihre präzise und empirisch gut abgesicherte Analyse ergab, dass vielleicht in Deklarativ- und Fragesätzen, die als Aufforderungen
oder Vorschläge verwendet werden, möglich ist, unterliegt aber Illokutionsbeschränkungen . Aus der Analyse geht hervor, dass vielleicht in allen seinen Vorkommen epistemische Bedeutung aufweist, d .h . „es kennzeichnet eine Proposition
oder die Einstellung zu einer Proposition als hypothetisch“ . Monika Schönherr
(Universität Würzburg) sucht nach nicht-morphologischen Kodierungsformen der
epistemischen Modalität in dem um 860 verfassten Evangelienbuch von Otfrid;
Grundlage dafür schafft das von der Verfasserin zusammengestellte und nach types und tokens sortierte Korpus von 560 Belegen . Diese nicht verbalen Mittel
werden als Modalitätsangaben klassifiziert und auf ihre Distribution untersucht.
Die kontrastive Analyse der Ausdrucksmittel der epistemischen Modalität von
Irina Šipova (Moskauer Pädagogische Universität) zeigt u .a ., dass das Deutsche
über mehr grammatische Mittel als das Russische verfügt . Im Russischen fungieren vorwiegend Modalwörter, Adverbien, Interjektionen und Modalpartikeln als
Exponenten der epistemischen Modalität . An diese Probleme knüpft Anna Averina (Moskauer Pädagogische Universität) an, wobei sie ihr Augenmerk auf das
Funktionieren der Epistemika auf der Text- und Satzebene richtet . Anna Socka
(Universität Gdańsk) beschäftigt sich mit lexikalischen Markern der Reportativität im Polnischen (podobno, rzekomo, jakoby, niby) und ihren deutschen Äquivalenten . Die Reportativität, d .h . den Hinweis auf eine fremde Äußerungen als
Informationsquelle, betrachtet sie dabei als einen Bereich der Evidentialität . Die
genannten Lexeme lassen sich im Hinblick auf die mitausgedrückte epistemische
Komponente weitgehend skalar einordnen . Eine von der Autorin durchgeführte
Korpusuntersuchung ergab, dass sie im Hinblick auf die hohe Textfrequenz mit
den deutschen reportativen Verbkonstruktionen sollen/wollen+Infinitiv vergleichbar sind, die im Defaultfall ihre Übersetzungsäquivalente darstellen . Dagegen
werden sie so gut wie nie mit dem deutschen Referatskonjunktiv übersetzt .
10
Vorwort
Die Tagungsbeiträge und anschließende Diskussionen brachten mehrere interessante Beobachtungen zu Tage . So zeigt der wiederholte Bezug auf den Begriff
der Evidentialität, dass er in der germanistischen Linguistik einen festen Platz
gefunden hat . Die nächste Tagung des Arbeitskreises, die 2010 von Gabriele Diewald und Elena Smirnova an der Universität Hannover veranstaltet wird, trägt den
Titel „Modalität und Evidentialität“ .
Die Herausgeber dieses Bandes möchten sich bei Michail Kotin und Ole Letnes
für die Begutachtung einiger Beiträge aufs herzlichste bedanken . Die Veranstaltung der Konferenz und der Druck des Bandes waren dank der finanziellen Unterstützung durch die Universität Gdańsk und die Johann-Gottfried-Herder-Stiftung
der Universität Gdańsk möglich.
Andrzej Kątny /Anna Socka
(Universität Gdańsk)
I. Zur Interaktion von Modalität und Temporalität
Werner Abraham
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen: Interaktionen und deren
Brüche. Woi kommen die epistemischen Lesarten ti-her?
Zusammenschau: Es geht vor allem darum, Entscheidungspole dafür bloßzulegen, wie grundmodale (DMV) und epistemische (EMV) Lesarten bei Modalverben zustande kommen . Diese sind in sehr verschiedenen Kontexten auszumachen, die sich allerdings unterschiedlich stark einbringen und entsprechend
zu Lesarten gradueller Abstufung führen .
1. Aspekt-Modalitäts-Interaktionen
1 .1 . Generalisierungen: Epistemika über Tempus
Es gibt logisch begründbare Interaktionen zwischen der Aktionsartkodierung
eingebetteter Prädikate und der Modalität finiter Modalverben im Matrixsatz.
Im Deutschen und Englischen zeigt sich die epistemische Lesart verlässlicher
bzw . präferenter bei Einbettung imperfektiven (impf) Aspekts (Aktionsart) . Vgl .
(1a-e) (dazu zentral Abraham 1998, 2005) . [MV = Modalverb, EMV = epistemische Modalverblesart, DMV = deontische MV-Lesart (generell verwendet
für: Grundmodallesart; ‚DMV’ wegen „deontisch“ auf modale Obligatorik beschränkt); „2DMV/1EMV“ bedeutet, dass „EMV“ im Vergleich zu „DMV“ die
präferentere Lesart ist] .
(1) a
Sie muss
[nachhause rennen/die Tür öffnen]
. . .
DMV/*EMV
. . .
DMV/EMV
perf
b Sie muss
rennen/geduldig sein
impf
c
Sie muss
am Nachhausrennen sein
. . .
2
DMV/1EMV
impf
d She must
die
. . .
DMV/*EMV
perf
e
She must
be dying
. . .
*DMV/EMV
impf
Aspektuelle Perfektivität (Telizität, Terminativität – also Aktionsart- und Aspektunterschiede im slawischen Sinne überspielend) zeigt demnach hohe Affinität mit
Grundmodalität (DMV), Imperfektivität (Durativität, Progressiv) dagegen mit
Epistemik (EMV) . Vgl . (2)-(3) .
Werner Abraham
14
(2) a
(3) a
perfektives E(reignis)
b
|>>>>>>>>>>|----------------- |
emergente
E-Resultat(sphase)
Phase
grundmodalisiertes E:
b
|→→→→→→|≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈|
¬E
(projiziertes) E
(projektive,
E-Vorrealisierungsphase)
imperfektives E (Zustand/Prozess):
|≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈|
epistemisches E:
|≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈|
Die zeitreferentiellen Konfigurationen sind die folgenden: Bei E(pistemik-)
Lesarten gilt, dass Sprechaktzeit, ts, mit der Referenzzeit (= Ereignisbeurteilungszeit), tr, zusammenfällt, selbst wenn die Ereigniszeit, te, davor, also in der Vergangenheit liegt . Vgl . (4a,b) .
(4) a Sie muss zuhause sein
→(ts, sie zuhause) – EMV – Erschließung für te/ts/tr
b Sie muss zuhause gewesen sein
→(ts, sie zuhause) – EMV – Erschließung für
(te<)tr/ts, also in der (Infinitiv-)Anteriorität/Vergangenheit
Grundmodalität (Deontik) dagegen folgt anderen Voraussetzungen . Vgl . (5) .
(5) a
Sie muss zuhause bleiben
b Sie musste da bleiben
(ts, sie da bleiben) - DMV – Verpflichtung zu ts
für tr=te=ts
(tr, sie da bleiben) - DMV – Verpflichtung zu tr
für te/tr<ts
Epistemische Konstruktionen verhalten sich mit einer Art ‚Zeitenanaphorik’ anders
als Nichtepistemika . Vgl . das modallose (6a,b) mit zwei Lesarten: einer sprechaktzeitabhängigen, p(ts), und einer zweiten sprechaktzeitunabhängigen, p(tr-te) .
(6) a John heard that Mary is pregnant
b Hans hörte, dass Maria schwanger ist .
‚Es gilt zur Sprechaktzeit/ts, dass M . schwanger ist’ ‚Es gilt zu Hs Hörzeit/te-tr, dass M . schwanger ist’ c John heard that Mary must be pregnant
d Hans hörte, Maria müss(t)e schwanger sein
‚Es gilt zur Sprechaktzeit/ts, dass M . schwanger ist’ ‚Es gilt zu Hs Hörzeit/te-tr, dass M . schwanger ist’ -
p(ts) ebenso wie p(tr-te)
p(ts)
p(tr-te)
p(ts), nicht jedoch p(tr-te)
p(ts)
p(tr-te)
Für Nichtepistemika bleiben zwei Erfüllungszeiten für p wie in (6a,b), für Epistemika dagegen bloß die aus der Sprechaktperspektive wie in (6c) . Dies zeigt
deutlich, dass EMV-Lesarten zeitreferenzanaphorisch angelegt sind . Dies gilt im
Englischen ebenso wie im Deutschen .
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen…
15
Stowell (2004) hat fürs Englische gezeigt, dass EMV nur unter Bezug auf Satzreferenzzeit (-evaluationszeit) gelten . In unabhängigen Sätzen mit Referenzzeit=deiktischer Sprecherzeit gelten EMV zur Sprecherzeit wie unten in (7), während Grundmodale, DMV, auch in einer Vergangenheit Gültigkeit haben können;
vgl . (8) .
(7) a
Günthers Frau kann nicht sehr reich sein
‚Es ist nicht möglich, dass Gs Frau reich ist’
b Günthers Frau konnte nicht sehr reich sein
‚Es ist nicht möglich, dass Gs Frau reich ist’
‚Es war nicht möglich, dass Gs Frau reich ist’
(8) a Kevin kann seinen Arm nicht heben
b Kevin konnte seinen Arm nicht heben
. . .
p nicht möglich zu ts
. . .
. . .
. . .
. . .
p nicht möglich zu ts
p nicht möglich zu te
K . fähig zu ts
K . fähig zu te
Wir haben anhand von (6a-d) gesehen, dass der Vergangenheitsbezug bei eingebetteten epistemischen Konstruktionen in einer Art Zeitenfolge auf die Vergangenheitsreferenz des übergeordneten Satzes zurückgeht .
1 .2 Aspektphasen und Zeitreferenz
Konstruktionen bestimmter Modalverben haben implikative Folgen . Diese implikative Bedeutung einer Konstruktion zeigt sich jedoch nur im Präteritum des
MVs . Dies lässt sich anhand einiger diagnostischer Tests sichern . Vgl . (9) . [# bedeutet Redundanz der Textfortsetzung] .
(9) a
P . konnte das Rennen gewinnen,
*er hat das Rennen aber nicht gewonnen .
#und er hat das Rennen auch gewonnen .
b P . musste die Rechnung bezahlen,
*aber er hat die Rechnung nicht bezahlt .
#und er hat auch bezahlt .
c P . konnte das Rennen nicht gewinnen .
→ P. hat das Rennen nicht gewonnen .
d P . musste die Rechnung nicht bezahlen .
→ P. hat die Rechnung nicht bezahlt .87a-d
Die MVn konnte/musste wirken wie implikative Prädikate (Karttunen 1971) über
die eingebettete Proposition P. das Rennen gewinnen/P. die Rechnung bezahlen:
Wenn der modalisierte Satz war ist, dann ist es auch der unmodalisierte . Der jeweilige erste Folgesatz im Test (7a,b) ist kontradiktorisch, der jeweilige zweite ist
redundant . Alle so zusammengestellten Texte sind inkohärent . Auch der negierte modalisierte Satz impliziert die Negation der eingebetteten Proposition, wie
Werner Abraham
16
(7c,d) zeigen . Wie im Spanischen (vgl . Borgonovo & Cummins 2007: 7) gilt, dass
ebensolche implikative Strukturen bei Perfektivkonstruktionen zustande kommen,
dass somit Tempus die Modalität des MVs überschreibt . D .h . auch, dass Tempus
über einen einzelnen Ereignispunkt existentiell quantifiziert. Modalität ist allerdings nicht ignoriert; sie drückt sich nur gleichsam adverbiell aus: zu es gelang
p bzw . wurde gezwungen p also p nicht ohne Mühe bzw . p nicht ohne Widerstreben . Wenn dieser Typus von Adverbien als vP-Adjunkt anzusetzen ist (keinesfalls
höher), dann wäre von einer Anhebung von MV aus seiner Grundmodalposition
in Vo nur aufgrund seiner modalen Merkmale und ohne V-Realisierungsoption
unterhalb von I/T auszugehen .
Aspektsemantik ist durch das Verhältnis zwischen tr und te gekennzeichnet .
Kein Sprechaktzeitpunkt, ts, übernimmt in diesem Verhältnis eine Rolle, er bleibt
außerhalb des Kalküls . Wie diese leite sich auch die implikative Bedeutungsableitung aus der grundmodalen Setzung ab . Dabei ist zum Zeitpunkt tr(<te<ts)
der Eintritt des Ereignisses noch nicht beurteilbar, genauso wie bei Präsenstemporalität mit tr/ts < te . Da aber die entscheidende Zeitreferenzcharakteristik für
Präsenstempus beim MV genau so, nämlich tr<te ist, kann nur der Schluss gültig
sein, dass tr<te für biphasig projektives MV unterschiedliche Phasenzugriffe erfordert . Vgl . (10a) .
(10)
(2) a
perfektives E(reignis)
|>>>>>>>>>>|----------------- |
emergente
E-Resultat(sphase)
Phase
b
imperfektives E (Zustand/Prozess):
|≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈≈|
(10) b
AspP
3
AssT
Asp’
3
Asp
Assertionszeit
Ereigniszeitreferenz
vP
Subassertionsniveau:
Die Trennung in zwei verschiedene Zugriffsphasen ähnelt der Aspektunterscheidung
einer Ereigniszeitreferenz und der Assertionsreferenz bei Demirdache & Uribe-Etxebarria (2000): Assertionszeit ist jene Ereigniskomponente, die in einem bestimmten
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen…
17
Kontext, abhängig von Zeitadverbien bzw . Aspektmorphologie, tatsächlich assertiert wird .Das syntaktisch-semantische Strukturmuster für Aspektunterschiede in
(10b) ist direkt homolog zur Phasenunterscheidung für DMV und EMV in (10a) in
dem Sinne, dass das durch die Prädikation ausgezeichnete Propositionsereignis entweder teilhaft oder zur Gänze zur Sprechaktreferenz in Beziehung gebracht wird .
Als Hintergrund für diese Unterschiede zwischen Modalpräsens und Modalpräteritum sehe ich folgenden (Abraham 2009) . Die modalisierten Präsensversionen wie in (1a-e) beziehen sich auf die Vorrealisierungsphase der projektiven
MVn: tr < te < ts . Im Gegensatz dazu liegt die p-Realisierung bei jeder der drei
Präteritumsetzungen für die gesamte Konstruktion, also MV-Präteritum+Infinitiv,
MV-Präsens+Perfektinfinitiv und MV-Perfekt+Infinitiv in (11)-(12) sowie in den
deutschen Glossenversionen dazu auf der Folgephase wie in (13a): tr,te < ts .
(11) a At that point1, he could/might1 still have won2 the game . …
EMV; (te1<te2)<ts
b In October1, Gore still could1 have won2 the election .
…
EMV; (te1<te2)<ts
modal-perfect reversal of Past-shift
(12) He may/might1 have (already) won2 the game .
…
EMV; te2<(ts=te1)
Past-shifted
Für (11a,b) gilt zukünftige Möglichkeit in der Vergangenheit – also (te1<te2)<ts:
Stowell (2004: 631), Condoravdi (2002) folgend, meint so als ob das nichtfinite
have won finite Referenzskopus über das Modal, could/might, hätte . Dieser Schluss
ist jedoch nicht für (12) zu ziehen, wo das epistemische MV Gegenwartsbezug hat
(ts=te1) und die Zeitreferenz des eingebetteten Infinitivs, have won, als vergangen
(„past-shifted“) erscheint: te2<(ts=te1) . (11a,b) zeige also so etwas wie ein Umdrehen, ein Kippen der normalen Vergangenheitsreferenz des Komplementpräteritums
bei der epistemischen Lesart – die ja T(empus)unabhängig sein sollte .
Stellen wir unsere eigene Bewertung zu (11a,b) und Stowells Schlussfolgerung zum modal-perfect reversal eben noch zurück . Betrachten wir zuerst die
deutschen Entsprechungen zu (11a,b) in (13) mit den synonymen Varianten (a,b)
sowie den entsprechenden morphosyntaktischen Konstituentenklammerungen .
(13c) entspricht (12) . [Abkürzung: part(izip)] .
(13) a …, dass er gestern
[[ge-wonnen
haben]
anterior.part
präs.inf
b …, dass er gestern [gewinnen
[können/*ge-konnt
präs.inf
anterior.part
c Er mag/dürfte gewonnen haben .
könnte] mv.konj.prät.3.sg
konj.prät.3sg
hätte]] mv.konj.prät.3.sg
konj.prät.3sg
Die präteritale Lesart der Gesamtkonstruktion mit Tempusrealisierung entweder am MV oder als aspektuelles Anterior (in der Form des 2 . Partizips) am
eingebetteten Vollverb nimmt Zeitreferenz auf die (Resultats-)Folgephase der
Ereigniskonfiguration. Modalität im Präsenskonstrukt besitzt Projektivität der
Werner Abraham
18
Ereignisrealisierung und damit Nichtwahrheitswertigkeit (tr < te); Modalität im
Präteritumkonstrukt dagegen hat diese E(reignis)-Projektivität zugunsten von bereits ergangener E-Realisierung und damit Wahrheitswertigkeit aufgegeben . Vgl .
dazu (28) und (29), in denen die tiefere Homologie zwischen Aspekt (mit ursprünglichem Präteritopräsensstatus der germanischen MVn) und Modalität darstellen (Abraham 1998, 2005) zum Ausdruck gebracht wird .
Es interpretieren hätte+Inf+MV .inf ebenso wie könnte+Anteriorpartizip+Aux .inf
das Modell einer Welt, in deren Vergangenheit die unaktualisierte Möglichkeit
bzw . die unaktualisierte Direktive Bestand hatte, das Rennen zu gewinnen . Zum
Zeitpunkt der modalen Beurteilung in der Vergangenheit, tr, ist die Möglichkeit
bzw . die Notwendigkeit für p noch nicht entschieden, da ja tr < te; daher der Irrealiskonjunktiv in (13a,b) bzw . der Irrealisindikativ in (13c) . Beim Irrealisindikativ
versetzt sich der Sprecher und Beurteiler in die Vorereignisvergangenheit, tr, was
bei Anterior-MV ausreicht, die Realisierungsmöglichkeiten für te offen zu lassen .
2. Skopusrelationen bei Modalität
Die Generalisierung zum Zusammenspiel zwischen MV und grammatischem Tempus und Aspekt bzw . Skopusrelationen ist die folgende: Tempus hat Grundmodale
in seinem Wertebereich, aber nicht umgekehrt und nicht epistemische MV, deren
Strukturplatz über Tempus liegt . Dies sind Erscheinungen, die zu Cinques (1999)
Hierarchie der funktionalen Kategorien passen . Gegen alle Erwartung gibt es aber
Fälle, wo Grundmodale über Force rangieren, während in anderen Fällen EMV
unterhalb von TP liegen . Hypothese: Modale Unterschiede rühren aus dem syntaktischen Kontext her, in den sie syntaktisch eingebracht (gemergt) werden . MV
sind optional mit dem Merkmal [Person] ausgestattet . Ist dieses Merkmal vorhanden, dann wird es gegen ein DP abgeglichen und valuiert; es folgt vP-Adjunktion
von MV in der grundmodalen Lesart . Dagegen kann ein personsunmarkiertes MV
nur oberhalb von TP syntaktisch eingebracht (gemergt) werden . Es ist dann forcerelatiert und erhält eine epistemische Lesart . Nur im 2 . Fall können Tempusvoraussetzungen des Modals und des Subjekt-DPs getrennt erfüllt werden . Nachweise
sind geführt bei Zagona (2007) über die Interpretation von EMV im zusammenhängenden Diskurs sowie der relative Skopus von EMV und Quantoren .
EMV stehen also strukturell höher als Tempus, aber unterhalb des Illokutionsknotens, Force; DMV dagegen stehen niedriger als Tempus und stehen demnach
im Skopus von TP . Das zeigt (14) .
(14)
Force
3
Modemv
3
TempusP
3
Moddmv
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen…
19
Diese Modalitätsbeziehungen stehen wie gesagt im Einklang mit Cinques
(1999) Befund, dass die strukturelle Einordnung epistemischer Adverbiale (wie
möglicherweise, wahrscheinlich) höher erfolgt als die von Tempus, vergleichbar also ModEMV in (14) . Der enge Zusammenhang von EMV mit ts und tr, also
der Sprechaktzeit und der Beurteilungszeit des Gesamtsatzes ist begründet im
Ausdruckstatus, der vom Sprecher ausgeht und die Proposition betrifft . Cinque
(1999) zeigt auch, wie diese sprecherbezogenen epistemischen Adverbien sowohl
Vergangenheit und Zukunft modifizieren – also strukturell und skopussemantisch
allemal über TP einzuordnen sind .
(15)
3
ForceP
Modsprechakt
3
Modevaluat
3
Modevident
3
Modepist TP
. . .
. . .
…
. . .
frankly, sincerely
fortunately
allegedly
probably
Die Beobachtungen Cinques ergeben auch, dass suffigale Vertretungen solcher
sprecherbezogenen epistemischen Funktionen weiter von ihren Köpfen entfernt
sind als alle anderen Suffixe, Subordinationsmerkmale ausgenommen. Daraus
lässt sich die folgende Nullhypothese ableiten: nämlich dass (10) selbst das Templateigenschaften (Satzbauplaneigenschaften) für Modalkonstruktionen besitzt und
dass sich die syntaktisch-semantischen Distributionseigenschaften daraus direkt
ableiten lassen . Die Adverbhierarchie in (15) deckt sich mit der des Deutschen
(nach Frey & Pittner 1998) .
Nun zeigen aber von Fintel & Iatridou (2003), dass Skopusrelationen über
Konstruktionen mit Modalen sich nicht unbedingt an die Templatpositionen in (15)
halten . Zum Beispiel nehmen Quantoren aus dem vP-Bereich in epistemischen
Modalkonstruktionen Skopus sowohl über Tempus als auch über die Grundmodale . Vgl . (16) mit den beiden möglichen Wertebereichen des Quantors die meisten
(siehe von Fintel & Iatridou 2003 zu englisch most (students)) .
(16)
Die meisten unserer Studenten müssen jetzt zuhause sein
a
müssen > die meisten unserer Studenten
b
* die meisten > müssen
. . .
. . .
. . .
EMV
nur für EMV-Lesart!
nur für EMV-Lesart!
Dass Quantoren mit EMV nicht direkt interagieren, ist nicht direkt erwartbar . Warum kann Quantifikation nicht direkt als Adjunktion zu EMV, also als A’-Versetzung ausdrückbar sein?
Zagona (2007: 227) führt solche Effekte auf eine innige Verbindung zwischen
EMV und der CP-Domäne zrück, was weiter damit in Zusammenhang gebracht
wird, dass EMV im Unterschied zu DMV kein Personsmerkmal und damit keine
Thetamarkierung tragen .
20
Werner Abraham
Ziel der vorliegenden Überlegungen ist es nachzuweisen, dass strukturelle
Abweichungen von (14)-(15) in Bezug auf EMV- und DMV-Konstruktionen –
also Skopusverschiebungen im Sinne von (17) – immer noch in einen Erklärrahmen passen und nicht bloß arbiträre Abweichungen sind .
(17)
Force > #ModDMV > TempusP > #ModEMV
Wenn für die beiden verschiedenen Modalitätspositionen in (14), (15) und (17)
ein und dasselbe MV-Lexem herhalten kann und seine syntaktisch-semantische
Funktion durch den Kontext bestimmt wird, dann folgt daraus, dass MV-Lexeme
funktionell unterspezifiziert sind und durch Kontextsignale desambiguiert und
entsprechend unterschiedlich syntaktifiziert werden. Strukturell gesprochen bedeutet dies, dass bestimmte MV-Merkmale die Kontextkompatibilitäten festlegen
und zwischen E- und D-Lesart entscheiden . Dieser analytische Weg wird im Weiteren verfolgt werden .
Es wurde in Abschnitt 1 gezeigt, in welchem Maße epistemische Modalkonstruktionen mit Tempus interagieren und in welchem Ausmaß die strukturelle
Position des Tempuszuweisers bei dieser Interaktion mitwirkt . Nun sind Modale (ebenso wie Modus) sensitiv bezüglich der grammatischen Personskongruenz
(Modus in jedem Fall – es gibt keine modusinfiniten Formen –, bei MVn nur die
epistemischen Lesarten, wo ebenso wenig Infinitive möglich sind). Aufgrund einfacher Distributionsproben ergibt sich die Operatorenhierarchie Illokution>Modus>Modalität (EMV>DMV) .
Wenn die beiden Grundgeneralisierungen zur Grammatik der Modalverben – die
zur Aspektsensitivität und zur Kongruenzsensitivität (vgl . Abraham 1991-2005)
– in strukturelle Begrifflichkeit umgesetzt werden als epistemisches Merge oberhalb von T, grundmodales dagegen unterhalb von T, dann ergeben sich Möglichkeiten, Abweichungen von diesen beiden Grundgeneralisierungen als spezifische
syntaxkontextuelle Markierungen zu sehen und entsprechend zu beschreiben .
3. Defaultsyntax und –semantik der Modale
Im Folgenden sollen (15) und (15) näher begründet werden . Es hat sich ja gezeigt,
dass die beiden möglichen Lesarten der Modal, Grundmodal/DMV bzw . epistemisches Modal/EMV, und deren Syntaxstatus von den syntaktischen Kontexten
abhängen, nicht von den Modallexemen selbst . D .h . MV sind als solche alleine
Homonyme und syntaktisch und semantisch unterspezifiziert.
Der entscheidende Faktor ist, ob das Merkmal [Person] der Modalbedeutung
zugeordnet wird oder nicht . Davon, so wollen wir sagen, hängt der Ort der syntaktischen Einfügung (Merge) des lexikalischen Modalelements ab: Ist [Person] – also
die prädikative Eigenschaft des Subjekts – zuordenbar, dann handelt es sich um
die grundmodale Lesart, um DMV, und die entsprechende syntaktisch-strukturelle
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen…
21
Lokation ist eine vP-Adjunktion: Sowohl Finitheit wie auch Personsbestimmtheit
sind merkmalshaft vorgegeben und erfüllt (Zagona 2007) . Vgl . (18) .
(18)
[vP mag [vP
Hans [V spielen]]]
[finit]
[u Person]
. . .
DMV-Lesart
Indem das Subjekt-DP Hans das Personsmerkmal des Modals valuiert, enthomonymisiert sich das MV-Homonym im Sinne der grundmodalen mögen-Lesart .
Das finite V ist für die Tempuslokation nicht zugänglich. Assertiert wird demnach
nicht das Ereignis des Spielens, sondern vielmehr der Mögenstatus für Hans .
Fehlt das Personsmerkmal, so kann keine lexikalische Einfügung (Merge) in
vP stattfinden; MV ist nur in TP valuierbar, ohne [Person] aber ist das Inventar an
φ-Merkmalen in T nicht interpretierbar. Die Ableitung scheitert („crashes“). Wird
das MV dagegen oberhalb von TP eingesetzt, dann sind die Bedingungen für MV
ebenso wie DP erfüllt . Vgl . (19) .
(19)
[ForceP[CP mag [TP
[finit]
Hans
[V spielen]]]]
[finit]
[u Person]
. . .
EMV-Lesart
Epistemik ist durch illokutiven Satzcharakter bestimmt . Mit Zagona (2007) gehe
ich davon aus, dass dieser illokutiv besetzten Satzbedeutung dadurch Rechnung
getragen wird, dass die entscheidenden Satzmerkmale in Force sitzen . Diese bestimmen die sprecherorientierte Interpretation von MV .
Grundmodalität und epistemische Modalität unterscheiden sich also syntaktischsemantisch dadurch, dass die eine – die grundmodale, DMV – ereignis- und damit
subjekt- und hauptprädikatbestimmt, die andere – die epistemische – dagegen sprecherbestimmt ist . Dies ist syntaktisch deutlich zum Ausdruck gebracht worden .
Oberhalb von TP gibt es keine Möglichkeit für ein MV mit dem Personsmerkmal, da dieses tiefer, in vP, bereits einmal valuiert wurde . Die Ableitung muss
ebenfalls wegen eines extra uninterpretierbaren Merkmals scheitern .
4. Syntax des Frembewusstseinsabglichs (FBA; Theory of mind)
In Abraham (2008a,b) wurde betont, inwieweit EMV-Interpretationen bei verschiedenen grammatischen Personen (vornehmlich ich-du vs . er-sie-es) zu völlig
unterschiedlichen grammatischen Geltungen führen . Dies kann für die semantisch
entsprechenden Adverbien nicht beansprucht werden (gegen Zagona 2007: 228) .
D .h . epistemische Modalverben und Adverbien erfüllen in keinem Falle dieselben
Subjekts- bzw . Sprecherdeixen: die deiktische Semantik der Adverbkategorie ist
sozusagen um eine ganze Deixisdimension ärmer als die der Modalverben . Inhalt
Werner Abraham
22
und Umfang einer FBA-Syntax ist dabei durch folgende bisher erarbeitete Festpunkte gegeben: die syntaktische Funktion Force lizensiert ein MV, indem sie
einen Teilnehmer und die Evaluationszeit einbringt . Dabei wird force in Deklarativsätzen dadurch interpretiert, dass eine Situation unter Bezug auf einen
spezifischen Hintergrundskontext lokalisiert wird: nämlich den Kenntnis- und
Glaubenshintergrund des Sprechers – d .h . die Propositionen, Einheiten, Bezüge und Situationen, die den Kenntnisstand des Sprechers zu einem bestimmten
Sprechzeitpunkt, kurz die Sprecherwelt ausmachen (Zagona 2007: 228) . Deklarativ-Force eines Satzes ordnet dabei dem Satz einen Wert in Abhängigkeit zur
Sprecherwelt zu: der Satz entspricht (oder entspricht nicht, im Falle der Satznegation) der Kenntnisbasis der Sprecherwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt
(etwa einer laufenden Konversation) .
Von Zagona (2007: 229) stammt die Idee, zwischen positiven und negativen
Deklarativen das Merkmal der Polarität vermitteln zu lassen . Dieses wird, verständlich nach allem Vorigen, der force-Funktion des Satzes als unvaluiertes
Merkmal zugeordnet . Siehe (20) und (21) .
(20)
(21)
Hans mag singen .
Force
[mag
[u Polarität] [möglich]
[Hans singen]]
Epistemische Modalsätze treffen im Unterschied zu Deklarativen keine absoluten
Aussagen zum Einbezug bzw . Ausschluss der Propositionssituation; vielmehr schließen sie diese möglicherweise bzw . notwendigerweise mit ein und zwar je nach dem
Kenntnis- oder Glaubensstand des Sprechers . In jedem Fall muss ein Individuum
vorhanden sein, dem solche Möglichkeits- (mag, kann) bzw . Notwendigkeits- (muss,
soll) oder Vorgebbewertungen (will) zugesprochen werden können .
5. Epistemika im Kontext: abweichendes regelhaftes Verhalten
Wie gezeigt können Grundmodale, DMV, in den Zeitreferenzen des Präsens und
der Vergangenheit Gültigkeit haben, EMV dagegen bloß in der Beurteilungszeit,
tr, für den Satz, in dem sie vorkommen . In Hauptsätzen ist diese Beurteilungszeit
der epistemischen Konstruktion die Sprechaktzeit bzw . die Zeit des Sprechereignisses, ts (und in Komplementsätzen kann tr die Ereigniszeit, te, des Hauptsatzes
sein) . Dagegen aber spricht das folgende Beispiel (einem ndl . Beispiel bei Boogaart (2004:15) nachgebildet) .
(22)
Ich tat ihr den Gefallen ihn zu besuchen . Sie liebte ihn . Er konnte ja krank sein, ihre
Hilfe brauchen .
= EMV-Lesart mit den Zeitreferenzen:
(i)
= es war möglich, dass er krank war
(ii)
= es ist möglich, dass er krank ist
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen…
23
Hier gilt für Er konnte ja krank sein neben (ii) auch (i), die Vergangenheitsreferenz, die für epistemische Lesarten nicht ergeben sollte . Im satzunabhängigen
(22) ebenso wie in den abhängigen Modalkonstruktionen in (23a,b) geht es
um indirekte Rede: Der Sprecher berichtet über den Diskurs des Hauptsatzsubjekts .
(23)
a
b
Er wusste, dass sie in Rom sein könnte
◊(tr, sie in Rom)
- EMV –
Möglichkeit zu tr, also in der (Hauptsatz-)Vergangenheit
S . sagte mir, sie müsse/müsste da bleiben (tr, sie da bleiben) - DMV –
Verpflichtung zu tr
Es sind die jeweiligen Kontexte in diesen modalen Konstruktionen, die zur Skopusumpolung – nämlich Tempus über EMV – beitragen . D .h . das Modalitätstemplat nach Cinque (1999), (15), sagt diese Skopusumpolungen nicht voraus . Die
Nullhypothese zum Zusammenspiel zwischen Modalität und Quantifikation bzw.
Tempus in (15) stimmt nicht generell: Sie betrifft die sichtbare Mergestelle des
Modalverbs oder Modaladverbs, nicht jedoch seine Interpretation unter Quantifikation und Tempuseinfluss sowie struktureller Haupt-Nebensatz-Abhängigkeit
– eine Interpretation, welche offenbar LF überantwortet werden muss . Konkreter und unter Bezug auf die zitierten Illustrationen der Abweichungen, (22)-(23):
Die Beurteilungszeit einer EMV-Konstruktion ist nicht nur irgendeine Situationszeit, sondern sie wird bestimmt von einer intensionalen Prädikation mit projiziertem Sprecher (Boogaart 2004: 15) – mit anderen Worten: der Intensionstyp
des Sprechakts, das ‚Ich’ bzw . Sprechersubjekt (ich in (22)) sowie das ‚Jetzt’ der
indirekten Rede: eben alle eindeutigen und exhaustiven Bestimmungsstücke der
Redesituation . Dies sind die Bestimmungsstücke des Satzhauptes, Force: der dort
zu ortende Deklarativ als abstrakter Ausdruck über die Zuordnung und Wahrheitshaftung einer Proposition (Weltenverortung) und der Redeteilnehmer als
Sprecher des unabhängigen Satzes bzw . als Anapher für ein Antezedens-DP . Als
Adverbiale gedacht und in Übereinstimmung mit modalen adverbialen können
dann die Grundmodale, DMV, als Adjunkte zu vP betrachtet werden, EMV als
TP-Adjunkte . Als solche drücken Grundmodale einen Zustand des Subjekts aus:
Verpflichtetheit oder Fähigkeit etc.; EMV dagegen beziehen sich auf Force und
assertieren Möglichkeit bzw . Notwendigkeit für eine bestimmte Situation anstatt
jene deren tatsächlichen Vorkommens .
6. Implementierung der Modalitätstemplatabweichung
Wenn EMV wie andere Epistemika (etwa Adverbien) notwendig (aber nicht hinreichend) über Welten quantifizieren, dann sollte sich der modale Operatorstatus
von MV (hier beschränkt auf kann, muss) in kratzerschen Termen folgendermaßen ausdrücken .
Werner Abraham
24
(24)
a
b
c
modaler Bezug (Möglichkeit, Notwendigkeit): als unterschiedliche Quantifikationen (existentiell, universal) über mögliche Welten ausgedrückt .
modale Basis (des Konversationshintergrunds): spezifiziert die Menge an möglichen Welten (= Präsuppositionsmenge, die den notwenigen Hintergrund zur
Modalinterpretation setzt), über die durch den Operator quantifiziert wird.
Ordnungsausgangspunkt unter den möglichen Welten: beschränkt die Bewertung modaler Sätze auf maximal normale, wirklichkeitsnahe Welten .
Danach ist ein epistemischer Satz wie Hans muss jetzt zuhause sein dann und nur
dann wahr sein, wenn Hans ausgehend von den Welten der modalen Basis und
vom wirklichkeitsnächsten Ordnungsgesichtspunkt aus in dieser Welt zuhause ist .
Dies gilt nach allem bisher Entwickelten, wenn sich Situationen auf der Stufe
der CP-Phase auf eine einzige Welt beziehen: die Welt des Sprecherglaubens und
–wissens. In nichtmodalen, deklarativen Sätzen spezifiziert die Satzpolaritätsrelation eine Inklusions- bzw . Exklusionsbeziehung: die Situation ist konsistent (oder
gerade nichtkonsistent) mit den Inhalten der Sprecherwelt . Dagegen ist in Modalsätzen der Einbeziehungsrelation bloß in einem relativen Sinne Genüge getan:
nämlich durch einen Möglichkeits- bzw . Notwendigkeitsstatus hinsichtlich der
vP-Konsistenz mit der Sprecherwelt an Glaubens- und Kenntnissätzen .
Unter welchen Voraussetzungen sind Epistemika ausgeschlossen? Alleine MVFinitheit für epistemische Lesarten beruht auf dem relevanztheoretischen Hintergrund, dass sich solche Ausdrücke auf dem Sprecher bekannte Welten gewusster
Propositionen zur Sprechaktzeit beziehen müssen . Es ist von Bedeutung zu sehen,
dass sich dies nicht in sprachidiosynkratischer Weise davon ableiten lässt, dass
etwa englische MVn über keine Infinitivformen verfügen. Auch epistemische Adverbien lassen sich nicht innerhalb infinit konstruierter Konstituenten setzen (Zagona 2007: 230: *Angeblich/Wahrheitsgemäß früh aufzubrechen/aufbrechen zu
müssen ist kein guter Vorsatz) . Es sind demnach auch sprecherbezogene Adverbiale mit infiniten Prädikationen unvereinbar. Weiter schließen sich EMV in solchen Sätzen aus, die des Bewertungskontexts vor dem Sprecherwissen entbehren:
darunter fallen Imperative und ähnlich desiderativ-adhortative Sprechakttypen,
bei denen eine Kenntnisdarlegung (ausgedrückt durch das Merkmal [Assertiv] bei
Force) fehlt . Allgemein beschränken sich EMV auf Satzkontexte, deren ForceKopf ein Sprechakt mit Kenntnis- bzw . Glaubensdarlegung (für das Jetzt und das
Ich jener Welt, in Bezug auf welche die Proposition bewertet wird, zusammengefasst in [Deixiszentrum]) ist . Einem solchen Force-Satzknoten kommt somit ein
Merkmal zu, das das (sprecher)deiktische Zentrum der Äußerung setzt .
7. Modalität und Modus
Wie ist vor dem Hintergrund des Bisherigen Modalität von Modus zu unterscheiden? Zuerst zu einer weiteren Modalitätskategorie . Evidentialparadigmen, die ja
Modalitäts-Aspekt-Generalisierungen…
25
den europäischen MV-Paradigmen stark ähneln (und verschiedentlich bloß aufgrund semantisch-pragmatischer Ähnlichkeiten mit MV vereinselbigt werden),
allerdings flexionsparadigmatisch ausgesondert erscheinen, können vor diesem
Hintergrund als Spezifikate des Assertionsmerkmals gesehen werden: [Assertiv]
wird dann weiter spezifiziert als [Assertiv über Sehen] bzw . [Assertiv über Hören]
etc . (Zagona 2007: 232) .
Modus deckt sich mit Modalität dahingehend, dass das Ereignis bzw . die Situation, die in vP ausgedrückt werden, nicht assertiert werden . Nichtassertion lässt
sich aber auf zweierlei Art zugrundelegen; und darin unterscheiden sich ein MVund ein Konjunktivsatz . Vgl . (25) und (26) .
(25)
(26)
Hans sei/wäre zuhause .
Hans muss zuhause sein .
Im MV-Fall in (25) geht Nichtassertion auf eine Eigenschaft von CP zurück, welchem der assertive Force-Kopf fehlt . Entsprechend lässt sich von vornherein nichts
assertieren . Ein solch deklarativ-assertives Merkmal ist beim Force-Kopf in (26) dagegen sehr wohl vorhanden . Somit liegt Nichtassertivität nicht an Eigenschaften von
C, sondern am Blockiereffekt des Modals: MV ist an der Eigenschaftserfüllung des
C-Merkmals [Polarität] beteiligt; damit ist aber vP nicht erreichbar und nicht Teil der
Assertion (Zagona 2007: 234) . Vgl . nochmals (10 a,b) oben zur Trennung von Ereigniszeit und Assertionszeit (nach Demirdache & Uribe-Etxebarria 2000), die sich auch
an dem Unterschied zwischen äußerem und innerem Aspekt (Perfektiv-Imperfektiv)
und syntaktisch am strukturhöheren AspP (Assertionszeit- äußerer Aspekt- Perfektiv) und tieferem vP (Ereigniszeit-innerer Aspekt-Imperfektiv) festmachen lässt . Bei
Modalitätssätzen ist bloß das MV assertiert . Technisch gesehen blockiert das MV den
Abgleich des Assertionsmerkmals in Force durch Eigenschaften des Prädikats . Valuierung des Merkmals entfällt somit . Wie Aspektauxiliare erweisen sich Modalverben
als Interventionskräfte: sie behindern die direkte Wirkung des für das Ereignisses
bzw . die Situation verantwortlichen Hauptverbs auf die Sprecherassertionsfunktion .
Es ist bedeutsam zu sehen, welche tieferen Zusammenhänge zwischen Aspekt
und Modalität sich aus solchen Bezügen ergeben: strukturhöheres AspP-Assertionszeit-äußerer Aspekt- Perfektiv bzw . strukturtieferes vP-Ereigniszeit-innerer
Aspekt-Imperfektiv . Dies ist angesichts früher solcher Sichtweisen (Abraham
1991) und deren entschiedener Ablehnung (Reis 2001) eine nicht nur wissenschaftshistorisch relevante Feststellung, sondern eben auch eine empirisch wichtige Einsicht (vgl . dazu auch neuerdings Abraham & Leiss (Hgg .) (2008)) .
8. Schluss
Es ist heute fast trivial, auf ein Ergebnis dieses Aufsatzes hinzuweisen: nämlich dass Modalverben nicht semantische Homonyme zwischen Epistemik und
26
Werner Abraham
Grundmodalität sind, sondern dass sich diese Unterschiede auf die Existenz der
Personsmerkmals, [Person], zurückführen lassen . Ein MV mit [+Person] ist als
DMV, eines ohne als EMV definiert. Das Personsmerkmal verlangt ein DP-Argument beim Vollverb als Individuum, das situativer Erlaubnis, Notwendigkeit oder
Voluntativität unterliegt . Ein MV ohne solches Personsmerkmal am Force-Kopf
impliziert dessen Interpretation als sprechaktorientiert . Dies birgt wiederum die
Interpretation für EMV als sprechaktzeitlicher Evaluierung . Es kommt also bei
den verschiedenen Satzinterpretationen unter Modaleinfluss wesentlich auf die
Eigenschaftserfüllung beim Satzkopf Force an, dies nicht zuletzt zur Realisierung
und Erklärung von Evidentialen und dem Unterschied zwischen Konjunktiv und
MV im Hauptsatz .
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Michail L. Kotin
Zur referentiellen Identität von Tempus- und Modusformen
Bei der Behandlung der kategorialen Leistung der grammatischen Zeichen, welche
traditionell als Tempus- bzw . Modusformen eingeordnet werden, wird seit einigen
Jahrzehnten die Fragestellung favorisiert, die – grob formuliert – darauf beruht,
dass alternative Lösungen in den Mittelpunkt der Diskussion gestellt werden . Als
Paradebeispiel kann hier der bekannte Streit zwischen „Temporalisten“ und „Modalisten“ über die Funktionsgeltung der Verbalperiphrase werden + Infinitiv angesehen werden . Während z .B . Thieroff (1992), Morciniec (2008: 70 ff .) u .a . die These
der traditionellen Grammatik verfechten, diese analytische Form sei ein eindeutiges
Tempuszeichen, stellten Saltveit (1960, 1962, 1979), Vater (1975, 2007) u .a . die
Gegenthese auf, diese Fügung gebe primär eine modale Lesart ab . Elisabeth Leiss
(1992: 191 ff .; 203, 210 f .; 225 und 2002) versucht ihrerseits zu beweisen, dass die
jeweilige Lesart von der Aktionsartsemantik des infinitivischen Komplements abhängt und dass somit die Aspektualität als übergeordnetes Kategorisierungsprinzip
anzusehen ist . Für Diewald (2005), Smirnova (2008) u .a . ist es hingegen wiederum
die Bedeutung einer Evidentialität, welche als hierarchisch übergeordnete Kategorialfunktion bei werden + Infinitiv sämtliche Fügungen steuert, die sich ebenfalls
auf dem Weg zur Grammatikalisierung im Evidentialitäts-Paradigma befinden (wie
drohen … zu + Infinitiv, versprechen … zu + Infinitiv).
Ich möchte in meinem Beitrag die These aufstellen, dass es nicht nur empirisch
nachweisbare kategoriale Affinitäten zwischen Tempora und Modi, sondern deren
grundsätzliche referentielle Identität gibt . D .h ., jede Tempusform impliziert modale Lesarten und vice versa: jede Modusform hat ihre eigene temporale Deixis .
Nimmt man die Aspektkategorie dazu, kann generell davon ausgegangen werden,
dass das ATM-Gefüge (ich würde sogar von dem ADTM-Gefüge sprechen, wo
D für „Diathese“ steht) sich grundsätzlich als ein kategorialer Block mit jeweils
idioethnischer Verteilung des zu Grunde liegenden kategorialen Rasters behandeln lässt . Dabei sind Aspekt und Diathese als nichtdeiktische interpretative Kategorien eines abstrakteren Grades dem Tempus und Modus als konkreteren deiktisch geprägten Kategorien hierarchisch übergeordnet . In meinem Artikel geht es
allerdings um die Entitäten des ATM-Gefüges .
Zunächst sehr einfache und triviale Beispiele, die die referentiellen Relationen
zwischen Tempus- und Modusformen (gelegentlich auch unter Berücksichtigung
der aspektuellen bzw. „aspektiven“ (Czarnecki 1998) Funktion exemplifizieren:
(1) Ich würde gern mitgehen .
Zukunftsbezogene Lesart mit optativischen und/oder nichtfaktischen modalen
Implikationen, da die Zukunftsperspektive beide Lesarten prinzipiell zulässt .
Michail L. Kotin
30
(2) Ich wäre gern mitgegangen .
Vergangenheitsbezogene Lesart mit nur nichtfaktischer modaler Implikation, da
die Vergangenheitsperspektive nur diese konjunktivische Lesart zulässt .
(3) Schon 1805 wusste Napoleon, dass er 1812 Russland überfallen würde .
Thieroff 1992 behandelt diese Form als Futur Präteriti und vergleicht sie mit der
englischen would-Periphrase in der Vergangenheitsperspektive . Er stellt diese periphrastische Fügung dem synthetischen Konjunktiv Präteritum gegenüber, um zu
beweisen, dass bei derartigen Verwendungen die würde-Umschreibung dem synthetischen Konjunktiv nicht synonymisch ist und daher keine Ersatzform des Modus
Konjunktiv, sondern eine Tempusform darstellt . Im Gegenwartsdeutschen ist hier in
der Tat kein Konjunktiv möglich, aber grundsätzlich ist auch der flektierte Konjunktiv Präteritum durchaus denkbar, was der folgende gotische Beleg beweist:
(4) iþ eis ni iddjedun in praetoriaun, ei ni bisaulnodedeina, ak matidedeina pasxa (Gotische Bibel, Joh. 8, 28).
Es gibt also keinen Grund, das Tempus Futur Präteritum dem Modus Konjunktiv
Präteritum gegenüberzustellen und darüber zu streiten, ob in derartigen Belegen
das erste oder der letztere vorliegt . Beide Kategorialfunktionen sind nämlich so eng
miteinander verbunden, dass hier Temporalität und Modalität nur gemeinsam behandelt werden können .
(5) Wenn das Wetter schön wäre, würden wir spazieren gehen .
Optativische oder nichtfaktische Lesart eines wenn-dann-Satzes in der temporalen Perspektive der Zukunft, bedingt durch die genuine Ambiguität des „faktischen“ Bezugs, welche die temporale Perspektive der Zukunft impliziert . Das
Konjunktivmorphem ist dabei gerade wegen einer „Distanz zum Faktischen“ präterital, um nämlich das Faktische des Präsensmorphems durch eine Temporalität
der Vergangenheitsperspektive zu relativieren .
(6) Polnisch: Gdyby była ładna pogoda, poszlibyśmy na spacer . (Ähnlich im Russischen:
Jesli by byla chorošaja pogoda, my by pošli na progulku .) .
Hier sieht man das „Apräsentische” des Konjunktivs besonders gut . Die beiden Verben
stehen in derselben Vergangenheitsform, die jeweilige temporale (und davon teilweise
abhängige modale) Lesart kann nur durch den weiteren Kontext disambiguiert werden .
Ein Unterschied zwischen zwei Vergangenheitsformen des „Konjunktivs II“ (der Form
des Präteritums und der Form des Plusquamperfekts) ist typologisch gesehen nur ein zusätzliches Zeichen für eine kontextfreie Disambiguierung der temporalen Perspektive,
welche sonst im Konjunktiv durchweg grundsätzlich apräsentisch ist .
Zur referentiellen Identität von Tempus- und Modusformen
31
(7) Englisch: If the weather was fine, we would go for a walk.
Es ist klar zu sehen, dass selbst das Konjunktivmorphem entbehrlich sein kann,
falls z .B . die jeweilige (genuin indikativische) Tempusform, verstärkt durch eine
konjunktivisch markierte Konjunktion, nichtfaktisch bzw . optativisch zu lesen ist .
Dazu bedarf das Tempussystem aber unbedingt mindestens zweier Vergangenheitsformen . Da es in der Slavia nur eine Vergangenheitsform des Verbs gibt, ist
das Konjunktivmorphem obligatorisch . Im Gegenwartsdeutschen ist die Markierung aus dieser Sicht redundant .
(8) Wenn das Wetter schön gewesen wäre, wären wir spazieren gegangen .
(9) If the weather had been fine, we would have gone for a walk.
(10) *Als das Wetter schön gewesen wäre, wären wir spazieren gegangen.
Als kann nur mit Vergangenheitstempus und Indikativmodus verwendet werden . Es
impliziert eine temporal vergangene, aktional/aspektual einmalig-abgeschlossene
und modal faktische Lesart . Bei einem einmaligen vergangenen nichtfaktischen
Ereignis wird die Nichtfaktizität durch das Konjunktivmorphem des Plusquamperfekts in Verbindung mit der Konjunktion wenn kodiert; soll die Lesart hingegen vergangen-faktisch sein, dabei aber nicht mit als, sondern mit wenn verbunden werden, entsteht automatisch die multiplikative Lesart, vgl .
(11) Wenn das Wetter schön war, gingen wir immer spazieren .
Mit dem Konjunktiv Plusquamperfekt ist dagegen im Prinzip sowohl die einmaligunikative als auch die multiplikative Lesart möglich .
Die oben behandelte temporale Differenzierung des konjunktivisch kodierten
Faktizitätsbereichs ist im Deutschen in Folge einer längeren historischen Entwicklung entstanden . Bekanntlich gab es bis zur mittelhochdeutschen Zeit und
teilweise darüber hinaus auch eine temporal ambige bzw . kontextabhängige Lesart von den Formen des Konjunktivs Präteritum, d .h ., es existierte zunächst eine
größere Ikonizität des modal-temporalen Bezugs, vgl .
(12) vrou Herzeloide gap den schîn,/ waeren erloschen gar die kerzen sîn,/ da waere doch
liecht von ir genuoc . (Wolfram v . Eschenbach, Parzival . II, 84) .
(13) ir achsel unde ir brustbein,/ diu wâren alsô nahe enein/ getwungen unde geslozzen,/
und waere ouch ein werc gegozzen, / von êre und von golde,/ ez endorfte noch ensolte/
niemêr baz gefueget sîn . (Gottfried v . Straßburg, Tristan XXVI, 18209-18215) .
Zugleich gab es auch die – ebenfalls ikonische – Kodierungsform von Nichtfaktischem in der temporalen Perspektive der Gegenwart durch die Formen des
Michail L. Kotin
32
Konjunktivs Präsens, welche heutzutage aus dem Bereich der Nichtfaktizität bekanntlich so gut wie völlig verdrängt worden sind durch die Form des Konjunktivs Präteritum, vgl .
(14) liute unde lant,/ darinne ich von kinde bin erzogen, / die sind mir worden fremde, /
rehte als ez sî gelogen . (Walther v .d . Vogelweide 124, 6-7) .
Ich gehe nun zur Rekonstruktion bzw . Reanalyse über . In der gemeingermanischen Epoche (1. Jahrtausend vor Christus) gab es die Konjunktiv-Suffixe, welche
auf die idg . Vollstufe des Ablauts [o] in der Kombination mit dem Halbvokal [j]
zurückgehen (typisch für Präsens Konjunktiv), also idg . *-oi > germ . *-ai sowie in
der Nullstufe idg . *-j > germ . *-i . Überall folgen darauf sog . Sekundärendungen,
was sehr wichtig ist, da sie im rekonstruierten Urindogermanischen nur für das
Perfekt und den Aorist, nie aber für das Präsens stehen . Es lässt sich ein folgendes
genealogisches Schema des gemeingermanischen Konjunktivs aufstellen:
Gemeingermanischer Konjunktiv
- Suffix *-ai zu idg. *-oi, also o-Vollstufe des Ablauts plus Suffix des Konjunktivs *-i zum idg . Halbvokal *-j à Konjunktiv Präsens
- Suffix *-i zum idg. Halbvokal *-j mit der Nullstufe des Themavokals à Konjunktiv Präteritum
- Sekundärendungen, die überall auf das Konjunktivsuffix folgen
- Null- bzw . Dehnstufe des Wurzelablauts bei den starken Verben der Ablautreihen 1-5 .
Unten die Teilparadigmata der Indikativ- und Konjunktivformen des Verbs got .
niman ahd . neman:
gotisch: niman
Präs . Ind . Akt .
Sg .
D .
nima
nimos
nimis
nimats
nimiþ
Pl .
nimam
nimiþ
nimand
Präs . Konj . Akt .
Sg .
nimau
nimais
nimi
D .
nimaiwa
nimaits
Pl .
nimaima
nimaiþ
nimaina
Zur referentiellen Identität von Tempus- und Modusformen
33
Prät . Ind . Akt .
Sg .
nam
namt
nam
D .
nêmu
nêmuts
Pl .
nêmum
nêmuþ
nêmun
Prät . Konj . Akt .
Sg .
nêmjau
nêmeis
nêmi
D .
--nêmeits
Pl .
nêmeima
nêmeiþ
nêmeina
althochdeutsch: neman
Präs . Ind . Akt .
Sg .
nimu
nimis
nimit
Präs . Konj . Akt .
Pl .
nemamês
nemat
nemant
Prät . Ind . Akt .
Sg .
neme
nemês
neme
Pl .
nemêm
nemêt
nemên
Prät . Konj . Akt .
Sg .
Pl .
nam
nâmi
nam
nâmum
nâmut
nâmun
Sg .
nâmi
nâmîs
nâmi
Pl .
nâmîm
nâmît
nâmîn
Wir gehen nun bei der Bestimmung der genealogischen Grundstruktur der germanischen Tempus- und Modusformen von folgenden Kriterien aus:
1 . Wurzelablaut (nur für starke Verben relevant): Vollstufe /e/ – „präsentisch“ (es
werden nur die Ablautreihen 1-5 berücksichtigt); Vollstufe /o/ – „perfektisch“;
Null- bzw . Dehnstufe – „aoristisch“ .
2 . Thema-Ablaut: jede Vollstufe – „präsentisch“; Nullstufe – „perfektisch“ .
3. Konjunktiv-Suffix: -i (idg. Halbvokal, also quasi sonorer Konsonant).
4 . Endung: Primärendungen mit Vollstufe – „präsentisch“; Sekundärendungen
mit Nullstufe – „perfektisch“ .
34
Michail L. Kotin
Eigentlich aoristische Merkmale, die sich von den perfektischen unterscheiden,
bleiben im Germanischen nur im Wurzelablaut der starken Verben erhalten . Der
Ablaut beim Thema und in der Endungsflexion kann zweigeteilt werden in
- „präsentisch“ (mit Vollstufe)
- „apräsentisch“, d .h . „perfektisch“ und „aoristisch“ (mit Nullstufe); entspricht
der perfektisch-aoristischen Außenperspektivierung des Verbalgeschehens
(vgl . Krasuchin 2007) .
Woher stammen nun die Elemente der aoristischen Flexion im germanischen Konjunktiv? Um diese Frage zu beantworten, sollte man zunächst das Verhältnis zwischen den beiden indogermanischen Vergangenheitstempora – Imperfekt und Aorist – bezüglich ihrer aspektualen Funktion näher bringen . Wie Krasuchin (2007:
7 f . und 34 f .) gezeigt hat, ist z .B . im Altgriechischen, wo die Imperfekt-AoristOpposition am deutlichsten ausgeprägt ist, das Imperfekt gegenüber dem Aorist
markiert und nicht etwa umgekehrt . Das Imperfekt bezeichnet Durativität, Temporalität [sic! Vgl . den Aorist, der dagegen die Aspektualität bezeichnet – M . K .], NichtAbgeschlossenheit, Stabilität . Die Opposition von Imperfekt und Aorist behandelt
Krasuchin zu Recht als „situativ-aspektual“ und stellt fest: „Imperfekt und Aorist
drücken die Vergangenheit aus, aber das erste weist auf Nicht-Abgeschlossenheit
hin und der letztere auf Abgeschlossenheit“ . In den Werken der Alexandrinischen
Grammatiker wird der Aorist als „unbestimmtes Vergangenheitstempus“ charakterisiert. Was ist nun aber „unbestimmt“? Folgt man der Definition Krasuchins, deckt
sich diese Funktion in etwa mit der Leiss´schen Außenperspektivierung der Handlung/des Vorgangs . In der Altgriechischen Grammatik von Schwyzer-Debrunner
(1950) ist die folgende Klassifikation des Aorists vorgeschlagen worden:
1 . Aorist eines unmittelbar erlebten Ereignisses, darunter Aorist eines veränderten
Zustandes (Typ starb, fiel):
oϋτω δέ Κϋρος γενόμενος τε και τραφεϊς ´εβασίλευσεν . „und so wurde der geborene und ernährte Kyros (zum) König“ (Hdt . I, 130, 3) . [„krönte sich“ (wörtl .
„königte sich ein“)] .
2 . Aorist mit der Bedeutung einer Tatsache, die in Folge eines Ereignisses entstanden ist (Typ war verwundet)
3 . Konfektiver Aorist mit perfektiver Funktion (Abgeschlossenheit) (Typ hatte
gemacht, erledigt) kann auch eine dauernde Situation bezeichnen, die aber
in der Zeit begrenzt ist (Typ hatte 30 Jahre lang in der Wüste gelebt (=verlebt, verbracht)) . Auch ohne explizite Angabe der Zeitgrenze (Typ war lange
gereist):
Άνδρα μοι ´έννεπε, μοϋσα, […] ´ός μάλα πολλά πλάνχθη, ´έπει Τροίης
´ιερόν πτολίεθρον ´έπερσε. (Homer, Odys. I, 1-2) „Einen Mann besinge mir,
o Muse, […], der viel gereist war, nachdem er Trojas starke Befestigung zerstört hatte“ .
Zur referentiellen Identität von Tempus- und Modusformen
35
4 . Aorist einer einzelnen abgeschlossenen Situation in Verbindung mit der Bezeichnung von daraus folgenden Ereignissen, die in der Zukunft eintreten (Typ
hatte ausgelöst, dass etwas kommt)
5 . Aorist des Vergleichs, wo ein durch das Imperfekt bezeichnetes Ereignis mit
dem Ereignis, das durch den Aorist kodiert wird, verglichen wird (Typ hatte
lange gesucht und endlich gefunden)
6 . Aorist einer typischen Situation, bei dem ein sich wiederholendes Ereignis,
welches in mehreren Situationen entsteht, als abgeschlossen dargestellt wird
(Typ (bis zu dieser Zeit) war noch niemand von den Toten auferstanden)
7 . Gnomischer Aorist in Sprichwörtern und Sentenzen .
In anderen Systemen (Wackernagel 1926, Meillet 1948) wird das Imperfekt
als duratives (kursives) Tempus dem Aorist als kompletivem Tempus gegenübergestellt .
Die von Krasuchin (2007: 34) vorgeschlagene Tabelle der Funktionen der
altgriechischen Tempora sieht wie folgt aus:
Durativität Aktualität
Präsens
Imperfekt
Aorist
Perfekt
Futurum
+
+
(-)
0
+
(+)
-
Präteritalität Kompletivität
+
+
(-)
-
+
-
Der Aorist steht zum Perfekt in einer situativ-aspektualen Oppsition (ibid .) . Das
Imperfekt bezeichnet einen nicht abgeschlossenen Anfang einer Situation und deren Verlauf; hingegen der Aorist – den Abschluss des Ereignisses im Ganzen oder
aber einer Etappe desselben . Die Abgeschlossenheit schließt einen Hinweis auf
die Durativität nicht aus (!), vgl . Ausdrücke des Typs Er hatte dreißig Jahre lang
in der Wüste gelebt [~ verlebt, verbracht] .
Warum schreibe ich nun so lange und relativ ausführlich über die kategoriale
Rekonstruktion des indogermanischen Aorists, ist ja das Thema meines Beitrags
das Verhältnis zwischen Tempus und Modus? Bekanntlich sind altgermanische
Tempus- und Modusformen so beschaffen, dass sie genealogisch gesehen den
alten indogermanischen Tempus- bzw . Aspektformen entsprechen . Die temporale
Opposition von Präsens und Präteritum im Germanischen, die auf die indogermanische aspektuale Opposition von Präsens und Perfekt zurückgeht, ist in der
Literatur bereits ziemlich ausführlich erörtert worden, einschlägig sind hierfür
u.a. die klassischen Abhandlungen von Stang (1932) und Kuryłowicz (1964).
Dagegen sind die den indogermanischen Aoristformen entsprechenden Formen
36
Michail L. Kotin
des germanischen Konjunktivs bisher weniger untersucht, insbesondere gerade
unter dem diachron-sprachgenealogischen Aspekt . Die Frage, wieso überhaupt
die Formen des germanischen Konjunktivs Präteritum auf die Aoristformen des
Indogermanischen zurückgehen, bleibt bis heute offen . Ich schlage nun die folgende Lösung des Problems vor . Es gibt für die jeweilige temporale Perspektive
die folgende Verteilung von modalen Funktionen:
Vergangenheit: faktisch (dann Indikativ) oder nichtfaktisch (dann Konjunktiv);
Zukunft: möglich (sowohl Indikativ als auch Konjunktiv mit Abschwächung des Merkmals durch das Konjunktivmorphem) oder unmöglich (dann
Konjunktiv) .
Der Konjunktiv ist also genuin apräsentisch (temporales Merkmal) und perfek
tivisch (aspektuales Merkmal) .
In der deutschen Gegenwartssprache zeigt es sich darin, dass der Konjunktiv
Präteritum durchgehend die nichtfaktische Sphäre der temporalen Perspektive der
Gegenwart abdeckt. Es gibt dagegen eine deutliche kategoriale Affinität zwischen
Vergangenem und Nichtfaktischem (vgl . die by-Formen im Slawischen, die sich
nur mit morphologischen Vergangenheitsformen des Verbs verbinden, unabhängig davon, ob der Referenzbezug gegenwärtig, zukünftig oder vergangen ist) . Der
germanische Konjunktiv hat daher
a) Sekundärendungen (wie das idg . Perfekt und der idg . Aorist);
b) Im Präsens das präsentische und im Präteritum das perfektische/ aoristische
Thema;
c) Bei starken Verben im Wurzelablaut durchweg aoristische Stufen (Null- bzw .
Dehnstufe bei Verben der Ablautreihen 1-5 im Präteritum) .
Der germanische Konjunktiv Präsens ist also genealogisch gesehen dem indogermanischen Perfekt am nächsten und der germanische Konjunktiv Präteritum dem
Aorist .
Aspektual ist also der Konjunktiv generell perfektivisch geprägt und temporal
apräsentisch . Gerade darum wird der Konjunktiv Präsens zunehmend abgebaut,
und sein Geltungsbereich ist im heutigen Deutsch weitgehend auf die indirekte
Rede („reportive Modalität“ nach Fabricius-Hansen 1998) beschränkt (wie oben
schon erwähnt, war er in den älteren Sprachstufen viel weiter), und der genealogisch „aoristische“ Konjunktiv Präteritum bzw . Konjunktiv Plusquamperfekt wird
heute als sog . Konjunktiv II praktisch unbeschränkt in der gesamten optativischen
und nichtfaktischen Sphäre verwendet .
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Olga Kostrova
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen
und Russischen: eine Fallstudie anhand der temporalen
Konjunktionen
Problemstellung
Das Problem der semantischen Übergänge in verwandten Sprachen bleibt immer
auf der Tagesordnung der linguistischen Forschungen, denn Sprachen entwickeln
sich ständig und liefern Stoff für vergleichende Analysen . Der Artikel ist der retrospektiven vergleichenden Analyse der Semantik der Temporalität gewidmet .
Ich möchte zeigen, wie sich diese Semantik in zwei nah verwandten germanischen Sprachen (Deutsch und Englisch) und einer weit verwandten slawischen
Sprache (Russisch) herausgebildet hat . Meinen Untersuchungsgegenstand bilden
temporale Konjunktionen, die am Rande des funktional-semantischen Feldes der
Temporalität positioniert sind und deswegen semantische Grenzen leicht überschreiten. Ich möchte herausfinden, aus welchen Grenzgebieten sich die temporale Bedeutung der Konjunktionen in diesen Sprachen entwickelt hat und ob sich
diese Grenzgebiete unterscheiden .
Zum Forschungsstand
Die Literatur, die dem Problem der Temporalität gewidmet ist, ist fast unübersichtlich. Doch kommen die temporalen Konjunktionen erst in den letzten Jahrzehnten
zur Diskussion, und zwar aus pragmatischer Sicht (vgl . dazu Binnick 2002) . Früher waren sie ziemlich selten Gegenstand der Untersuchungen . Darauf weist beispielsweise Anita Steube hin (1980: 32) . Doch bleiben die temporalen Konjunktionen immer noch ein Stiefkind der gegenwärtigen Untersuchungen des Tempus,
der Aktionsart und der nahe liegenden Probleme . Die Analyse der entsprechenden
annotierten Bibliographie von Robert Binnick (2004), die etwa 9000 Titel enthält,
zeigt, dass nur ein paar Arbeiten die temporalen Konjunktionen behandeln .
Aus der einschlägigen Literatur geht hervor, dass die Ansichten der Linguisten
zur Bedeutung der temporalen Konjunktionen widersprüchlich sind . So spricht
ihnen Steube (1980: 35) die selbständige Bedeutung ganz ab, indem sie meint,
diese Bedeutung ergebe sich nur im Kontext des Haupt- und Nebensatzes . Doch
auβer den zeitrelativen Konjunktionen, deren Bedeutung wirklich im Kontext zu
bestimmen ist, unterscheidet die Forscherin durative und iterative Konjunktionen
(Steube 1980: 192), deren Semantik auch ohne Kontext deutlich ist . Wenn wir
noch dazu die Perspektive von typologisch anderen Sprachen, zum Beispiel des
Türkischen, in Betracht ziehen, wo es keine temporalen Konjunktionen gibt und
40
Olga Kostrova
analoge Bedeutungen durch Suffixe wiedergegeben werden (vgl. Aygün 2001), so
müssen wir zugeben: die temporalen Konjunktionen sind doch semantisch beladen .
In den Grammatiken, die komplexe Sätze behandeln, wird die Bedeutung der temporalen Konjunktionen in der Regel nach dem Zeitverhältnis bestimmt, das zwischen
dem Haupt- und Nebensatz entsteht . Dementsprechend unterscheidet man die Konjunktionen, die Gleichzeitigkeit, Vor- und Nachzeitigkeit bezeichnen (vgl . Götze
/ Hess-Lüttich 1989: 353, Eichler / Bünting 1989: 194 f ., Helbig 1996: 138, Engel
2004: 143 f., Скобликова 1993: 68 ff.). Diese Art Zeitverhältnisse heiβt in der Russistik Taxis. Der Terminus geht auf Roman Jakobson zurück, der die Taxis der absoluten Zeit und der Temporalität als solcher gegenüberstellte (Якобсон 1972: 100).
Diese Ansicht wird auch von manchen Germanisten geteilt (vgl. z.B. Зеленецкий
2004: 146) . Andere Forscher verstehen die Taxis im weiteren Sinne . So meint Alexander Bondarko, Taxis sei sprachliche Interpretation der Zeitwahrnehmung der bezeichneten Situationen im Verhältnis zum Redemoment des Sprechenden oder zu
einem anderen Zeitpunkt (Бондарко 2002: 473). Diese Auslegung erlaubt, die Taxisverhältnisse als einen Sonderfall der Temporalität zu betrachten .
Die Zeitverhältnisse zwischen dem Haupt- und dem Nebensatz definiert Bondarko als unabhängige Taxis (Бондарко 2003: 242), im Gegensatz zur abhängigen
Taxis, die zwischen dem Basisprädikat und der Partizipialgruppe entsteht . Ich meine,
im komplexen Satz handelt es sich um eine besondere Temporalität, und zwar um
eine semantisch präzisierte Temporalität . Ihre semantische Bestimmtheit entsteht
durch die Wechselwirkung zwischen den Tempora des Haupt- und Nebensatzes und
der Semantik der unterordnenden Konjunktion . Die lexikalische Semantik der temporalen Konjunktion erlaubt es, die typologische Spezifik der Temporalität sozusagen
in „reiner“ Form zu untersuchen, wenn auch manchmal die grammatische Semantik
berücksichtigt werden muss, die durch die Tempora und Aktionsarten geprägt ist .
Die Trennung der grammatischen und semantischen Temporalität führt uns auf
die Peripherie des entsprechenden funktional-semantischen Feldes und macht die
semantischen Grenzen durchsichtig . Die Grenzen, auch die sprachlichen, können
leicht überschritten werden, und zwar von den Elementen, die von auβen kommen
(vgl. Лотман 1996: 191). In diesem Zusammenhang entstehen Fragen nach den
Ressourcegebieten der Temporalität, die an diese semantische Sphäre grenzen
und Übergänge ermöglichen . Offen bleiben solche Fragen wie:
• Welche semantischen Grenzgebiete der Temporalität lassen sich anhand der
temporalen Konjunktionen feststellen?
• Decken sich diese Grenzgebiete in verschiedenen Sprachen?
• Auf welche Weise vollziehen sich semantische Übergänge?
Raumverhältnisse als Ressourcequelle der Temporalität
Anhand der indoeuropäischen Sprachen wurde mehrmals auf die Verwandtschaft
der Zeit- und Raumverhältnisse hingewiesen . Es geht dabei um den Übergang
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen…
41
der lokalen Semantik in die temporale, beispielsweise bei den Präpositionen oder
Adverbien (vgl . Ehrich 1989: 1) . Bei der Beschreibung der Systeme temporaler
Konjunktionen in indoeuropäischen Sprachen geht man oft von der Tradition aus,
in der die Kategorie der Zeit auf räumlichen Begriffen vorn – hinten und Relationen zwischen ihnen basiert (vgl. Eichinger 1989: 398; Крейдлин 1997: 140).
Die räumlichen Konzepte sind genetisch die ersten, davon zeugen auch die Untersuchungen des Spracherwerbs von Kindern (vgl . Clark 1973) . Diese Übergänge lassen Eve Sweetser (1990: 18) fragen: Was macht eigentlich den Raum zum
Ressourcegebiet für die Herausbildung des temporalen Vokabulars? Der nächste
Schritt führt uns zu einer anderen Frage: ist es die Kategorie des Raums allein, die
das Ressourcegebiet der Temporalität ausmacht? Es gibt ja keine räumlichen Umdeutungen bei den gebräuchlichsten temporalen Konjunktionen: im DEU wenn,
als, im ENG when, im RUS когда. Wo liegen ihre Ressourcequellen? Um diese
Frage zu beantworten, wende ich mich der Etymologie der temporalen Konjunktionen zu . Ich fange jedoch mit räumlich-temporalen Umdeutungen an .
Im Bestand von vielen temporalen Konjunktionen lassen sich zwei lokale Konzepte ausgliedern: das eine ist das der Grenze und das andere ist das Konzept
der Strecke/des Ortes . Die Semantik der Grenze, die erreicht oder überschritten
werden muss, sehen wir in folgenden Konjunktionen:
DEU: bevor, nachdem, bis
ENG: before, after, till
RUS: до тех пор, пока; до того, как; перед тем, как; после того, как.
Dabei findet eine Metaphorisierung der räumlichen Verhältnisse statt. Wir übertragen unsere kognitiven Erfahrungen, die wir bei der Wahrnehmung des Weges
gesammelt haben, auf die Wahrnehmung der zeitlichen Grenze: was vor uns ist,
empfinden wir – gemessen an dieser Grenze und abhängig von unserem Standort
– entweder als Nach- oder als Vorzeitigkeit; was hinter jemand oder etwas folgt,
ist für uns Nachzeitigkeit. Diese Art der Metaphorisierung finden wir in allen drei
Sprachen:
(1) a . Bis zur Tür – lokal (bis zu einer Sperre vor uns, egal, ob wir drauβen oder drinnen sind).
b . Dieses Zimmer […] wird verschlossen bleiben, bis ich wiederkomme (Schnitzler) –
temporal (= ein zeitlich begrenzter Zustand, der in der Zukunft – nachzeitig – verändert werden kann) .
(2) a . After you – lokal (Ihnen folgend) .
b . After you went away I had some trouble with my eyes (Kipling) – temporal (= Ihrem
Weggehen zeitlich folgend) .
(3) a. Он пошел на кухню, сел перед не топленной со вчерашнего дня печкой и, опустив
голову, сидел так долго-долго (Распутин) – lokal (vor dem Ofen).
b . Перед тем как уходить, Кузьма постоял над ней, сказал:
- Отойдешь немножко, вставай (В. Распутин) –– temporal (= vor dem Weggehen).
42
Olga Kostrova
c . После Вас – lokal (Ihnen folgend).
d. …девочки создались после того, как […] папа, по ранению в удалую голову, был
комиссован домой (Астафьев) – temporal (= Papas Rückkehr zeitlich folgend).
Die Semantik der Dauer, die man braucht, um eine lange Strecke zurückzulegen,
können wir uns in Konjunktionen vorstellen, die die Komponente lang/long enthalten . Bei der Metaphorisierung benutzen wir wieder unsere kognitiven Erfahrungen: „Was lang ist, bedarf der Zeit zum Überwinden“ und „Die Strecke hat
ihre Grenzen. Man befindet sich darauf eine Zeitlang“. Im DEU wird auf solche
Weise die Konjunktion solang(e), im ENG die Konjunktion as long as metaphorisiert . Früher war im DEU die getrennte Schreibung der Komponente lang möglich, die doch später mit dem Pronomen so zu einem Wort verschmolz; im ENG
ist die getrennte Schreibung bis jetzt üblich . Vgl .:
(4) a .[…] und so lange ich den Märzschnee nicht vergiften kann, mit welchem sie sich wäscht,
hab ich auch vor den Rittern des Landes keine Ruhe (Kleist) .
b . Solange er sich unbeweglich hielt, stumpfte der Schmerz in den Nackenmuskeln ab (Apitz) .
(5) So long as he could get work he didn’t mind much what sort of part it was (Maugham) .
Die entsprechende russische Konjunktion пока hat einen anderen Ursprung: sie stammt
von der homonymischen Partikel mit der Semantik der Zeitweiligkeit . Vgl .:
(6) a. – Ну и как? Удачно?
– Пока не знаю (Бондарев) – Partikel (= im Moment weiß ich es nicht, aber es ist
wahrscheinlich, dass ich es erfahre) .
b. Но так уж устроен человек: пока он жив – растревоженно работают его сердце,
голова (Астафьев) – Konjunktion (= solange man lebt,… – aber sobald man nicht
mehr lebt,…) .
Die russische Konjunktion пока impliziert die Semantik einer unbestimmten Begrenzung, die auch in der deutschen und der englischen Konjunktion involviert
ist, aber vor der expliziten Semantik der Dauer zurücktritt .
Das verwandte Konzept – der Ort, in dem etwas passiert, – ist von dem Zeitpunkt nicht zu trennen, in dem dieses Etwas vor sich geht . Die Semantik des Ortes
ist im deutschen Konjunktionaladverb wo vorhanden, das neben Lokalsätzen auch
Relativsätze mit temporaler Semantik einleiten kann, vgl .:
(7) Eine Stunde, Luise, wo zwischen mein Herz und dich eine fremde Gewalt sich warf – wo
meine Liebe vor meinem Gewissen erblasste – wo meine Luise aufhörte, ihrem Ferdinand
Alles zu sein (Schiller) .
Die englische Konjunktion whereas, die auch eine analoge lokale Komponente
enthält, wird doch in der temporalen Bedeutung kaum gebraucht . Sie bedeutet „in
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen…
43
contrast or comparison with the fact that“ (OPED 1990: 950) . Das entsprechende
russische Adverb где wird nur in der lokalen Bedeutung gebraucht, vgl .:
(8) В ту же ночь приехал я в Симбирск, где должен был пробыть сутки для закупки
нужных вещей (Пушкин).
Die Semantik des Ortes ist auch in den temporalen Konjunktionen spürbar, die die
präpositionale Komponente in/в enthalten . Diese Komponente charakterisiert das
Geschehen als an einem Ort und in einem bestimmten Zeitpunkt stattfindend. Im
DEU ist es die Konjunktion indem, im RUS в то (самое) время, как. Vgl .:
(9) Indem er dies sagte, klingelte es (Wahrig 1986: 685) .
(10) Батюшка вошел в то самое время, как я прилаживал мочальный хвост к Мысу Доброй Надежды (Пушкин).
Im ENG gibt es hierzu keine Entsprechung .
Vergleich als Ressourcequelle der Temporalität
Die lokalen Konzepte helfen uns die Semantik der präzisierten Taxis verstehen .
Die allgemeineren Taxisverhältnisse müssen anders erklärt werden . Suchen wir
nach anderen Ressourcequellen der Temporalität, dann kommen wir auf andere
Umdeutungsmöglichkeiten . Bei den Konjunktionen als, as, как ist es der Vergleich, der ihre Semantik im Wesentlichen prägt . Ihre semantische Entwicklung
zeige ich anhand der deutschen Konjunktion .
Die Etymologie von als erklärt Paul (1960: 16 ff .) wie folgt: Die ahd . Form
аlsō = “ganz so” wurde im Mhd . zu alse, als reduziert . Beide phonetische Varianten wurden unterschiedlich gebraucht: alse zum Ausdruck der Folge und als
vorwiegend mit der Bedeutung eines Vergleichs. Die vergleichende Bedeutung
hat sich bis jetzt in den Zusammenfügungen mit mehr als und größer als, sowie
im Bestand der zweiteiligen Konjunktionen als wenn (wie wenn), als ob (*wie
ob) erhalten . Doch zugleich wird als bereits im Mhd . mit der Bedeutung von =
sō in allgemeinen hypothetischen Zeitsätzen gebraucht (wo im Nhd . wenn steht) .
Erst später wird als zur Bezeichnung der einmaligen Handlungen in der Vergangenheit verwendet, das heißt in der Bedeutung, die der Konjunktion auch heute
eigen ist . Dabei kommt das Sem der Konkretheit zum Ausdruck, das vielleicht
auf das Pronomen sō zurückzuführen ist, welches einst ihr Bestandteil war und
eine Zeitlang im Sprachbewusstsein seine Spuren hinterließ . Seine demonstrative
Bedeutung geht im Mhd . in die Bedeutung der Konkretheit über, was die Konjunktion als zum Synonym des temporalen da macht, welches später in dieser
Bedeutung durch als verdrängt wird . Das temporale allgemein hypothetische als
wird zur temporalen auf ein konkretes Faktum in der Vergangenheit bezogenen
44
Olga Kostrova
Konjunktion . Da behält die temporale Bedeutung nur als Adverb, als Konjunktion
wird es nun im kausalen Sinn gebraucht .
Die Entwicklung der temporalen Bedeutung bei der Konjunktion als hat eine
semantische Veränderung der Konjunktion wenn herbeigeführt . Ursprünglich bedeutete wenn “zu der Zeit, wo”, wich aber in dieser Bedeutung zurück und wurde
nun zuerst temporal, aber allgemein hypothetisch gebraucht, gewann dann eine
bedingende Bedeutung und verdrängte hier die Konjunktion ob (vgl . Paul 1960:
16-18, 722; Kluge 1999: 30, 116) . So sehen wir, dass die semantische Verschiebung, die ihren Anfang in der Bedeutungsveränderung der ursprünglich vergleichenden Konjunktion als genommen hat, die Konjunktionen mit temporaler und
konditionaler Bedeutung in diesen Prozess hineingezogen hat . Das bestätigt unsere Hypothese über die Möglichkeit der semantischen Übergänge innerhalb dieser
Bedeutungssphären .
Jetzt versuchen wir, die folgende Frage zu beantworten: Wie ist der semantische Übergang vom Vergleich zur Temporalität möglich geworden? Die Antwort bekommen wir aus kognitiver Sicht, wenn wir uns das temporale System
der germanischen Sprachen vorstellen . Was sind eigentlich die relativen temporalen Bedeutungen der Gleich-, Nach- und Vorzeitigkeit, wenn nicht temporaler
Vergleich? Denn eine Handlung oder ein Zustand werden dabei an einer anderen
Handlung oder einem anderen Zustand temporal gemessen . Gerade das bildet die
kognitive Basis für den übertragenen Gebrauch der ursprünglich vergleichenden
Konjunktionen in der temporal-vergleichenden Bedeutung in allen drei Sprachen .
Die erwähnten Konjunktionen als, as und как geben in (11 a, b, c) die Bedeutung
der zeitlichen Überlappung wieder . Die Besonderheit der englischen Konjunktion
besteht darin, dass das Prädikatsverb des Nebensatzes eine dauernde Handlung
bezeichnet, die mit dem momentanen Ereignis des Hauptsatzes kontrastiert . Das
kann man als zusätzliches vergleichendes Merkmal ansehen . Cristiano Broccias
(2008) meint dazu, dass der progressive Aspekt die Instabilität der Handlung im
Nebensatz impliziert . Wenn wir GDS berücksichtigen (Zifonun u .a . 1997: 1145),
so müssen wir zugeben, dass die Betrachtzeit des Hauptsatzes, die im Nebensatz
angegeben ist, in (11 a – d) verschieden ist: in (11c) überlappt sich die Ereigniszeit des Hauptsatzes mit der dauernden Zeit des Nebensatzes; in (11 a) überlappt
sie sich mit dem Wahrnehmungsendpunkt des Nebensatzes, in (11 d) grenzt die
Überlappung an die Nachzeitigkeit der Nebensatzhandlung und in (11 b) sehen
wir reine Nachzeitigkeit des Nebensatzereignisses . Dass aber in allen vier Belegen zwei Zeitperspektiven verglichen werden, kann nicht bestritten sein .
(11) a . Als er von der Entführung hörte, ergriff er seine Harfe und ritt schnell an den Strand
(de Bruyn) .
b . […] als ich hinunter kam, war es schon vorbei (Schnitzler) .
c . As I was coming nearer she got ready to jump (Chase) .
d. Я уже потерял присутствие духа, как вдруг подходит ко мне тот самый флигельадъютант (Куприн).
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen…
45
Der Vergleich blickt im DEU auch in anderen temporalen Wortgruppen durch,
solchen wie so bald/so oft/so lange wie möglich, die ohne Komponente wie möglich zu temporalen Konjunktionen geworden sind . Im ENG gibt es die genauen
Entsprechungen as long as, as soon as, im RUS findet sich eine semantisch nahe
Konjunktion как только.
Der Vergleich schwingt auch in den germanischen Konjunktionen während und while mit, die sowohl temporal zur Bezeichnung der Gleichzeitigkeit
(12), als auch gegenüberstellend (13) gebraucht werden können (vgl. Clémènt
/ Thümmel l996) . Im RUS gibt es zur Bezeichnung der Gleichzeitigkeit eine
ähnliche Konjunktion в то время как, sie kann auch die Bedeutung der Gegenüberstellung aufweisen, wird aber selten gebraucht (vgl. Скобликова 1993:
71) . Wie viele russische Konjunktionen wird sie in der Form variiert (vgl . 10) .
Viel öfter steht im RUS zur Bezeichnung der Gleichzeitigkeit die Konjunktion
пока (Скобликова 1993: 71), in der der Vergleich impliziert ist: sie weist auf
die Vergänglichkeit einer bestimmten Zeitspanne hin und deutet somit auf eine
andere Zeitspanne (vgl . (14)) . Vgl .:
(12) a . Während er die Treppe zu seinem Arbeitszimmer empor schritt, holte Alexander die
Zeitungen aus der Tasche (Weiskopf) .
b . We had been sitting huddled up in our rugs while George had been telling me this true
story (Jerome).
(13) a . Während die Frau fernsieht, spült der Mann das Geschirr ab .
b . Torpenhow was sprawling in a long chair […], while Dick was preparing a canvas
(Kipling) .
(14)
Еще он понял, пока гнались за стрельцами, что его, Фрола, Степан взял в этот
догон нарочно (Шукшин).
Bei der Nicht-Gleichzeitigkeit bezeichnen die Konjunktionen die temporale Grenze, die erreicht werden muss, um etwas zu ermöglichen . In beiden germanischen
Sprachen enthalten die Konjunktionen sobald und as soon as die vergleichenden
Komponenten: so (so bald wie) im DEU, und as im ENG . Die Konjunktionen ehe
und after sind der Semantik nach vergleichend (ehe = früher, after = Komparativ
von aft) . Im RUS enthalten mehrere temporale Konjunktionen die vergleichenden
Komponenten как oder чем: после того, как; перед тем, как; с тех пор как,
как только, прежде чем. In (15) bezeichnen die Konjunktionen die Vorzeitigkeit, in
(16) die Nachzeitigkeit . Im ENG wird die Nachzeitigkeit durch die Konjunktion before ausgedrückt, die einen Vergleich nur impliziert . Vgl .:
(15) a . Ich bin bereit, dies alles mit Füßen zu treten, sobald Sie mich nur überzeugt haben
werden, dass der Preis nicht schlimmer noch als das Opfer ist (Schiller). → Temporaler
Vergleich: Überzeugung soll früher als Bereitschaft kommen .
b . I told him to come as soon as he is ready (Maugham). → Das Kommen sollte der
Bereitschaft folgen .
46
Olga Kostrova
c. Это было за год перед тем, как у Ольги Иннокентьевны родилась двойня (Куприн).→ Die Zwillinge kamen zur Welt früher, als etwas geschah.
(16) a . Eh Sie meine Gemahlin beschimpfen, durchstoß‘ ich sie (Schiller). → Das Durchstoβen
wird früher als Beschimpfen .
b. Hour passed before lessons began again (Dreiser). → Die Vorlesungen begannen nach
Stunden .
c. […] собака, прежде чем стать собакой, побыла человеком, само собою, хорошим
(Астафьев). → Zustand als Mensch kam früher als Zustand als Hund .
Die Eigenart des RUS besteht darin, dass bei der Konjunktion как die temporale und die aspektuelle Bedeutung zusammenwirken . Diese Konjunktion wird in
der Regel mit Prädikaten vollendeter Aktionsart kombiniert, wobei eine vollendete Gestalt als temporale Grenze empfunden wird . Vgl . (17):
(17) а. А как зайдут в Волгу – тут мы их запрем, отрежем от моря (Шукшин) (= Sobald)
→ temporale Grenze: die Ankunft an der Wolga.
b . Как совсем стемнеет, […] я велю перевести послов на другой струг (В. Шукшин) (= sobald) → temporale Grenze: Dunkelheit.
с. Уже шесть лет, как на нашей земле запрещена охота (Чехов) (= seit) →temporale
Grenze: Jagdverbot.
Interrogativität als Ressourcequelle der Temporalität
Ein anderes Ressourcegebiet der Temporalität liegt in der Sphäre der Unbestimmtheit, die in temporalen Konjunktionen zum Ausdruck kommt, welche sich
aus Frageadverbien entwickelt haben . In den analysierten germanischen Sprachen
sind es die Konjunktionen wenn im DEU und when im ENG, die auf das gotische
Adverb hwana zurückgehen . Auf den früheren Etappen der deutschen Sprachentwicklung funktionierte wenn in der Form von swanne, swenne als Variante
des Frageadverbs wann (vgl . Kluge 1999: 885) . Das altenglische Frageadverb
hwenne wird im Mittelalter zur Konjunktion (vgl. Ярцева 1961: 270). Die Konjunktionen haben im Vergleich zu Frageadverbien eine zweifache Abschwächung
erfahren: die der lexikalischen Bedeutung und die der Form . Das betrifft auch die
russische Konjunktion когда. Der Grad der formalen Abschwächung ist dabei
unterschiedlich: im DEU lautet das Frageadverb wann und die Konjunktion wenn,
im ENG und RUS sind entsprechende Frageadverbien und Konjunktionen homonym: when und когда.
Die semantische Entwicklung kann man sich folgenderweise vorstellen . Frageadverbien bezeichnen die zeitliche Unbestimmtheit der Existenz, nach der gefragt wird . In indirekten Fragen wechselt diese Unbestimmtheit zur Relativität:
Er fragte, wann du kommst. Unbestimmte Interrogativität wird dann zur relativen
Temporalität umgedeutet: Wenn du kommst, fangen wir an. Denn das Taxisverhältnis kann in komplexen Sätzen nur relativ sein: die temporalen Konjunktionen
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen…
47
bezeichnen keine konkreten Zeitpunkte, sondern nur die zeitliche Relation von
Tatsachen, Handlungen oder Ereignissen . Konkrete Daten werden dabei entweder
im Haupt- oder im Nebensatz durch temporale Adverbialien angegeben (18 c, d)
oder durch andere sprachliche Mittel, die bestimmte Zeitpunkte markieren (vgl .
Schatte 2008) . Da im DEU einmalige Ereignisse, die mit bestimmten Daten verbunden sind, durch die Konjunktion als eingeleitet werden, finden sich in komplexen Sätzen mit wenn in der Regel implizite Zeitangaben, beispielsweise das Alter
(18 a) . Wenn-Sätze ohne temporale Angaben sind oft temporal-bedingend (18 b):
(18) a . Wenn deine Eltern Rentner sind, [ . .] dann kommen sie uns besuchen (Hacker) .
b. Misch dich nicht ein, sagte mit aufgeregter Stimme Tante Sofi, wenn Andras eine
Zeitung ins Haus brachte (Hacker) .
c . It was late in the afternoon when we reached it (Poe) .
d. Теперь, когда он был на ногах, я увидел стройность и крепость его сложения
(Куприн).
Deixis als Ressourcequelle der Temporalität
Verschiedene Sprachen enthalten Hinweise auf andere Ressourcegebiete der
Temporalität . So deuten RUS und DEU auf demonstrative Deixis hin, die eine
räumliche Identifizierung der Objekte ermöglicht, welche als temporale Einschränkung bis zu einer bestimmten Grenze, ab und nach dieser Grenze oder
innerhalb bestimmter Grenzen umgedeutet wird . Im RUS enthalten viele temporale Konjunktionen Demonstrativpronomina, die mit lokalen Präpositionen mit
der Semantik der Abgrenzung, aber auch der Zusammengehörigkeit kombiniert
werden: до тех пор, пока; перед тем, как; после того, как; в то время, как,
с тех пор, как . In der Temporalität lassen sich solche Bedeutungsschattierungen fühlen wie Vergleich und Unstabilität . Der Vergleich kommt dank der Komponente как zum Vorschein (vgl . 3 d, 10) . Die Unstabilität entsteht dank der
Komponente пока, die auf die Veränderungsmöglichkeiten deutet (vgl. Труб
1997: 222):
(19) Я твоя до тех пор, пока ты хочешь, о мой возлюбленный Мишика! (А.И. Куприн).
Im DEU ist die demonstrative Deixis in solchen Konjunktionen vertreten wie seitdem, nachdem, indem, indessen, wobei die deiktische Komponente in Analogie
zum RUS mit räumlichen Präpositionen kombiniert wird . Im Unterschied zu dem
RUS gibt es im DEU eine eigenartige Konjunktion kaum dass, in der die Einschränkung und die Demonstrativität zusammengefügt sind . Die Komponente
dass „ist von Hause aus identisch mit das . […] Die Umbildung des Pronomens
zu einer Konjunktion liegt bereits im Ahd . vor“ (Paul 1960:120) . Die deiktische
Schattierung ist in der modernen Sprache fast verwischt, doch die orthografischen
48
Olga Kostrova
Fehler zeugen davon, dass diese Verbindung im Sprachbewusstsein vorhanden ist .
Die Konjunktion wirkt expressiv, weil das Eintreten der eingeleiteten Handlung
als zu schnell verstanden wird:
(20) Kaum dass Bochow sie eingeleitet hatte, kam aus den Reihen der Versammelten eine
Forderung nach bewaffnetem Aufstand (Apitz) .
Außer der demonstrativen Deixis ist im System der deutschen temporalen Konjunktionen auch eine similative Deixis vorhanden, die auf Ähnlichkeit hinweist .
Sie findet sich in abgeschwächter reduzierter Form in der Konjunktion als, und
zwar in dem Auslaut -s, der auf das ahd . sō zurückgeht . Blühdorn (2003) meint in
diesem Zusammenhang:
„Die s-Deiktika kodieren von Haus aus Similaritätsrelationen, haben ihren Anwendungsbereich aber auf Kontiguitätsrelationen ausgedehnt, und sind dabei schwachdeiktisch geworden .[ . .] Die deutsche Konjunktion als ist, anders als ihr englisches Gegenstück as, ein rein
situierender Konnektor geblieben, während die konditionalen und kausalen Perspektiven im
Deutschen von da, so und wenn (mit entsprechender Definitheitsabstufung) übernommen
wurden .“
Gerade das erklärt, dass diese Konjunktion zur Bezeichnung der einmaligen Handlungen in der Vergangenheit gebraucht wird, auf die hingewiesen werden kann .
(11 b) kann folgenderweise transformiert werden: Es war so, dass ich hinunter
kam und es schon vorbei war.
Einschränkung und Temporalität
In betrachteten Sprachen kann der Zeitbegriff verschiedenartig eingeschränkt
werden, was auch durch temporale Konjunktionen zum Ausdruck kommt . Früher
war von einer räumlichen Einschränkung die Rede, und zwar von der temporalen Grenze, die den Anfang oder das Ende einer Handlung, eines Zustandes oder
Ereignisses markiert (vgl . 1 b, 2 b, 3 b, d) . Zu den angeführten Beispielen wären
noch die Konjunktionen seit/seitdem, since und с тех пор, как/когда hinzuzufügen . Die deutsche Konjunktion seit und ihre synonymische Variante seitdem führt
Paul (1960: 553) auf die lateinische Form sētius zurück und definiert sie als einen
adverbialen Komparativ später, von dem das Suffix abgefallen ist. Kluge (1999:
755) erklärt die semantische Umdeutung folgenderweise: später als 1900 = seit
1900 . Die englische Konjunktion since hat denselben Ursprung .
Die ursprüngliche Komparativsemantik soll der Grund dafür sein, dass der
Nebensatz Vorzeitigkeit bezeichnet, während das Prädikat des Hauptsatzes durativ oder iterativ ist (vgl . Neumann 1971: 126-127) . Einen solchen Gebrauch
sehen wir in (21 a) . Doch bei einem durativen Verb im Nebensatz (21 b) ist auch
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen…
49
die Gleichzeitigkeit möglich (Buscha 1989: 98) . In beiden Fällen handelt es sich
um eine temporale Einschränkung, die den Anfang einer Handlung oder eines
Zustandes bezeichnet und den Vergleich mit anderen Zeiten impliziert . Im ENG
verbindet man since eher mit durativen Handlungen (Declerck 1996) (21 c) . Im
RUS bringt die Komponente с den Sinn der gemeinsamen Zeitrechnung, die im
Nebensatz beginnt (21 d):
(21) a . Seit sie das Kind aufgenommen hatten, war etwas Fremdes zwischen ihnen (Apitz). →
Später als sie das Kind aufgenommen hatten, . . .
b . […] sie kannten sich, seit sie denken konnten oder wollten (Hacker) .
c . He had seen her in every play she had acted in since he was twelve years old
(Maugham) .
d. Велел сказать мурза, что помнит он Степана Разина еще с той поры, когда он
послом приходил с казаками в их землю (Шукшин).
Die temporale Anfangseinschränkung beobachten wir in den Konjunktionen sobald, kaum dass/als, as soon as und как (только), едва / лишь (только) …, как.
Im RUS und im DEU ist die Einschränkung lexikalisch ausgedrückt: только /
лишь = erst, едва = kaum. Im DEU kommt die deiktische Komponente so dazu,
indem sie auf das baldige Eintreten von etwas hinweist (15 a) . Im ENG bildet das
kaum vorhandene Intervall die zeitliche Grenze, ab der die Handlung des Hauptsatzes beginnt (15 b) . Im RUS erscheint die einschränkende Partikel im Bestand
der Konjunktion fakultativ, oft fehlt sie wie in (17 a, b) .
Eine zweifache temporale Einschränkung, d .h . ein zeitlicher Rahmen, wird
durch die deutschen Konjunktionen solange und sooft etabliert (vgl . 4), sowie
durch die englische Konjunktion as/so long as (vgl . 5). Die Grenzen werden
durch die Deiktika so und as gesetzt . In der entsprechenden russischen Konjunktion пока sind die Grenzen offen, doch die Zeitweiligkeit des Geschehens (und
somit auch seine temporale Einschränkung) ist in der Semantik der Konjunktion
spürbar (vgl . 6 b, 14) . Wenn sich diese Konjunktion mit der negativen Partikel
verbindet, wird sie der deutschen Konjunktion bis synonym, weil die Negation
stärker die Grenze bezeichnet .
Negation und Temporalität
RUS und ENG liefern Belege, die die Zusammenwirkung von Negation und
Temporalität bestätigen . Die Negation kann als Zeichen der Veränderlichkeit verstanden werden . Im RUS ist die Veränderlichkeit dank der Verbindung mit пока
verdoppelt: die Handlung des Hauptsatzes wird als zeitweilig, aber statthabend
eingeschätzt, weil die doppelte Veränderlichkeit der Handlung des Nebensatzes
(пока + не) getilgt wird . Die Handlung des Nebensatzes gilt als abgeschlossen,
wird immer durch perfektive Aktionsart ausgedrückt und bildet die temporale
50
Olga Kostrova
Grenze für die Handlung des Hauptsatzes (22 a) . Im DEU ist die Negation nicht
nötig, weil die temporale Grenze durch ein terminatives Verb allein gesetzt werden kann (22 b) . Doch manchmal ist im Nebensatz die Negation vorhanden,
wenn auch die Verbindung mit der Konjunktion dabei locker ist. Jedenfalls ist
diese Verbindung nicht grammatikalisiert . Die Negation signalisiert eher das Aufhören der Prädikatshandlung bei einem nicht terminativen Verb (22 c) . Im ENG
ist die positive Konjunktion till mit der negativen until semantisch identisch; die
Abgeschlossenheit der Prädikatshandlung wird entweder lexikalisch (22 d) oder
durch die perfektive Verbalform (22 e) ausgedrückt . Vgl . entsprechend:
(22) a. Ехал я на почтовых девять дней с небольшим, пока не приехал в Санкт-Петербург
(Куприн).
b . […] der Wind stockte, als lausche er auf etwas, bis plötzlich der Regen einsetzte
(Hacker) .
c . Da ging er weiter, bis er sie nicht mehr sehen konnte (Hacker) .
d . Dick watched her till she was out of sight (Kipling) .
e . She didn’t look in until he had returned (Kipling) .
Die Negation kann im RUS Zeichen der temporalen Nicht-Entsprechung in erstarrten Phrasen sein . Die Handlung des Nebensatzes wird als ungewöhnlich
schnell eingeschätzt . Im Hinblick auf die Schnelligkeit weicht sie vom Standard
ab (vgl. Чернышева 2001: 288), dadurch entsteht die temporale Nicht-Entsprechung der Haupt- und Nebensatzhandlungen oder -ereignisse . Der Hauptsatz
beschreibt eine kurze Zeitspanne, die aber gar nicht verstrichen ist, oder eine
Handlung innerhalb dieser kurzen Zeitspanne, die nur gedacht bleibt . Die Nebensatzhandlung eilt ihr voraus . Im RUS gibt es einige Varianten solcher erstarrten Phrasen: не успел…, как; не прошло и…, как (vgl . 23 a, b) . Im DEU
ist die Grammatikalisierung dieser Art auf eine erstarrte Phrase mit ähnlicher Bedeutung, aber ohne Negation beschränkt (23 c). Im ENG findet sich auch eine
erstarrte Wendung mit ähnlicher Semantik, die eine Negation und ein temporales
Adverb im Komparativ enthält (23 d) .
(23) a . Не прошло и четверти часа, как он вернулся (Куприн).
b . Не успел я это сказать, как ворона спрыгнула с перил, отодвинула клювом занавеску и вошла в комнату (Бондарев).
c . Ehe er sich versah,…
d . He had no sooner got well than he fell ill again .
Aspektualität (Iterativität) und Temporalität
Der typologische Unterschied der germanischen und slawischen Sprachen in Bezug auf die Kategorie des Aspekts kommt auch in den Systemen der temporalen
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen…
51
Konjunktionen dieser Sprachen zum Ausdruck . In den germanischen Sprachen, in
denen der Aspekt als grammatische Kategorie im System des finiten Verbs fehlt,
übernehmen teilweise temporale Konjunktionen den Ausdruck der Aktionsart,
während das russische System der temporalen Konjunktionen in dieser Hinsicht
nicht so definit ist.
Das deutsche und das englische System der temporalen Konjunktionen enthalten Lexeme, die explizit die Aktionsart angeben . So wird die Dauer im DEU
durch die Konjunktionen solange und während wiedergegeben . Buscha (1989:
106) bemerkt, dass die Nebensätze mit solange Propositionen ausdrücken, die genau so lange dauern, wie die Propositionen der Hauptsätze (4 a, b) . Dasselbe kann
man von der englischen Konjunktion so long as sagen (5) . Die Konjunktion während ist dem Ursprung nach Partizip I von dem Verb währen, das allmählich durch
das Verb dauern verdrängt wurde (vgl . Paul 1960: 719) . Das englische while ist
mit dem deutschen die Weile verwandt und lässt somit die Dauer durchblicken .
Die entsprechende russische Konjunktion пока hat eine andere Etymologie, sie
geht – wie früher erwähnt – auf die gleichnamige Partikel mit der Bedeutung der
Zeitweiligkeit zurück . Somit wird im RUS bei dieser Konjunktion nicht die Dauer, sondern die Veränderlichkeit betont .
Im DEU gibt es eine Konjunktion, die lexikalisch die Iterativität ausdrückt:
sooft (23). Weder im ENG noch im RUS gibt es hierzu genaue Entsprechungen .
Doch ist die Iterativität bei der Wiedergabe der temporalen Verhältnisse in allen
drei Sprachen wichtig . Im DEU unterscheidet sie den Gebrauch von wenn und als
in der Vergangenheit, wobei wenn wiederholte (18 b) und als einmalige Handlungen einleitet (11 a) . Im RUS und im ENG wird in beiden Fällen eine und dieselbe
Konjunktion gebraucht: когда und when. Das muss bei der Übersetzung aus diesen Sprachen ins Deutsche in Betracht gezogen werden . Im RUS ist die iterative
Bedeutung in der Vergangenheit in der Regel mit dem imperfektiven Aspekt kombiniert (24 a); doch die Wiederholung der perfektiven Handlung ist in bestimmten
Kontexten auch möglich (24 b) . Die einmalige Handlung wird durch den perfektiven Aspekt ausgedrückt (24 c) . Im ENG ist die Iterativität in der Semantik des
kursiven Prädikatsverbs impliziert (24 d) und die Einmaligkeit lässt sich durch die
Terminativität des Prädikatsverbs ausdrücken (24 e):
(23)
(24) a.
b .
c .
d .
e .
Sooft sie sich gegenüber standen, war etwas zwischen ihnen, was geflissentlich ignoriert werden musste (Apitz) .
[…] он всегда вздыхал, когда видел деньги (Чехов).
Как завижу, бывало, рысьи шапки, да как заслышу их визг, веришь ли, отец
мой, сердце так и замрет! (Пушкин). (Die Wiederholung kommt in бывало zum
Ausdruck) .
Когда заморосил дождь, он направился к дому (Чехов).
When the cave door was unlocked, a sorrowful sight presented itself in the dim twilight of the place (Twain) .
Dick slept till late into the evening, when Torpenhow dragged him off to bed (Kipling) .
52
Olga Kostrova
Das Zusammenspiel mit der Iterativität lässt sich manchmal auch in Nebensätzen beobachten, die durch die Konjunktionen sobald im DEU und как только
im RUS eingeleitet werden . Im DEU wird die Wiederholung der Handlung in
der Regel im Kontext ausgedrückt, im RUS – durch die imperfektive Aktionsart
(25 a, b); doch oft genug leiten diese Konjunktionen einmalige Handlungen ein
und bezeichnen eine temporale Grenze (25 c, d), was in meinem englischen Korpus als einzige Möglichkeit erscheint (15 b) . Im Allgemeinen zeugt das von dem
sporadischen Charakter dieser Verbindungen . Vgl .:
(25) a . Er hatte ein paar Mal ihre Telefonnummer gewählt, den Hörer aufgelegt, sobald sie
sich meldete (Panitz) .
b . Как только где натыкалась эта добрая душа на подлость и злость людскую, так
Степана точно срывало с места ( Шукшин).
c . Sobald sein Deutsch gut genug war, schrieb er Anja sehnsüchtige Briefe (Hacker) .
d. Тимофей [..] вознамерился учинить расправу сынам, как только они заявятся домой (Шукшин).
Temporalität und Präferenz
Die temporalen Verhältnisse können sich mit pragmatischer Präferenz kreuzen . Die
Präferenz kann man als Abart des Vergleichs betrachten, wobei von zwei implizit zu
vergleichenden Handlungen eine als bevorzugt erscheint . Die Handlung, die bevorzugt wird, kommt im Hauptsatz zum Ausdruck . Der Nebensatz enthält die abgelehnte
Alternative, die durch die temporale Konjunktion mit der Bedeutung der Vorzeitigkeit
eingeführt wird . Der Vergleich kommt im RUS in der Komponente чем zum Vorschein,
im DEU ist die Konjunktion ehe ein adverbialer Komparativ (Paul 1960: 140) . Im RUS
sind in solchen Fällen temporale Infinitivsätze typisch, wobei (so Гвоздев 1955: 422 f.)
der Infinitiv des Nebensatzes auf die Notwendigkeit oder Erwünschtheit der Handlung
im Hauptsatz hinweist (26 a) . Im DEU gibt es ein explizites Zeichen der Präferenz: das
Adverb lieber im Hauptsatz, das auf die Unerwünschtheit der Handlung des Nebensatzes hinweist (26 b, c) . Im ENG ist solcher Gebrauch m .E . nicht vorhanden . Vgl .:
(26) a. Думай, прежде чем говорить.
b . Nein! eh ich meine Tochter an so einen Schuft wegwerfe, lieber soll sie mir – Gott
verzeih mir‘s (Schiller) .
c . Ich gehe lieber ins Kloster, bevor ich Emma heirate (Keller, ein Vorlesungsbeleg) .
Semantischer Synkretismus
Die betrachteten Beispiele der semantischen Entwicklung der temporalen Konjunktionen lassen zum Schluss kommen, dass diese durch Synkretismus gekennzeichnet
Grenzgebiete der Temporalität im Deutschen, Englischen…
53
sind . In verschiedenen Sprachen kommt der Synkretismus in unterschiedlichen
Kombinationen vor. Am deutlichsten und am häufigsten kommen die synkretischen
Züge in den russischen temporalen Konjunktionen zum Ausdruck . Es ist wohl dadurch zu erklären, dass sie mit wenigen Ausnahmen mehrteilig sind, und jeder Teil
die gesamte Semantik mitgestaltet . Im RUS kommen vier- und dreifache Kombinationen viel öfter vor, als im DEU und ENG . Typisch ist beispielsweise die Kombination der temporalen Bedeutung mit der räumlichen, vergleichenden und demonstrativen in solchen Konjunktionen wie после того как, до того как, перед тем как,
в то время как. Unter den deutschen Konjunktionen kann ich diese Kombination
nur bei solange registrieren, unter englischen – nur bei after. Andererseits vereinigt
die englische Konjunktion as long as vier andere Seme: auβer der Temporalität sind
es Lokalität, Vergleich, Iterativität und Instabilität und die Konjunktion no sooner
than weist die Kombination von sechs semantischen Merkmalen auf: Temporalität,
Negierung, Vergleich, Demonstrativität, Instabilität und Restriktivität .
Der semantische Synkretismus trägt dazu bei, dass die Bedeutung der temporalen Konjunktionen ziemlich unbestimmt wird. Manche russischen Forscher finden
die Tendenz zur Unbestimmtheit für die russische Syntax typisch (vgl. Литвина
2000: 152) . Unsere Analyse zeigt, dass diese Tendenz auch anhand der deutschen
und englischen temporalen Konjunktionen zu vermerken ist, wenn sie auch nicht
so deutlich ausgeprägt ist .
Fazit
Die durchgeführte Untersuchung zeigt, dass sich die Grenzen der Temporalität
weit über das semantische Gebiet der Räumlichkeit erstrecken . Es sind insgesamt acht andere semantische Gebiete, die die temporale Bedeutung der Konjunktionen mitgestalten, wenn auch mit verschiedener Gewichtung . Die genetische
Verwandtschaft der betrachteten Sprachen bestimmt die Ähnlichkeit der semantischen Grenzgebiete, schließt aber gewisse Unterschiede nicht aus . Diese Unterschiede lassen sich von der formalen Gestaltung der Konjunktionen, von ihrer
Zusammenwirkung mit anderen Elementen der Sprachsysteme und nicht zuletzt
von ihrem Gebrauch ableiten .
Der flexible Sprachbau des RUS lässt im Vergleich zu den germanischen Sprachen mehrere Formvariationen im Bestand der temporalen Konjunktionen zu . Die
meisten von ihnen haben zwei und mehr Varianten, deren Wahl oft schwer zu
erklären ist, weil sie m .E . von individuellen Präferenzen des Autors abhängt . Die
getrennte Schreibweise trägt einerseits dazu bei, dass sich die ursprüngliche Semantik von jedem Element deutlich erhalten hat, andererseits aber dass sie nicht
immer als ganzheitliche Einheiten empfunden werden, denn die demonstrativen
deiktischen Elemente treten oft im Hauptsatz als Korrelate auf .
Systematisch gesehen unterscheiden sich die temporalen Konjunktionen des
RUS und der beiden germanischen Sprachen in Hinsicht auf den Ausdruck der
54
Olga Kostrova
Aspektualität und der Modalität . Das Vorhandensein der Kategorie des Aspekts
bei dem russischen Verb erübrigt ihren Ausdruck durch temporale Konjunktionen,
die in Bezug auf diese Kategorie indifferent sind . Im Gegenteil enthalten manche
Konjunktionen im DEU und ENG lexikalische Indizien der Dauer oder Wiederholung . Dafür sind einige russische Konjunktionen modal-emotional angelegt .
Obwohl RUS eine partikelarme Sprache ist, finden sich im Bestand der russischen
temporalen Konjunktionen solche Partikeln wie не, лишь, едва, только. Das ist
bedeutend mehr als im DEU und ENG. Auβerdem sind die Konjunktionen лишь
/ едва, только jeweils durch zwei Einschränkungspartikeln gebildet, was ihren
modal-emotionalen Wert verdoppelt .
Die gegenwärtige Entwicklung zeigt andere Grenzgebiete der Temporalität,
wobei die temporalen Verhältnisse meistens zu kausalen, aber auch zu konditionalen, konzessiven und restriktiven umgedeutet werden, was aber den Gegenstand
einer anderen Untersuchung bilden kann .
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Andrzej Kątny
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart
aus kontrastiver Sicht1
1. Einleitung und Problemstellung
Im folgenden Beitrag wende ich mich der Beschreibung einer Gruppe der Resultativa zu, und zwar den mieć-Zustandsformen, die manche Linguisten als ein
neues Tempus betrachten wollen . Obwohl die Ähnlichkeit zu den Resultativkonstruktionen der germanischen und romanischen Sprachen (als Vorstufe der Perfekt-Tempora) nicht zu übersehen ist, wird im Laufe der Analyse gezeigt, dass
die mieć-Konstruktion an der Peripherie des polnischen Genussystems steht und
auch nicht als ein neues Tempus (Perfekt) angesehen werden kann, obwohl sie besonders in performativer Verwendung einen engen Bezug zu der vorangehenden
Handlung herstellt .
Im zweiten Teil werden die Modalverben des Deutschen in epistemischer Verwendung genauer betrachtet . Hauptsächlich geht es um eine Überprüfung der
These, dass die aktionale Charakteristik der Infinitivphrase (beim Inf. I) ausschlaggebend ist für die epistemische oder deontische Lesart der Modalverben .
Kontrastives Herangehen erlaubt stellenweise einen tieferen oder differenzierten
Einblick in die untersuchten Phänomene zu gewinnen .
2. Zur Bedeutung und Verwendung der mieć-ZF im Polnischen
Das Verb mieć ist im Polnischen polyfunktional: in Verbindung mit Substantiven
fungiert es als Vollverb in der Bedeutung ‘haben, besitzen’; in Verbindung mit
einem Infinitiv fungiert es als Modalverb in deontischer und epistemischer Lesart (i .S .v . sollen, sollte, manchmal auch müssen) . Als Modalitätsverb erscheint es
auch in modalen Verbindungen vom Typ mieć + do + Verbalsubstantiv (haben
+ zu + Infinitiv). Dazu ist anzumerken, dass das Verbalsubstantiv von perfektiven Verben2 abgeleitet wird . In der gesprochenen Sprache nimmt die Verwendung der Konstruktion „mieć + AO + perf . Passivpartizip“ ständig zu . In den eher
1
2
Ich möchte mich bei Christoph Schatte (Posen) für seine Verbesserungsvorschläge und
Hinweise bedanken; alle Mängel und Unzulänglichkeiten fallen selbstverständlich auf
mich zurück .
Mam jeszcze jeden rozdział do przeczytania – Ich habe noch ein Kapitel zu lesen.
Die Konstruktionen dieser Art bezeichnen die Notwendigkeit und sind durch entsprechende
Modalverben (musieć, mieć) ersetzbar . In dem Beitrag werden folgende Abkürzungen verwendet: m – Maskulinum, f – Femininum, n – Neutrum, A – Akkusativ, AO – Akkusativobjekt, G – Genitiv, N – Nominativ, perf . – perfektiver Aspekt, imp . – imperfektiver Aspekt
(im Polnischen und slawischen Sprachen), PPI – Passivpartizip eines imperfektiven Verbs,
Andrzej Kątny
60
traditionellen Grammatiken des Polnischen, die sich im Grunde genommen auf
die geschriebene Sprache stützen, wird die Konstruktion nicht erwähnt: Ausnahmen sind allein die Deutsch-polnische kontrastive Grammatik (vgl. Kątny 1999:
547) und die Grammatik des Polnischen (vgl . Bartnicka u . a . 2004: 301) .
(1) Mieszkanie
Wohnung n A
(2) Lekturę
Lektüre f A
(3) Obraz
Bild m A
mam
habe (ich)
miałem
hatte m (ich)
mam
habe (ich)
sprzątnięte .
aufgeräumte PPP n A
przeczytaną.
gelesene PPP f A
odnowiony.
erneuertes PPP m A
Zwischen dem Objekt (das in der Regel im Akkusativ3 steht) und dem Passivpartizip besteht Kongruenz. Das Objekt kann bei einigen Verben durch eine Infinitivkonstruktion oder durch den mit der Konjunktion że eingeleiteten Nebensatz
vertreten sein (das Partizip steht dann im Neutrum):
(4) Mam
(ich) habe
tu napisane,
że
się spóźni
hier geschriebenes PPP n A, dass (er) sich verspätet perf .
Als Partizipien können hier nur perfektive Verben (d .h . Verben im perfektiven
Aspekt) auftreten . Die zweite die Transivität dieser Verben betreffende Beschränkung gilt nicht als absolut (vereinzelt, kontextuell bedingt, gibt es intransitive Verben) . Die Konstruktionen dieser Art fasse ich als Zustandsformen oder Resultativa auf. Das Resultativ definiere ich „als eine Form, die einen Zustand bezeichnet,
bei dem vorangehender Vorgang vorausgesetzt ist“ (Litvinov / Nedjalkov 1988:
1) . Der Satz Mam otwarte okno (Ich habe das Fenster geöffnet - ZF) lässt auf
die vorangehende Handlung des Subjekts schließen: Otworzyłem okno (Ich habe
das Fenster geöffnet – eventiv, Perfekt) . Das perfektive Präteritum im Polnischen
bezeichnet den Zustandswechsel4 (otworzył okno – er hat das Fenster geöffnet),
der Nachzustand wird mit dem Zustandspassiv oder dem mieć-ZP zum Ausdruck
gebracht (okno jest otwarte; ma okno otwarte – das Fenster ist geöffnet; er hat
das Fenster geöffnet) . Pisarkowa (1964) zeigt in ihrer Untersuchung, dass diese
Formen in der Schriftsprache schon in den Privatbriefen von Adam Mickiewicz
3
4
PPP – Passivpartizip eines perf . Verbs, DM – deontische, EM – epistemische Modalität,
ZF – Zustandsform(en)
Negation, quantifikative Angaben verändern die Rektion (erwirken Gen.), zum Beispiel:
Mieszkania
nie
miał
jeszcze
posprzątanego.
Wohnung n G
nicht hatte m (er) noch
aufgeräumte n G
An dieser Stelle ist anzumerken, dass Verben im Präteritum im Polnischen auch nach dem
Genus (nominale) flektiert werden, wobei im Singular drei Genera und im Plural zwei zu
unterscheiden sind . Das gleiche betrifft Verben im Konjunktiv, da diese Formen auf dem
Präteritum aufbauen .
Das gleiche gilt für das Perfekt des Deutschen bei telischen Verben .
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart…
61
(1798-1855) nachweisbar sind . Insgesamt würden sie aber primär in der gesprochenen Varietät (wenn auch hier nur begrenzt) verwendet und seien nicht genug
formalisiert, um als Flexionskategorie (d .h . als Tempus) gelten zu können . Gegen
diese Zuordnung spreche auch die semantische Mehrdeutigkeit mancher Sätze
mit mieć5 . Mit Pisarkowa setzt sich Weiss (1977: 370 ff .) auseinander . Er sieht
eine enge Verwandtschaft dieser Konstruktionen mit dem Zustandspassiv (beide
sind hinsichtlich der Fremd- und Eigenverursachung ambig) . Weiss bewertet die
mieć-Konstruktion als „Syntagma mit quasitemporaler Funktion, noch nicht als
eigenes Tempus“ (Weiss 1977: 183) . Weydt / Kazmierczak setzen sich in ihrem
interessanten Beitrag mit der Frage auseinander, ob es im Polnischen ein Perfekt
gibt . Nach der Analyse von Belegen6 kommen die Verfasser zu dem (m .E . voreiligen) Schluss, „dass mindestens für einen großen Teil der jüngeren Sprecher die
entsprechenden Formen bereits den Charakter eines Vergangenheitstempus angenommen haben“ (Weydt / Kazmierczak 1999: 8) . Für die Beschreibung der hier
zur Analyse stehenden polnischen Konstruktionen sind auch die Ergebnisse der
Untersuchung von Jäger (1978) zu vergleichbaren Konstruktionen im Tschechischen relevant. Jäger spricht von possessiven Folgezustandsformen und setzt sie
von den nicht possessiven (also vom Zustandspassiv) ab und geht dabei davon aus,
dass die Fügungen mit haben (mit im Tschechischen) einen Zustand ausdrücken,
der die Folge eines vorausgehenden Geschehens ist und dass zwischen diesem
Zustand und dem Subjekt eine Beziehung besteht, die als „Zuordnung“ oder „Zueignung“ des Folgezustands zu der betreffenden Person oder Sache charakterisiert
wird (vgl. Jäger 1978: 20). Im Laufe der Analyse wird diese Beziehung präzisiert
und dem Subjekt der Folgezustandsform die Rolle Favorisierter (Fav) zugeordnet . Ähnliche Konstruktionen gibt es in fast allen slawischen Sprachen7 (vgl . Koronczewski 1993, Kostov 1972, Jäger 1978, Giger 2003) und in einigen germanischen und romanischen Sprachen . Am ausführlichsten wurden diese Fügungen im
Tschechischen von Giger (2003) untersucht, der sie als „Resultativa“ bezeichnet .
Es sind „Formen, welche Nachzustände ausdrücken, d .h . notwendig einen vorangegangenen Vorgang implizieren“ (Giger 2003: 17) . Als Stativ werden in Anlehnung an Nedjalkov / Jaxontonov (1988) Formen verstanden, die „einen Zustand
ausdrücken, ohne zu implizieren, dass er aus einem vorangegangenen Vorgang
hervorgegangen ist“ (ebd .: 17) . Die Fügungen „mit + Objekt + perf . Passivpartizip“ werden als possessive Resultativa behandelt und seien keine Perfekttempora .
Als Beweis dafür werden die Antworten auf Fragen des „Questionares“ aus Dahl
(2000: 801) ausgewertet und besprochen . Giger (2003: 142) hebt hervor, dass
possessive Resultativa nicht sequentiell oder bei Hervorhebung des Zieles, Ortes
5
6
7
Drei Deutungen sind möglich: 1 . Satzsubjekt ist zugleich Agens, 2 . Satzsubjekt ist kein
Agens, 3 . Beide Möglichkeiten liegen vor . Diese Mehrdeutigkeit hängt m .E . hauptsächlich
mit der Semantik des Partizips zusammen .
Einige Belege sind phraseologisiert, einige falsch gedeutet (vgl. Łaziński 2001).
Im Russischen z .B . gibt es Konstruktionen mit einer etwas anderen Zusammensetzung,die
aber den poln . mieć-Konstruktionen äquivalent sind: noga byla u nego zabintowana = nogę
miał obandażowaną = er hatte das Bein verbunden.
62
Andrzej Kątny
oder Urhebers der Handlung verwendet können . In temporalen Satzgefügen können sie Vorzeitigkeit (Abschluss einer Handlung) oder Nachzeitigkeit ausdrücken .
Der Verfasser stellte ein Korpus von 600 Belegen (davon 360 der gesprochenen
Sprache) zusammen und beschreibt deren Funktion und syntaktisches Verhalten .
Nur im Falle des Makedonischen (insbesondere in den südwestlichen Dialekten)
kann man von einer recht weit fortgeschrittenen Grammatikalisierung (Perfekt)
sprechen, weil als Partizipien Verben in beiden Aspekten, d .h . auch nicht-telische,
auftreten können . Zwischen dem Objekt und dem Partizip besteht keine Kongruenz, oder das Objekt steht im Neutrum (vgl . Giger 2003: 489 f .) .
Ähnlich wie Jäger und Giger fasse ich die hier behandelten Formen als Zustandsformen auf, die auf einen Prozess zurückführbar sind . Die mieć-ZF kann ins
Zustandspassiv (aber nicht umgekehrt) umgeformt werden . Die Begrenzung dieser Formen auf die gesprochene Varietät darf heute m .E . nicht mehr als Argument
gegen deren Einbindung in das System der Passivformen gelten; im Genussystem
des Polnischen befindet sich diese Verbindung an der Peripherie. Für das Polnische kann man also das folgende System der Passivformen annehmen:
(5) Vorgangspassiv
być (sein)
+ PPI
zostać (werden) + PPP
Zustandspassiv
być (sein) + PPP
mieć (haben) + PPP + AO
In Übereinstimmung mit Leiss (1992) unterscheide ich zwischen Voll- und
Übergangskategorien; die hier besprochene mieć-ZF zählt als Resultativ zu den
letzteren . Während die deutsche haben-ZF als Relikt des Grammatikalisierungsprozesses anzusehen ist, gehört die des Polnischen zu den Übergangskategorien .
Als Resultativ bereitet sie die Kategorien Tempus und Passiv vor . Die mieć-ZF
steht noch an der Peripherie des Genussystems, da aber ihre Häufigkeit zunimmt
(auch wenn sie im Prinzip derzeit nur auf perfektive und transitive Verben beschränkt ist), wird sie sich Richtung Zentrum bewegen . Im Laufe der Zeit (d .h . der
Jahrhunderte) kann sich ein Teil dieser Konstruktionen (mit der Relation Subjekt
= Agens) zu einem neuen Tempus (Perfekt) entwickeln, vorausgesetzt dass sie imperfektive, intransitive Verben erfassen wird und die Kongruenz zwischen Objekt
und Partizip stufenweise abgeschwächt wird . Da die mieć-ZF viele Ähnlichkeiten
mit der deutschen haben-ZF aus der Zeit vor der Grammatikalisierung aufweist,
wird hier skizzenhaft die Entwicklung dieser Form zum Perfekt dargestellt .
3. Exkurs zum Perfekt im Deutschen
Einige Bemerkungen zur Entstehung des Perfekts im Deutschen können dem des Polnischen nicht mächtigen Leser das Begreifen der mieć-Konstruktion, die als Stufe zur Entwicklung des Perfekts im Grammatikalisierungsprozess gelten sollte, erleichtern . Das
Perfekt mit haben hat sich im Deutschen aus dem Verb haben und dem attributivischen
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart…
63
mit dem Objekt in Kongruenz stehenden Partizip II entwickelt . Ein nach Kotin (1999:
404) aus dem ahd . Tatian zitiertes Beispiel mag dies verdeutlichen:
(6) Phicboum habeta sum giflanzotan in sinemo uuingarten. (Tatian 102, 3)
[Einen Feigenbaum hatte jemand gepflanzten in seinem Weingarten]
Der Satz ist zweideutig, da das Subjekt (Possessor) Agens oder nicht Agens (Possessor und Zustandsträger) sein kann . Diese resultative Konstruktion drückt einen
Nachzustand (als Resultat einer vorangegangenen Handlung) aus .
In didaktischer Hinsicht besser jedoch (und auch für Synchronlinguisten verständlich) werden diese Bezüge durch folgenden von Teuber (2005: 73) konstruierten Satz dargelegt:
(7) a . +Er hat die Kartoffeln geschälte8
b . Er hat die Kartoffeln geschält
Anfangs waren Konstruktionen dieser Art nur mit perfektiven und transitiven Verben möglich; in der weiteren Phase waren transitive Verben ohne Objekt, dann
auch intransitive und imperfektive Verben (als Partizipien) zugelassen . Das Partizip verliert zugleich stufenweise seine Endungen (keine Kongruenz mit dem
Objekt, das oft fehlt) und gewinnt eine stärkere Bindung an haben, das langsam
seine possessive Semantik des Vollverbs (d .h . seine Argumentstruktur) verliert
und zum Hilfsverb wird . Diese Entwicklung erfasste Konstruktionen mit haben,
in denen das Subjekt als Agens fungierte – aus einer resultativen Konstruktion
mit dem Nachzustand wurde eine Tempuskategorie (vgl . Rödel 2007: 70; Teuber
2005: 72 ff .; Kotin 1999: 403 f .) .
An dieser Stelle ist jedoch hervorzuheben, dass nicht alle Verbindungen haben
+ Part . II der Gegenwartssprache als Perfekt zu deuten sind, denn es gibt auch
solche, die man als Zustandsform deuten kann, oder ambige (Perfekt und Zustandsform): „Trotzdem lebt das ‘Gemischte’, ja Zweideutige der Tempusformen
auch in mod . Deutschen fort, vielleicht durch die Wortstellungsmuster gefördert“
(Wells 1990: 263) . Die Anzahl dieser Verbindungen ist begrenzt, aber größer als
es manchen Linguisten scheint . Man kann folgende Formen des haben-ZP (hier
dem Aktiv gegenübergestellt) unterscheiden:
Präsens:
Präteritum:
Perfekt:
Plusq .:
8
Aktiv
haben-ZP (Resultativ)
öffne
öffnete
habe geöffnet
hatte geöffnet
habe geöffnet
hatte geöffnet
habe geöffnet gehabt
hatte geöffnet gehabt
Diese Konstruktion entspricht genau der hier besprochenen mieć-Konstruktion – sowohl
im Sinne des Baus und der Kongruenz als auch der Bedeutung:
(on) ma ziemniaki obrane.
64
Futur I:
Futur II
Doppelperf .:
Doppelplusq .:
Infinitiv I:
Inf . II:
Andrzej Kątny
werde öffnen
werde geöffnet haben
habe geöffnet gehabt
hatte geöffnet gehabt
öffnen
geöffnet haben
werde geöffnet haben
werde geöffnet gehabt haben
geöffnet haben
geöffnet gehabt haben
Wie diese Übersicht deutlich macht, können die Formen des Futur II mit denen
des Futur I (ZP), die des Doppelperfekt (DPF) und Doppelplusquamperfekt (DPQ)
mit denen des Perfekts und Plusq . des Resultativs zusammenfallen . Mir scheint
z .B ., dass Futur II bei resultativen (telischen)Verben doppelt gedeutet werden
kann (d .h . als eventiv und als resultativ) .
In diesem Zusammenhang kann man die Frage stellen, ob die polnische miećKonstruktion die gleiche Entwicklung nimmt oder z .T . schon genommen hat, d .h .
ob sie als Perfekt gedeutet werden kann . Ich vertrete die Ansicht, dass mieć als
Kopula (Halbhilfsverb) seine Valenz behält und die Konstruktion einen Nachzustand beschreibt, die auf die ausgeführte Handlung schließen lässt (Implikatur)9 .
4. Bemerkungen zu den deutschen Entsprechungen
In der empirischen Analyse habe ich eine Reihe von Entsprechungen im Deutschen festgestellt (Richtung Polnisch → Deutsch); die wichtigsten von ihnen werden kurz dargestellt und andiskutiert (Richtung Deutsch → Polnisch).
4 .1 haben-Zustandsform (haben-ZF)10
Diese Form ist der polnischen strukturell ähnlich, auch wenn sie im System
des Deutschen eine andere Stelle einnimmt (d .h . viel seltener vorkommt) . Auf
diese Konstruktion haben u . a . Abraham (1995: 283 ff .), Hole (2002), Latzel
(1977), Leirbukt (1981), Leiss (1992), Litvinov / Nedjalkov (1988; 1998) aufmerksam gemacht . Interessant ist die Beobachtung von Abraham (1995: 287),
dass das Wienerische im Nebensatz durch die Wortfolge die beiden Lesarten
disambiguiert:
9
„Wir nennen alle Folgerungen, die aus Bedeutungen gezogen werden können, Implikaturen . Wenn wir von Implikation im Sinne von strenger und invarianter Implikation sprechen,
charakterisieren wir das gegebenenfalls gesondert durch den Zusatz strikte Implikation.
[…] aus Implikaturen, strikte Implikationen eingeschlossen, können Bedeutungen bzw . Bedeutungsvarianten werden“ (Welke 2005: 86) .
10 Die passivische Lesart hängt mit den Merkmalen des Verbs (der Verbalphrase) zusammen
und wird durch sie begünstigt: Folgende Merkmale sind dafür ausschlaggebend: +transitiv,
+transformativ, +telisch (vgl . dazu Zifonun u . a . 1997) .
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart…
(8) a . … daß wir die Flüchtlinge versteckt hatten
b . … daß wir Flüchtlinge haben versteckt
65
(Zustandslesart, temporale Lesart)
(temporale Lesart)
Diese Regel gilt nach Abraham (S . 305) auch für das Englische:
(9)
a . that we had hidden fugitives in our house (temporale Lesart)
b . that we had fugitives hidden in our house (Zustandslesart)
In diesem Zusammenhang ist die Verbindung Mv + Inf . Perf . zu analysieren, denn
neben der epistemischen Lesart, die für diese Konstellation typisch ist (vgl . 5 .2),
gibt es die deontische . Für die letztere gilt, dass das Partizip von transitiven, terminativen Verben abgeleitet wird, so dass neben der temporalen die prädikative
Lesart (d .h . haben als Vollverb) möglich ist:
(10)
(11)
(12)
a . Bis morgen muss er den Wagen repariert haben .
b. Do jutra musi mieć naprawiony samochód.
a . Sie will das Kleid gewaschen haben .
b . Chce mieć sukienkę upraną.
a . Wer studieren will, muss das Abitur bestanden haben .
b. Kto chce studiować musi mieć zdaną maturę.
Nedjalkov / Litvinov (1988: 38 ff .) verwenden für die haben-ZF den Ausdruck
das possessive Resultativ und unterscheiden das poss . Resultativ, das mit dem
Perfekt zusammenfällt und das mit dem Perfekt nicht zusammenfallende als zwei
Varianten .
4 .2 Perfekt, Doppelperfekt (DPK), Doppelplusquamperfekt (DPQ)
Auch bei den zukunftsbezogenen Perfektformen oder dem eher seltenen Futur II ist
die Zustandslesart möglich, zumal die semantische Selektion an „terminative oder
zumindest terminativ verwendbare Verben“ (Kotin 2003: 219) gebunden ist:
(13)
a . In ein paar Tagen haben wir die Wohnung eingerichtet . (Perfekt, ZF/Präsens)
b . In ein paar Tagen werden wir die Wohnung eingerichtet haben . (Futur II, ZF/Fut . I)
c . In ein paar Tagen ist die Wohnung eingerichtet . (ZP)
d . Za kilka dni będziemy mieli mieszkanie urządzone. ( imperf. Futur mieć-ZF)
e . Za kilka dni mamy mieszkanie urządzone (Präsens mieć-ZF)
f. Za kilka dni urządzimy mieszkanie. (perf. Futur).
g . ?Za kilka dni będziemy urządzać mieszkanie. (imp. Futur)
h. Za kilka dni mieszkanie jest urządzone. (ZP)
Diese zustandsbezogene Deutung hängt m .E . mit den Eigenschaften der hier in
Frage kommenden Verben (vgl . Anm . 10) und den den Grenzpunkt markierenden
Andrzej Kątny
66
obligatorischen Adverbialien zusammen . Diese zustandsbezogene Lesart scheint
primär zu sein, so dass die temporale dann von dieser abgeleitet wäre . Der Satz
(13g) wurde als fraglich markiert, da er zwar richtig ist, aber nicht als Äquivalent
zu (13a) gelten kann, denn er hat eine progressive Bedeutung:
(13)
g’ In ein paar Tagen werden wir am einrichten (der Wohnung) sein .
Wie der Analyse zu entnehmen ist, treten in der mieć-Zustandsform transitive,
perfektive Verben auf . Falls das Subjekt der polnischen ZF mit mieć als Agens
gedeutet wird, können im Deutschen Sätze im Perfekt (Resultatsperfekt) als äquivalente Entsprechungen gelten11 .
Als weitere Entsprechungen (auch wenn sie im Deutschen selten, aber mit
steigender Tendenz, sind) gelten doppelte Perfektbildungen (vgl . Litvinov
1988; Litvinov / Radčenko 1998; Rödel 2007, Hennig 2000). Den DPF werden verschiedene Funktionen zugeschrieben: – Vor(vor)vergangenheit (oft
als Ersatz des Plusquamperfekts z .T . im Zusammenhang mit dem oberdeutschen Präteritumschwund); – Bezeichnung eines resultativen Zustandes in
der Vorzeitigkeit (haben-ZF); – einfache Vergangenheit im Mündlichen (vgl .
Hennig 2000: 91 ff .) . Mit Hilfe des DPK sind wir imstande, die Zustandsformen öfter zu bilden oder als solche deutlich zu markieren, wodurch die
aspektuelle Abgeschlossenheit der dem Zustand vorausgehenden Handlung
unterstrichen wird . Ich schließe mich der Schlussfolgerung von Rödel (2007:
152) an:
„Typische Effekte, die der Einsatz doppelter Perfektbildungen nach sich zieht, sind die Verschiebung des semantischen Fokus auf die Betonung der Außenperspektive der Verbalsituation
[…], die Semantik der schnellen Vollendung […] und die Kodierung von Ereignisabfolgen .“
Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist die Feststellung von Wells
(1990: 264):
„Die überkomponierten Formen vom Typ ich habe gegessen gehabt sind im sechzenten
Jahrhundert gut bezeugt und verwenden die Part. Perf. gehabt und gewesen (und Dialektformen von diesen – gesy, gewest, gehott, etc .) als Aspektpartikel, die einen stärkeren Grad von
Abgeschlossenheit angaben .“
Einige Beispiele mögen zeigen, dass hier die Zustandsdeutung (Perfekt des Resultativs) als plausibel erscheint:
11 „Bei den haben + Partizip II-Formen müssen zwei Varianten unterschieden werden: nonadditives (terminatives) und additives (duratives) Perfekt . Dem Perfekt additiver Verben
fehlt die Nachphase . [ . . .] nur beim perfektiven (nonadditiven) Perfekt ist es überhaupt
möglich, zwischen einem Vorzustand und einem Nachfolgezustand zu unterscheiden .”
(Leiss 1992: 275) .
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart…
67
(14) a . Ich habe mit elf Jahren sämtliche Romane von Felix Dahn gelesen gehabt . Das hatte
damals großen ideologischen Einfluß auf mich. (Litvinov / Nedjalkov 1988: 131)12
b . W wieku jedenastu lat miałem przeczytane [auch Plusqampf.: przeczytałem był]
wszystkie powieści Feliksa Dahna. Miało to wtedy na mnie wielki wpływ ideologiczny.
(15) a . … kam meine Muter in die Kaserne, um mich zu besuchen, aber sie mußte über
eine Stunde warten . Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt und mußte deshalb in der freien Zeit zur Strafe Latrinen scheuern . (Litvinov/
Radčenko 1998: 129)
b. … matka moja przyszła do koszar, by mnie odwiedzić, ale musiała ponad godzinę
czekać. Plecak miałem spakowany niezgodnie z przepisami i musiałem dlatego za
karę w wolnym czasie szorować latryny. (mieć-ZF, Prät .)
Die Übersetzung ins Polnische mit dem Präteritum der ZF erfasst die Bedeutung
der deutschen Zustandsform adäquat . Die Verwendung des archaisch wirkenden
Plusquamperfekts ist nur beschränkt möglich (z .B . in 14b) und kaum akzeptabel .
Die Verwendung des Zustandspassivs13 dagegen hat in diesem Fall den gleichen
Effekt wie bei der mieć-ZF: plecak był spakowany (‘der Tornister war gepackt’) .
4 .3 Zustandspassiv (ZP)
Die Analyse der Belege hat ergeben, dass die haben- und mieć-ZF ins Zustandspassiv umformbar ist, aber nicht umgekehrt (vgl . auch Hole 2002: 175) . Manche
deutschen Sätze im Zustandspassiv können auch mit der mieć-ZF wiedergegeben
werden .
(16) a . Ich hatte meinen Tornister nicht vorschriftsmäßig gepackt gehabt.
b . Mein Tornister war nicht vorschriftsmäßig gepackt gewesen .
(17) a . Das (mein) Hemd ist gebügelt .
b. Koszulę mam uprasowaną.
(18) a. Ich habe mir den Fuß verstaucht
→ Mein Fuß ist verstaucht.
b. Zwichnąłem sobie nogę
→ Mam nogę zwichniętą.
Mit der Verbindung sein + Partizip II kann sowohl das Zustandspassiv als
auch das Zustandsreflexiv vorliegen. Diese Äquivalente werden besonders
dann bevorzugt, wenn die Akkusativergänzung einen Körperteil [+Hum, Pars]
bezeichnet .
12 Dieser Beispielsatz erscheint unter der vielsagenden Überschrift „Grenze einer Situation“
oder „Grenze eines Ereignisses“ .
13 Zu beiden Formen des Zustandspassiv können nur drei (imperfektive) Tempora gebildet
werden: Präsens jest/mam napisane, imperfektives Präteritum było/mam napisane und imperfektives Futur będzie/będę miał napisane; dies hängt mit dem imperfektiven Aspekt des
Kopulaverbs (Hilfsverbs) zusammen.
68
Andrzej Kątny
5. Zu den Mv des Deutschen in epistemischer Lesart aus kontrastiver Sicht
In epistemischer Verwendung „bringt [das Modalverb] eine vom Sprecher ausgehende Einschätzung der Faktizität des gesamten dargestellten Sachverhalts zum
Ausdruck . Aufgrund dieser Rückbindung an die Sprecherorigo sind epistemisch
verwendete Modalverben schwache Deiktika“ (Diewald 1993: 221) . „Das Ziel der
modalen – oder spezifischer der epistemischen – Relation ist nicht der Vollzug der
Verbalrelation, sondern die Zuweisbarkeit eines Faktizitätswertes vom Sprecher
aus“ (Diewald 1993: 231) . Die epistemische und deontische Deutung der Mv ist
durch mehrere Faktoren bedingt . Man kann sich folgender Meinung von Brünner /
Redder (1983: 52 ff .) und Leirbukt (1988) anschließen: „Bei der Weichenstellung
für die jeweilige MV-Deutung [wirken] im konkreten Kommunikationsakt mehrere sprachlich greifbare Faktoren und pragmatische Gegebenheiten zusammen“
(Leirbukt 1988: 180) . Zu diesen die jeweilige Deutung des Mv determinierenden
Faktoren gehören u .a .:
• Die Aktionsart des Hauptverbs (telisch, [grenzbezogen] atelisch [ngbz .])
• Die Zeitreferenz
• Textsorte/Diskurstyp; Satztyp
• Die semantische Charakteristik des Subjekts
• die grammatische Person des Subjekts
• Weltwissen
Im Folgenden bespreche ich skizzenhaft einige der erwähnten und in der Fachliteratur diskutierten Merkmale und Faktoren . Insbesondere wende ich mich der
aktionalen Charakteristik des Hauptverbs und der Zeitreferenz zu, indem ich die
Auffassungen einiger Verfasser beleuchte und durch kontrastive Belege deren
Reichweite und Richtigkeit überprüfe .
5 .1 Aktionale Charakteristik des Hauptverbs (Inf . I)
Auf die Rolle der aktionalen Markierung des Hauptverbs wurde in der Literatur (z .B . Coates 1983: 44, 244 f ., Saltveit 1979) schon mehrmals hingewiesen .
Konsequent wird dieses Problem von Abraham (vgl . z .B . 1991, 1995, 2009) in
einer Reihe von Beiträgen erörtert und vertieft . Interessant sind die Beobachtungen von Saltveit (1979), der die Relevanz der Zeitstufe (Gleich-, Nachzeitigkeit)
und der Aktionsart (durativ, perfektiv-punktuell) hervorhebt, d .h ., die Merkmale
[+ gleichzeitig + durativ]14 wären für die epistemische (bei Saltveit inferential)
14 Mit Saltveits Thesen setzt sich Leirbukt (1988: 176) auseinander; er führt ein Beispiel mit
durativem Verb und Nachzeitigkeit an: Jeden Augenblick kann mir ein feindlicher Schuß
in den Rippen sitzen. Die Deutung der Infinitivgruppe als ‘nachzeitig’ (trotz des durativem
Verbs) erweckt keinem Zweifel, dagegen die Auslegung der Lesart des Mv als epistemisch
ist m .E . voreilig: die Modalverkonstruktion ist als alethisch (objektive Möglichkeit) zu
bestimmen .
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart…
69
und die Merkmale [+ nachzeitig + perfektiv] für die deontische (nicht-inferentiale) Lesart ausschlaggebend . Im Laufe der Analyse verzichtet der Verfasser auf
die Merkmale aus dem Bereich der Aktionsarten und plädiert für allgemeinere
Kategorien [+statisch, +dynamisch], die eher der Verbalphrase zukommen .
Die epistemischen Mv erscheinen vorwiegend bei Hauptverben mit stativer Semantik und / oder in progressiven Konstruktionen (vgl . Heine 1995: 48; Abraham
1995) . Typische Beispiele für diese Erscheinung sind Sätze im Zustandpassiv oder
solche mit sein / być (Stativ), z .B .
(19) a . Er muss krank, böse, erkältet, reich sein .
b. Musi być chory, zły, zaziębiony, bogaty.
(20) a . Sie soll schlank und groß sein .
b. Ma być szczupła i wysoka.
Aber:
(21) […] morgen früh um sechs muß ich schon wieder in der Kaserne sein . (Fagan 1996: 24)
Dass das Mv deontisch zu deuten ist, unterliegt keinem Zweifel . Fagan schreibt
der sein-Phrase nicht-stative Verwendung zu . Meiner Meinung nach lässt sich die
deontische Bedeutung durch die Zukunftsreferenz (morgen früh um sechs) eindeutig erklären .
Nach Abraham (1995: 470) lassen die terminativen Verben im Präsens keine
epistemische Deutung zu . Man kann jedoch auch Beispiele anführen, die sowohl
deontisch als auch epistemisch (deiktisch) deutbar sind (d .h . die Phrase ist ambig:
terminativ und aterminativ)15:
(22) a . Das Kind muss das Märchen lesen/die Aufgaben lösen . (DM, Zukunftsreferenz)
b. Dziecko musi przeczytać (perf.) bajkę/rozwiązać (perf.) zadania.
(23) a . Sie muß den Abwasch machen [DM] (Diewald 1993: 230)
b. Musi zmyć/pozmywać (perf.) naczynia.
„Die gute Verträglichkeit mit terminativen Hauptverben im Infinitiv I […] ist darauf zurückzuführen, dass diese zu futurischen Konnotationen neigen, was hier als
‘Noch-nicht-Faktizität’ relevant wird“ (Diewald 1993: 230) .
Die epistemische Lesart ist bei der durativen oder iterativen Deutung des Verbs
möglich . Die Faktizitätsbewertung wird dabei in Bezug auf Sachverhalte vorgenommen, „die potentiell bereits im Vollzug sind oder waren“ (Diewald 1993: 231):
15 Dies hängt im Allgemeinen damit zusammen, dass man im Deutschen drei Aktionsartklassen
(wobei die Grenzen fließend sind) unterscheiden kann: inhärent perfektive, imperfektive
und neutrale Verben bzw . Verbalphrasen (vgl . u . a . Andersson 1978, Thierofff 1992) .
70
Andrzej Kątny
(22) c . Das Kind muss das Märchen lesen/die Aufgaben lösen . (EM, Gleichzeitigkeit)
d. Dziecko musi czytać (imp.) bajkę/ rozwiązywać (imp.) zadania.
(23) c . Sie muß den Abwasch machen (- dem Lärm nach) (Diewald)
d. Musi zmywać (imp.) naczynia .
In den polnischen Übersetzungsäquivalenten steht das Verb im imperfektiven
Aspekt . Die Sätze (22c und 23c) würden eine eindeutige (mit einer eher für
die gesprochene Sprache, z .T . regionalen Progressiv-Konstruktion) Bedeutung
gewinnen:
(24) e . Das Kind muss am Märchen-Lesen sein .
f . Sie muss am abwaschen sein .
Diskussionswürdig ist der von Leirbukt (1988: 173) angeführte Satz, der als Gegenbeispiel für die von Sherebkov (1967) postulierte Präferenz (duratives Verb →
subjektive Lesart) gelten sollte:
(25) a . Christa muß das Bett hüten (Aussage über den in Bett liegenden Subjektreferenten,
Verweis auf einen äußeren Zwang)
Die von Leirbukt in Klammern angeführte Erklärung macht deutlich, dass der Satz
eine objektive (aber nicht deontische, sondern alethische16) Deutung hat . Also:
(25) b . Es ist notwendig, dass Christa das Bett hütet .
5 .2 Zeitreferenz
Eine der charakteristischen Konstruktionen des Deutschen, die meist epistemisch
gedeutet werden, ist die Verbindung Mv + Inf. II17 . Für sie bestehen keine Beschränkungen hinsichtlich der Subjekteigenschaften und der aktionalen Charakteristik des Hauptverbs:
(26) a Er muss ihn bemerkt/verletzt/betrügt/getroffen haben .
b. Musiał (Prät.) go zauważyć/zranić/oszukać/spotkać. (perf.)
Da das Polnische nicht über einen Inf . II verfügt, muss dessen temporale Funktion
von der finiten Form des Verbs (Präteritum) übernommen werden. Beim Infinitiv
handelt es sich um den perfektiven Aspekt (einmalige, vollzogene Handlung) .
16 Vgl . dazu Lyons (1983: 387 ff .) .
17 In deontischer Deutung ist diese Konstruktion ziemlich selten (im Prinzip bei der Zukunftsreferenz, Vorzeitigkeit) anzutreffen (vgl . 4 .1) .
Zu Resultativ und Modalverben in epistemischer Lesart…
71
Imperfektive Verben indessen treten im Polnischen vorwiegend als Entsprechungen deutscher Durativa auf (eine Subklasse der Durativa sind im Polnischen die
Imperfektiva tantum)
(27) a . Sie soll lange gearbeitet/geübt/gewartet haben .
b. Miała długo pracować/ćwiczyć/czekać. (imp.)
Bei resultativen, telischen Verben bezeichnet der Inf . II die Abgeschlossenheit
der Handlung (im aspektualen Sinne):
(28) a . Sie können/sollen den Wagen schon repariert/abgeschleppt haben .
b. Mogli/mieli (Prät.) już naprawić/odholować (perf.) samochód.
c. Mogą/ *mają18 (Präs.) już mieć samochód naprawiony/odholowany (PPP).
c1. Podobno mają (Präs.) już samochód naprawiony (PPP).
Bei telischen und transitiven Verben kann man den Inf . II mit mieć-ZF wiedergeben, wobei das Mv im Präsens steht. „Der Infinitiv Perfekt bringt einen resultativen Zustand zum Ausdruck: er repräsentiert einen Zustand, der das Ergebnis
einer vorhergehenden, abgeschlossenen Handlung (bzw . eines solchen Vorgangs)
ist . Die resultative Komponente ergibt sich durch das Partizip II, die stative, innenperspektivierende Komponente durch das Auxiliar sein oder haben, so dass
das dominierende Merkmal der Gesamtkonstruktion die Stativität ist“ (Diewald
1999: 262). Mit dieser Deutung der Funktion des Infinitiv Perf. bin ich nicht ganz
einverstanden, denn der Inf . II hat das Merkmal abgeschlossen nur bei telischen
Verben, das Merkmal vergangen dagegen bei atelischen Verben (vgl. Kątny 1999:
638; Engel 2004: 227)19 .
Die Zeitreferenz muss im Prinzip zusammen mit der aktionalen Charakteristik
des Hauptverbs (auch des Hilfsverbs oder der Kopula) betrachtet werden, was die
analysierten Beispiele zeigten .
Die epistemische Lesart tritt bei Gleichzeitigkeit (aktuelle Vermutung) und Vorzeitigkeit (Anterior) der Infinitivgruppe ein20, bei Zukunftsbezug des Mv entsteht
keine epistemische Lesart . Also kann der Satz
(29) a . Der Zug muss gleich kommen .
im Sinne der alethischen und / oder der buletischen (präferentiellen) Modalität
gedeutet werden .
18 Da mieć (‘sollen’) als Mv und als Kopula (mieć ‘haben’) in einem Satz kaum akzeptabel
sind, muss man das Mv durch die quotative Partikel podobno ersetzen (c1) .
19 Auf diese Abhängigkeit hat schon früher Andersson (1978: 95 ff .) aufmerksam gemacht;
diese prägnante Regel hat nur einen orientierenden Charakter – die endgültige Deutung ist
jeweils auf der Textebene vorzunehmen .
20 Von der erlebten Rede (mit Mv im Präteritum) sehe ich hier ab .
Andrzej Kątny
72
5 .3 Weitere Faktoren im Abriss
Die Person des Subjekts kann die Disambiguierung erleichtern, denn die 3 . Person ist für die epistemische Deutung charakteristisch, während das Pronomen man
nur die deontische Lersart zulässt . Die 1 . und die 2 . Person legen ebenfalls eher
die deontische Deutung nahe (vgl . dazu Harden 1998; Heine 1995: 25 ff .) .
(30) a. Du musst fleißig, tapfer, klug sein (DM)
b. Er muss fleißig, tapfer, klug sein (EM)
Textsorte, Diskurstyp
In Gesetzes- und Fachtexten kommen fast ausschließlich Mv in deontischer Verwendung vor . Die Untersuchung von Brünner / Redder (1983) hat z .B . ergeben,
dass Mv vor allem mit Handlungsverben in Verbindung treten (etwa 70%) . Die
empirische Basis bildeten Transkripte gesprochener Sprache (Beratungen, Spielerklärungen, Einweisungen, Kooperationen) .
Meine stellenweise nur skizzenhaften Ausführungen dürften gezeigt haben,
dass die Deutung der Lesart von mehreren Faktoren abhängig ist: Der Rezipient
ist oft auf den weiteren Kontext angewiesen und kann aus ihm intuitiv Informationen über den Texttyp, die handelnden Personen, soziale Abhängigkeit gewinnen und diese dann auf die sprachliche Struktur des Satzes mit dem Mv abbilden .
In diesem Sinne schließe ich mich der Meinung von Leirbukt (1988: 181) an:
„Insgesamt gesehen ist es also notwendig, bei der Klärung der Frage, durch welche Faktoren
die MV-Deutung jeweils bedingt ist, system- und pragmalinguistische Gesichtspunkte miteinander zu verbinden .“
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Revised version
Sigbjørn L. Berge
Dept. of Modern Languages and Translation, University of Agder, Kristiansand, Norway
Modal interpretations of the preterite tense
in English and Norwegian1
I.
Introduction
I.1
The issue
The grammatical systems of English and Norwegian are similar and even parallel in many respects, but in the verb systems there are some notable differences,
especially in the areas of aspect and modality. In addition we find a few less
striking differences in the area of tense and tense usage (in a narrow sense of
the term ‘tense’). This paper will focus on certain uses of the preterite tense2 in
the two languages.
In addition to the basic temporal use of the preterite tense there is a
‘modal past’ / ‘attitudinal past’3 use in English as well as in Norwegian,
exemplified by 1 and 2 respectively (raised E for English and N for Norwegian
parallel sentences):
The basic temporal use signalling past time event:
1E
1N
I knew that you had a couple of minutes to spare.
Jeg visste at du hadde et par minutter å avse.
Non-temporal use for reference to future or present / non-past time event:
2E
I wondered if you had a couple of minutes to spare.
1 I would like to express my thanks to the following people for ideas and help in connection
with this paper: Werner Abraham, Robert Amundsen, Dagmar Haumann, Michail Kotin, Ole
Letnes, Marjorie Lorvik, Anne Karin Ro and Peter Trudgill.
2 The term ‘preterite tense’ is preferred here to the alternative ‘past tense’, which is used in a
narrow and a wider sense in the literature. In Huddleston & Pullum (2002: ch. 3) ‘preterite’ is
used for the inflected forms with -ed as the default marker whereas ‘past tense’ is used in a
wider sense covering the preterite and the perfective forms (: auxiliary HAVE + past participle). In this paper the perfective forms are regarded as a matter of aspect (as in Quirk et al.
1985: 188-197, Leech 2004, and others). Perfective aspect is a non-deictic category encoding
retrospective view of the event in relation to a point of orientation set by means of tense.
Tense, in the narrow sense, is a deictic category capable of expressing temporal location in
relation to the moment of utterance as either before or not before the deictic zero (as in Lyons
1977: ch.15.4, Quirk et al., and others). By implication both are expressions of anterior time.
3 Terminology varies – Quirk et al. (ibid: 188) refer to the use of the preterite seen in
sentence 2E as the ‘attitudinal past’. We will refer to this as the modal use / interpretation of
preterite verb forms.
2N
Jeg lurte på om du hadde et par minutter å avse.
In contexts where sentences 2E and 2N are intended as requests (as opposed to
statements about my wondering about this at some point in the past), the
preterite verb forms are not used to convey information about a situation in the
past, but in present or future time. They can therefore be replaced by present
tense forms without any essential change of meaning, i.e.:
3E
3N
I wonder if you have a couple of minutes to spare.
Jeg lurer på om du har et par minutter å avse.
In choosing 2 rather than 3 to make a request, the speaker brings in an element
of tact and respect which is not there in 3. The present tense alternative in 3
sounds somewhat less polite in English as in Norwegian. The communicative
significance of the preterite vs. present tense in cases like 2 and 3 is relatively
similar in the two languages, with preterite forms contributing a modalizing
element of tact and polite distance. There may be differences of pragmatic
preference in this area of usage, though – the preterite for polite distance may
well be a more frequent choice by native speakers of English than speakers of
Norwegian. We will have to leave this empirical question undecided, however,
and simply make the point that preterite verb forms have the semantic potential
of application to non-past time in English as in Norwegian in much the same
contexts and constructions.
In conditional sentences the same polite distance effect may be the main
motivation for preterite tense selection, as in 4 vs. 5:
4E
4N
5E
5N
If you paid (could / would pay) in cash, we might be able to offer you a 5% discount.
Hvis du betalte (kunne / ville betale) kontant, så kunne vi kanskje tilby deg 5 %
avslag.
If you pay (can / will pay) in cash, we may be able to offer you a 5% discount.
Hvis du betaler (kan / vil betale) kontant, så kan vi kanskje tilby deg 5 % avslag.
In other cases the motivation for preterite tense selection is to introduce an
element of greater uncertainty with respect to the situation described, e.g.:
6E
6N
7E
7N
What would you do if you won the first prize?
Hva ville du gjøre hvis du vant førstepremien?
What will you do if you win the first prize?
Hva vil du gjøre hvis du vinner førstepremien?
The preterite tense selection in 6 signals that the speaker regards the winning as
less likely, as a more remote possibility at the moment of utterance, in comparison with the present tense, in English as in Norwegian. The remoteness
expressed is of a non-temporal kind, applied to the status of the situation
described and its likelihood of becoming a reality in future time. It is the familiar irrealis / unreal / hypothetical / remote / subjunctive type of conditional in 6
vs. the realis / real / indicative type in 7. This is based on the speaker’s
perception and calculation of likelihood and the probability that the situation
will or will not occur at some point in the future. The preterite is not used for
past time reference here, but for the expression of non-temporal remoteness.
For reference to a situation in the past, the perfective form is required, as in 8:
8E
8N
What would you have done if you had won the first prize?
Hva ville du ha gjort hvis du hadde vunnet førstepremien?
I.2
The preterite tense
We are going to be working on the assumption that the preterite tense is
basically a temporal category which is used to express remoteness and anterior
time. The paradigmatic opposite, the present tense, is used to express temporal
non-remoteness, or perhaps simply neutrality, in relation to a moment of orientation, typically the deictic zero in independent sentences. An alternative view
will be to regard simple remoteness as the basic component of meaning with the
temporal element added for past time reference, or with the modal element
added for non-past modal meaning. This latter view is not adopted here. It will
appear below that in a cross-linguistic synchronic perspective the definition of
the preterite tense as basically a semantic category of time makes good sense.
Also, this makes sense diachronically. As pointed out by Fleischman (1989) the
modal use of the preterite is a later development than the temporal one.
According to Fischer and van der Wurff (2006: 131) the preterite tense with
modal meaning is a new development in Middle English. It is a challenge,
though, to make explicit how the temporal and the modal use are related,
grammatically and semantically. We will deal with this issue here and in
section IV, where a representation is proposed deriving the modal sense from
the basic temporal one.
The basic temporal meaning of the preterite may be summarized as
“remote from and anterior to the deictic zero” - alternatively: {[+remote &
+temporal, +anterior] with respect to: Speaker’s 0}, as in 1 above. In sentences
like 2, on the other hand, it seems that the temporal specification [+temporal,
+anterior] is cancelled whilst the feature [+remote] remains. The meaning of
remoteness is generalized and is allowed to be shifted from temporal space to
interpersonal space – that is, a distance between the speaker and the addressee
is established if the preterite is selected instead of the present tense. In sentences 6 and 8 above the remoteness does not apply to interpersonal space, but to
the speaker’s relative remoteness from the situation described as an actual state
of affairs – that is, the irrealis hypothetical meaning. The basic temporal
meaning of the preterite tense seems to undergo simplification in these cases
and is dissociated from its application to past time so that only “remote from the
deictic zero” remains. It can be shown as follows:
{[+remote & +temporal, +anterior] with respect to: Speaker’s 0}
{[+remote] with respect to: Speaker’s 0}
Alternatively, the optionality of the temporal feature can be shown by
bracketing it:
{[+remote & (+temporal, +anterior)] with respect to: Speaker’s 0}
The generalized non-temporal remoteness meaning {[+remote] with respect to:
Speaker’s 0} is a case of semantic widening. It makes it possible for the speaker
to establish some kind of non-temporal distance by using the preterite stripped
of its temporal element of meaning. We may describe the similarity between
English and Norwegian as a matter of semantic widening of the basic temporal
remoteness sense. In semantic widening the restrictive modifier ‘temporal’ is
lost, and the preterite is understood as an expression of remoteness of a more
general sort – especially in interpersonal space for the politeness effect or in
existential/cognitive space with respect to the status of a situation as a reality or
not. This kind of general remoteness has to be applied to some axis in deictic
space other than the temporal one – it is understood as expressing some kind of
non-temporal remoteness. It may be applied to people (the interpersonal axis) or
to the representation of situations as actual and factual vs. non-actual and nonfactual at the time of utterance (the cognitive axis)4. If interpreted in this
widened sense, preterite verb forms can readily be perceived as gestures of nonaggression and diplomatic distance in interpersonal space5. The present tense
alternative, on the other hand, can be perceived as signalling the opposite,
approaching the other in a less polite and perhaps even a menacing way. This
interpretation of the preterite vs. present tense as communicative signals applied
to temporal or non-temporal space rests on the assumption that the temporal
element of anteriority is a cancellable feature in the semantics of the preterite,
in English as in Norwegian. In contexts where the temporal element of anteriority is cancelled, we are left with a general meaning of remoteness to be
specified pragmatically. This general similarity between the two languages can
be captured in the following representation, which shows anteriority as a
cancellable semantic feature:
4 The distinction ’interpersonal axis’ vs. ‘cognitive axis’ is intended to be the main division in
non-temporal space. The labels themselves are not essential, the point being that interpersonal
distance and existential/cognitive distance are cases of and that the expression of nontemporal remoteness is incompatible with the expression of temporal remoteness by one and
the same finite verb form.
5 There are of course a number of grammatical and lexical devices available for signalling
politeness, such as the progressive form and the addition of more modal auxiliaries, e.g.: I was
wondering if you might have a couple of minutes to spare. For the polite progressive, cf.
Leech (2004: 29 – 30). In addition, tags and lexical phrases of various sorts are available as
signals of tact and respect, but these will not be of any direct relevance for our purpose.
Grammatical form: [Tense: preterite]
Meaning: {[+remote, (+temporal, +anterior)] with respect to: Speaker’s 0}
Even though English and Norwegian are basically similar in that they both
allow preterite verb forms to be used with non-past meaning for the expression
of non-temporal remoteness, there are certain differences in usage which we
will turn to next. These may at first glance appear somewhat puzzling and without an obvious motivation, as both languages have parallel formal resources in
this area, namely preterite tense, perfective aspect and cognate modal verbs.
II.
Observations
II.1 Preterite perfective structures
If we consider a sentence fragment like the following, we find that it is possible
to construct sentences around this fragment with either temporal or modal
meaning in Norwegian, but with only temporal meaning in English:
N
E
… hadde (...) betalt …
… had (...) paid …
(: Preterite tense & perfective element)
(: Preterite tense & perfective element)
In 9N the preterite tense is understood in a temporal and factual sense, describing a real event located in time anterior to a past moment of orientation.
9N
Da hadde jeg allerede betalt boten.
In the following case, on the other hand, the same form is interpreted
differently:
10N
Da / I så fall hadde jeg naturligvis betalt boten (hvis jeg hadde visst det).
In 10N the same verb element does not have the typical pluperfect meaning of
past-in-the-past, as in 9N. Rather, it is used for hypothetical meaning to describe
an unreal event in the past. The past tense is used in its modal, non-temporal
remoteness sense, and the perfective element brings in the meaning of anterior
time. On this interpretation the addition of the modal ville is possible with the
same meaning as 10N (indicated here by means of a raised + to mean ‘plus
auxiliary’):
10N+ Da / I så fall ville jeg naturligvis ha betalt boten (hvis jeg hadde visst det).
A further possibility in this case is omission of the perfective auxiliary ha, i.e.:
10’N+ Da / I så fall ville jeg naturligvis betalt boten (hvis jeg hadde visst det).
In English the preterite perfective form can be interpreted in the temporal
meaning of past-in-the-past only:
9E
10E
Then I had already paid the fine. (Eng = Norw)
*Then / In that case I had of course paid the fine (if I had known that). (Eng
Norw)
For the modal counterfactual interpretation in English a modal auxiliary has to
be introduced:
10E+ Then / In that case I would of course have paid the fine (if I had known that).
(i.e. + modal auxiliary preterite tense would & perfective element)
As we have seen already, this is also a possible expansion in Norwegian, but it
is not obligatory as in English. This observation is part of a wider pattern. The
following examples illustrate the same difference, namely obligatory modal
selection in English vs. optional selection in Norwegian for the hypothetical
conditional sense. 11N and 11E are examples of the basic temporal sense of the
preterite, where a past time moment of orientation is established in relation to
which the event is located in anterior time by means of the perfective element.
11N
11E
Vi hadde ikke tenkt på den muligheten før du nevnte den.
We hadn’t thought of that possibility until you mentioned it.
Again, in Norwegian this verb structure can also be used in the modal counterfactual sense, especially in hypothetical conditional constructions, as in 12N:
12N Vi hadde ikke tenkt på den muligheten hvis du ikke hadde nevnt den.
And again, the parallel structure will not be accepted in English:
12E
*We hadn’t thought of that possibility if you hadn’t mentioned it.
The modal auxiliary would is required for this shift of interpretation:
12E+ We wouldn’t have thought of that possibility if you hadn’t mentioned it.
This structure is again a possible variant in Norwegian:
12N+ Vi ville ikke ha tenkt på den muligheten hvis du ikke hadde nevnt den.
We may take a glance back at sentences 8 above and we find the same difference of grammatical potential: in Norwegian the preterite perfective form is
available as an alternative, but not in English (raised – to mean ‘minus auxiliary’):
8N
8N -
Hva ville du ha gjort hvis du hadde vunnet førstepremien?
Hva hadde du gjort hvis du hadde vunnet førstepremien?
8E
8E -
What would you have done if you had won the first prize?
*What had you done if you had won the first prize?
It seems to be a general observation that preterite perfective structures are
semantically more restricted in English than in Norwegian as they can only be
used in the temporal sense of the preterite. This difference can be summarized
as follows:
Norwegian:
Grammatical form: [Preterite tense + perfective element + verb]
Sense a:
Temporal factual sense
(actual occurrence in the past)
Sense b:
Modal counterfactual sense
(non-occurrence in the past)
English:
Grammatical form: [Preterite tense + perfective element + verb]
Sense a:
Temporal factual sense
(actual occurrence in the past)
Sense b:
Not available
The general difference between the two languages in this area can be formulated in various ways, but one essential generalization has to do with the fact
that in English a modal auxiliary is an obligatory selection for the hypothetical
meaning of conditionals whereas in Norwegian it is an optional one. The obligatory nature of modal auxiliary selection in English in cases like the ones
above can be regarded as manifestation of grammaticalization in the area of
modality and hypothetical meaning. In Norwegian the optionality of the parallel
selection suggests that the corresponding modals are not grammaticalized, or at
least not grammaticalized to the same extent as in English. This difference is
particularly noticeable in preterite perfective structures, as illustrated above, but
it can be shown to apply more generally. We will take a brief glance at preterite
non-perfective structures for some further documentation.
II.2 Preterite non-perfective structures
There are some well-known English constructions where the modal interpretation of the preterite is the only one available, namely in complement
clauses after certain fixed expressions, especially wish, would rather, it is high
time, e.g.:
13E
14E
15E
I wish I knew the answer.
I would rather they paid now.
It is high time you did something about this.
These are all examples of the modal use of the preterite tense with non-past
time application. For past time meaning the perfective element has to be
introduced:
16E
I wish I had known the answer then.
Norwegian seems to be parallel at least in some of these cases, especially 13:
13N
16N
Jeg skulle ønske jeg visste svaret.
Jeg skulle ønske jeg hadde visst svaret da.
In hypothetical conditional sentences, on the other hand, the two languages are
not always grammatically parallel, e.g.:
17N
17E
Hvis du betalte et forskudd nå, så var det å foretrekke.
*If you made an advance payment now, that was preferable.
The preterite non-perfective var in 17N seems acceptable, but the parallel form
in English 17E does not. As in the sentences in section II.1 above we find that
the preterite modal would is required in English whilst it is a possible addition
in Norwegian:
17E+ If you made an advance payment now, that would be preferable.
17N+ Hvis du betalte et forskudd nå, så ville det være å foretrekke.
We are not dealing with the selection of the modal would and ville specifically,
but rather preterite modals (in their epistemic senses). The following sentences
illustrate the introduction of another modal, which is obligatory in English but
optional in Norwegian:
18N
18E
18E+
18N+
Siden han hadde nytte av disse pillene sist, så var det kanskje en god ide å prøve dem
igjen nå.
*As he benefited from these pills last time, it was perhaps a good idea to try them
again now.
As he benefited from these pills last time, it might be a good idea to try them again
now.
Siden han hadde nytte av disse pillene sist, så kunne det være en god ide å prøve dem
igjen nå.
In 18E+ the preterite form might fulfils the requirement of a modal auxiliary in
the verb structure, where Norwegian may use kunne. Similarly, in 19N and 19E
we see that it is not only the forms ville and would that are involved, but a
preterite modal auxiliary with the intended meaning:
19N
19E
Hvor mye var du villig til å betale hvis du kunne flytte inn med en gang?
*How much were you willing to pay if you could move in right away?
19N+ Hvor mye ville / kunne du være villig til å betale hvis du kunne flytte inn med en
gang?
E+
19
How much would / could you be willing to pay if you could move in right away?
These examples provide further evidence of a more general difference between
English and Norwegian than what was shown in section II.1. The requirement
of a modal auxiliary in English applies in structures that are preterite perfective
as well as non-perfective, in other words. This requirement in English is formulated as follows in Huddleston & Pullum (2002: 199):
“In Present-day English the apodosis of a remote conditional must contain a modal
auxiliary.”
As for Norwegian we may add:
In Present-day Norwegian the apodosis of a remote conditional may contain a modal
auxiliary.
This generalization about Norwegian is definitely valid in preterite perfective
structures. It also applies to preterite non-perfective structures (cf. Faarlund et
al. 1997: 628-631 for more examples of the modal use of the simple preterite).
However, it is debatable whether this type of verb structure can be used equally
freely with modal meaning as the preterite perfective ones. For instance, if we
remove the modal in 20N, we end up with 20N-, which looks like a case of
borderline acceptability:
20N
20N20E
20E-
Hvordan ville USA reagere hvis Storbritannia trakk seg ut av dette området?
??Hvordan reagerte USA hvis Storbritannia trakk seg ut av dette området?
How would the US react if Britain pulled out of this area?
*How did the US react if Britain pulled out of this area?
The answer to the question with the modal lacking in 21N- seems even less
acceptable than 20N-:
21N
21N21E
21E-
I så fall ville USA be andre NATO-medlemmer om støtte.
???I så fall bad USA andre NATO-medlemmer om støtte.
In that case the US would request support from other NATO members.
*In that case the US requested support from other NATO members.
If the modal is removed in Norwegian, as in sentence 21N-, the result is close to
being unacceptable, and consequently Norwegian comes to resemble English in
this case. Other possibilities exist in Norwegian, namely the following:
22N I så fall ville USA ha bedt andre NATO-medlemmer om støtte.
22N- I så fall ville USA bedt andre NATO-medlemmer om støtte.
22’N- I så fall hadde USA bedt andre NATO-medlemmer om støtte.
One significant point about the perfective form variants 22N, 22N- and 22’N- is
that they all have an auxiliary (one or two) before the main verb. If the verb
structure is non-perfective, on the other hand, as in 20N and 20N-, there is only a
main verb left if the auxiliary ville is omitted. The restriction on ville-omission
in Norwegian non-perfective structures is a topic that will not be investigated
further here. It seems to hinge on the main verb lexeme, but varying in degree
of acceptability. Also, other factors may be involved, such as dialect variation.
After this brief exploration of preterite non-perfective forms the contrastive comparison should be expanded to include this type of verb structure. It can
be done by bracketing the perfective element so that the grammatical form
[Preterite tense + verb] is allowed, i.e.:
Norwegian:
Grammatical form: [Preterite tense (+ perfective element) + verb]
Sense a:
Temporal factual sense
(actual occurrence in the past)
Sense b:
Modal counterfactual sense
(non-occurrence in the past)
English:
Grammatical form: [Preterite tense (+ perfective element) + verb]
Sense a:
Temporal factual sense
(actual occurrence in the past)
Sense b:
Not available ( select modal auxiliary)
The general grammatical difference is that for sense b a modal auxiliary has to
be selected in English, but can be omitted in Norwegian. This observation leads
on to the question: why should a preterite tense modal be obligatory in certain
cases in English for counterfactual or tactful polite meaning, but optional in
Norwegian? Why is the structure without the modal auxiliary not enough for
the expression of modality in English, as it is in Norwegian? Generally
speaking, if a linguistic form has to be selected for a particular meaning or is a
forced choice in certain syntactic constructions, we regard this as a highly
grammaticalized selection. Obligatoriness is an essential characteristic of grammaticalization. The obligatory status of a modal auxiliary in English for
hypothetical conditional meaning, therefore, is not just a matter of lexical
choice – it seems to be built into the grammatical system of the language. On
the other hand, the optional status of the modal in parallel Norwegian constructions is an indication that this is not a grammaticalized selection in Norwegian – at least not to the same extent as in English. We are faced with
another question, namely how this difference of grammaticalization can be
accounted for and represented. This is what we are going to deal with next,
based on the analysis of tense and mood proposed in Berge 2005 & 2008,
where it is argued that the essential difference between the English and the
Norwegian modals is the adoption of a mood feature in English vs. no such
feature in Norwegian.
III. The English modals and mood
The fact that the modal auxiliaries have only finite forms in present-day
English, as opposed to their counterparts in Norwegian, should be accounted for
in an adequate contrastive analysis. There are reasons to believe that the
English modals are unique in having adopted a mood feature in their lexicon
representation, marking them as inherently non-indicative verbs. Finite verb
inflection in the Germanic languages involves specification of tense and mood,
in addition to subject-verb agreement, which is not relevant any more in
present-day Norwegian. For contrastive comparison the grammatical selections
involved can be summarized schematically like this:
[+present]
-
phonologically: …
[+preterite]
-
phonologically: …
Tense
[+finite]
(S-V Agreement)
[+indicative]
- phonologically: …
Mood
imperative - phonologically: …
[-indicative]
subjunctive - phonologically: …
Fig. 1: Finite verb inflection
It is suggested in Berge (ibid.) that the English modal auxiliaries are specified
in the lexicon (as lexemes) – like this:
LEXEME (MUST, SHALL, MAY, WILL, CAN & OUGHT)
Lexical features
+
.
.
Modality:
potentiality/degree of likelihood
volition/permission/obligation …
Grammatical features
Verb: [+dependent, +auxiliary]
Mood: [-indicative]
Fig. 2
Because of the feature Mood: [-indicative] it follows that:
i) the modals have no non-finite forms, only [+finite] ones;
ii) their semantic potential for past time meaning is restricted.
The modals are unique partly because of point i), and partly because of ii)6. The
well-known mismatch between preterite tense forms and past time meaning,
especially in the case of should and might, can be interpreted as evidence of the
modals’ non-indicative nature, as non-indicative verb forms in general are not
capable of past time application. This is obviously so with imperatives: they
apply to situations which are necessarily posterior in time relative to the
moment of utterance. But it is also true of subjunctives. We see this in German,
where the subjunctive mood is grammaticalized in finite verb inflection. A subjunctive verb form, such as anriefe / führe vs. indicative anrief / fuhr, cannot be
used for past time meaning, as we see from for instance the following example,
formal usage (raised G for German):
23G
23E
Wenn er jetzt / heute /*gestern anriefe, führe ich sofort dahin.
If he phoned now / today / *yesterday, I would (I’d) go there right away.
Cf. Thieroff (1994a: 4) for this general point about German:
“Whereas in the languages mentioned so far, Pasts (Preterites and Imperfects) can be
used with non-past time reference, in other languages Past forms only occur with nonpast time reference if they are combined with a non-indicative mood. This is the case
in German …”
To talk about an unreal situation in past time, we need the preterite perfective,
as in example 24:
24G
24E
Wenn er gestern angerufen hätte, wäre ich sofort dahin gefahren.
If he had phoned yesterday, I would (I’d) have gone there right away.
The non-indicative (subjunctive) forms are incompatible with past time
meaning in spite of their preterite tense. Compare also the preterite subjunctive
form were in English:
25
I wish she were7 here now / *yesterday (but she isn’t / *wasn’t).
With the past time adverb yesterday the perfective is again required:
26
I wish she had been here yesterday (but she wasn’t).
6 In addition, the modals are unique in that they consistently resist subject-verb agreement,
which is a defining grammatical property. In Berge (ibid.) it is claimed that their non-agreement follows from their status as non-indicative verbs.
7 It may be debatable whether were should be considered a preterite verb form as it is
incapable of expressing past time meaning – in Huddleston & Pullum (ibid.: 86) it is labelled
the ‘irrealis were’. One argument in favour of labelling it ‘preterite’ is the observation that it
can be replaced by the preterite form was but not by the present tense form is, i.e.: 25’ I wish
she was / *is here now (but she isn’t / *wasn’t). If the subjunctive were is a preterite it
follows that it can be replaced by another preterite form.
In other words, only if the mood is indicative is a preterite form capable of past
time application in the sense of absolute past8. Or we may formulate this as a
form - meaning combination which does not occur in English or in German:
NEG: {[Form: Tense: +preterite & Mood: -indicative] + [Meaning: Past time]}
The preterite tense form is not in itself a past time expression if the mood is
subjunctive – for past time meaning the perfective form is required in English
as well as in German. There must be something inherent in non-indicative
mood which makes it incompatible with past time. It seems that the temporal
remoteness associated with the preterite clashes with and is cancelled by the
other type of remoteness expressed by the subjunctive mood, i.e.:
NEG: {Preterite: temporal remoteness + Subjunctive mood: non-temporal remoteness}
This combination of meanings constitutes a contradiction. It has to be logically
adjusted. It seems that this adjustment involves deleting the component ‘temporal remoteness’, i.e.:
{Preterite: _________ + Subjunctive mood: non-temporal remoteness}
The more specific notion of temporal distance is cancelled by the more general
notion non-temporal remoteness. This means that there is no temporal past
meaning available for the preterite form if the mood is subjunctive, as pointed
out by Thieroff (quoted above), among others. A quick glance at some more
German examples concerning tense and mood interaction is relevant here, as
this will reveal the parallel between German subjunctive mood marking and the
obligatory selection of a modal auxiliary in English. The indicative mood
sentences 27G and 28G apply to past time real situations:
27G
28G
Als er Geld hatte, ging er ins Theater.
Wenn / Immer wenn er Geld hatte, ging er ins Theater.
(: Preterite tense, indicative mood : past time reality)
If we change the mood from indicative to subjunctive, we are forced to interpret
the sentence as describing a hypothetical situation in present or future time:
29G
Wenn er Geld hätte, ginge er ins Theater.
(: Preterite tense, subjunctive mood : non-past, present / future time unreality)
The shift of mood from 28G to 29G entails a shift of time reference as well as
factuality. For this shift of meaning in English we need a modal auxiliary in the
main clause:
8 That is, past time in relation to the deictic zero is not expressed by a subjunctive verb form alone. But past time
in relation to a non-deictic point of orientation is possible, e.g.: I wished I didn’t know his number - from
Declerck (2006): 129.
28E
29E
If / When(ever) he had money, he went to the theatre.
(: Preterite tense, no modal auxiliary: past time reality)
If he had money, he would go to the theatre.
(: Preterite tense, modal auxiliary : non-past, present / future time unreality)
For the hypothetical interpretation of 29E the main clause modal is required. If
there is no modal, as in 28E, it is not interpreted as a subjunctive conditional
about a present or future unreality, but as a statement about a past time reality9.
Granted that the English modals are inherently non-indicative verbs, the shift of
mood in German from indicative to subjunctive (from 28G to 29G) is parallel to
the shift from non-modal 28E to modal 29E. It is the obligatory nature of the
formal selections that makes the modal auxiliary in English and subjunctive
mood in German grammatically similar, as exponents of non-indicative mood.
In preterite perfective structures, as in our examples numbered 9 above,
we find the same equivalence between an English preterite modal (in the main
clause) and a German preterite subjunctive, repeated here for convenience:
9E
9G
10E
10E+
10G
Then I had already paid the fine.
(preterite non-modal perfective : past-in-the-past reality)
Dann hatte ich schon die Bu e gezahlt.
(preterite indicative perfective : past-in-the-past reality)
*Then / In that case I had of course paid the fine (if I had known that).
Then / In that case I would of course have paid the fine (if I had known that).
(preterite modal perfective : past time unreality)
Dann hätte ich natürlich die Bu e gezahlt (wenn ich das gewusst hätte).
(preterite subjunctive perfective : past time unreality)
Again, the obligatory introduction of the modal would in English here is the
equivalent of subjunctive mood morphology in German. Without the subjunctive forms the meaning would not be hypothetical and counterfactual, and similarly if there is no modal auxiliary in English the sentence cannot be used to
express this meaning. In Norwegian, on the other hand, where there is neither
subjunctive mood morphology nor grammaticalized non-indicative modals, the
introduction of a modal is not an obligatory selection – it is optional. It is
basically up to the speaker to add a modal or leave it out, as in 10 above,
repeated here for convenience:
10N Da / I så fall hadde jeg naturligvis betalt boten (hvis jeg hadde visst det).
10N+ Da / I så fall ville jeg naturligvis ha betalt boten (hvis jeg hadde visst det).
9 29E is ambiguous: it may be interpreted as applying to a non-past hypothetical situation or
to a past time real situation – that is, it may be understood either as a subjunctive conditional
about non-past time or as an indicative conditional about past time in the habitual predictive
sense of will/would. The indicative conditional reading does not require the modal, as in 28E.
It is the subjunctive conditional interpretation of 29E that is of interest for our purpose.
The optionality of a modal auxiliary in Norwegian is taken as an indication that
the modals are not grammatically specified for mood like the English ones. It is
more of a lexical choice than a grammatical one – they are lexical expressions
of modality, and are not grammaticalized as ‘mood auxiliaries’ the way the
English ones are.
The analysis of the English modals as grammatically non-indicative verbs
is of interest for our purpose as it seems to open up an understanding of the
special restrictions that apply in English but not in Norwegian in the formation
of hypothetical conditionals. As we see from German, the subjunctive mood is a
forced choice if hypothetical meaning is intended, and the selection of subjunctive mood cancels the temporal past time meaning of the preterite verb form.
The non-factual meaning inherent in the subjunctive mood is a type of conceptual remoteness that overrides the temporal remoteness typically expressed by
the preterite tense – the two types of remoteness cannot both be expressed by
the same verb form. It is in the nature of things that if a language has developed
special grammaticalized forms for the expression of non-factuality, there is a
forced choice of form which the language user cannot ignore. In the case of
German the speaker has to select subjunctive forms for hypothetical meaning.
In English the speaker has to select a non-indicative verb form for hypothetical
meaning in the apodosis of conditionals – that is, a modal auxiliary. In Norwegian the speaker is not faced with this forced choice as there are no grammaticalized forms for non-factual meaning. The preterite will have to do for factual
past time meaning as well as non-factual non-past time meaning.
IV. Conclusion
IV.1 Summary
In conclusion, the grammatical differences that we have been concerned with
can be understood as language-specific restrictions on the shift from the
primary temporal sense a) to the derived modal sense b). These are understandable if we consider the status of mood in the verb system of the language in
question: if the language has established non-indicative mood forms, these are
obligatory selections for the expression of non-temporal remoteness. In a
language without such word forms, e.g. Norwegian, what happens is that
semantic widening will apply to the preterite tense, resulting in a non-temporal
interpretation and a modal non-factual sense.
We will regard semantic remoteness as a matter of distance – that is, the
contrast remote vs. non-remote is what the concept semantic distance consists
of (following Thieroff on this point – Thieroff ibid.: 4-5 & Thieroff 1994b: 126129). The contrastive comparison can be schematized as follows:
The expression of remoteness:
Distance:
{X is Remote / Outside in deictic space}
Distance:
[+remote] (“outside the zero zone”)
[+temporal]
[-temporal]
[+anterior]
(= past time)
interpersonal
(deontic)
cognitive
(epistemic)
polite distance
----------------------------------------X is [+remote] in temporal space
vs.
non-commitment
non-factuality
counter-factuality
--------------------------------------------------X is [+remote] in non-temporal space
Fig. 3
i) In languages with subjunctive mood (e.g. German ):
Form:
Tense: preterite
vs.
--------------------------------------
Mood: non-indicative / subjunctive
------------------------------------------
ii) In languages with no subjunctive mood (e.g. Norwegian):
Tense: preterite
-----------------------------------------------------------------------------------------------As already pointed out above, it appears from this that the suggested semantics
of preterite tense and non-indicative / subjunctive mood combination yields a
contradictory result, i.e.:
Grammatical form: [preterite tense + non-indicative / subjunctive mood]
Meaning:
[temporal remoteness + non-temporal remoteness]
Logically adjusted: [ ________________ + non-temporal remoteness]
In resolving the contradictory combination, the more specific notion of tem-
poral remoteness is cancelled, and hence past time meaning is not available.
English is like German in this respect in the formation of hypothetical conditionals, but only in the main clause. In Norwegian, on the other hand, there is
no contradictory clash of meanings as there is no subjunctive vs. indicative
mood contrast. Instead of logical adjustment the features [+temporal, +anterior]
can be cancelled, and semantic widening is assumed to take place so that the
meaning may be extended to general remoteness, i.e.:
Grammatical form: [preterite tense
+
Meaning:
[temporal remoteness
subjunctive mood: no exponence ]
_______ remoteness ]
If the restrictive modifier ‘temporal’ is cancelled, it follows that the general
remoteness meaning opens up pragmatic interpretations of non-temporal
remoteness as distance in interpersonal space or in cognitive space. English is
like Norwegian with respect to the formation of hypothetical conditionals, but
only in the subclause.
The representation of temporal and modal uses of preterite verb forms in
English and Norwegian outlined above is no doubt a topic that should be given
a more thorough motivation than is possible here. On the whole it appears that
in an English-Norwegian contrastive perspective the modal uses of the preterite
are relatively similar and are found in much the same types of constructions.
Still, a wider range of data could be useful for a finer comparison. Other questions and topics which would deserve closer attention are briefly mentioned in
the following subsection.
IV.2 Further research
The argumentation developed in this article rests on a number of theoretical
assumptions which deserve more attention than is possible here. As regards the
proposed analysis of the English modals, there is one question concerning the
mismatch between preterite tense form and past time meaning that seems to
require more research. We have argued that in general the preterite tense does
not maintain its past time meaning if the mood is subjunctive. This fact is exploited as an argument in favour of the analysis because the specification of
modals as Mood: [-indicative] seems to throw explanatory light on the
notorious tense - time mismatch. However, the preterite forms would and could
are capable of past time application as well as present / future time application.
So the question that begs itself is: why do some of the preterite forms
(especially would and could) retain past time meaning if they are non-indicative
verbs? It may be the case that some modals are more non-indicative than others.
This problem need not undermine the analysis of the English modals as nonindicative verbs, although we will not deal with this question in further detail
here.
As a parallel to subjunctive mood morphology in German the nonindicative verbs in English are obligatory in the apodosis of hypothetical
conditionals. One may raise the question why this parallel is seen only in the
apodosis, and not in the protasis of the conditional. We could add the observation that the selection of modal would (in its epistemic non-volitional sense)
in subclauses is established in some varieties of American English. Trudgill &
Hannah (1994: 60) provide the following example of would marking the modal
meaning of a preterite perfective structure:
30
30+
I wish I had done it. (Standard usage, British and US)
I wish I would have done it. (US only10)
In our sentence 23E an added auxiliary will be possible in certain varieties of
US English:
23E+ If he would phone now / today / *yesterday, I would (I’d) go there right away.
It remains an open question why the verb structure in conditional subclauses
(and other similar contexts) is not expanded with a modal in general usage
when the meaning is counterfactual. This question can be regarded as part of a
larger topic about the construction of the verb element in subclauses generally
and is something that will not be undertaken here. Also, it is part of another
question, namely the selection of non-indicative verbs in relation to style and
dialect. The subjunctive remnant were is typically a selection in a rather formal
style and is often avoided with was as the preferred form. This means that our
generalization about hypothetical meaning and subjunctive mood has to be
modified to take account of the fact that a subjunctive is not always a forced
choice in spite of the counterfactual meaning. In addition, trends of development in the area of non-indicative verbs in English should also be on the agenda
for research on this topic. As pointed out by Leech (2004: viii & 127-128),
there are noticeable changes going on in the area of modal verbs. Also,
according to Abraham (2001), corpus investigations reveal that deontic uses of
the modals in Modern American English are dwindling rapidly. Thus the question begs itself how valid established descriptions of usage are in the area of
modal verbs. The facts of present-day usage are certainly not clear cut, and
more empirical research is no doubt needed. Optionality, level of style and
dialect in addition to main clause vs. subclause occurrence are relevant variables which should be taken into account in research on mood and modality in
present-day English.
Another question that can be raised concerns the nature of the preterite
tense. If we regard the preterite as a morpheme in the usual sense, i.e. a formal
marker with a particular meaning ‘past time’, there is a problem of definition.
Using the same form for past time application as well as non-past time application involves shifting the meaning from temporal and factual meaning to modal
and non-factual meaning. We are faced with the question: how can one and the
same morpheme be associated with these contradictory senses? One answer to
10
According to Peter Trudgill (personal communication) sentences like 30 are hardly non-standard US usage
today, as witnessed by some 230,000 hits in Google. This suggests that the presence of would in 30 seems to be
well established.
this question will be that this duality indicates that we are not dealing with one
morpheme but two. Inflected word forms are “semantically regular” (Haspelmath, 2002: 73), and the contribution of inflection is therefore typically predictable. That is, the typical thing for an inflectional marker is to be semantically
and functionally stable on every occurrence, as for instance in the case of the
noun inflectional marker for plural number, whose meaning is predictably ‘two
or more’.
“While inflectional categories always make a predictable semantic contribution to
their base, derived lexemes are often semantically idiosyncratic, …”
(Haspelmath, ibid.: 74)
As the semantic contribution of the preterite is sometimes ‘past time reality’
and sometimes ‘non-past time unreality’, this seems incompatible with the idea
that an inflectional marker is semantically regular and predictable. If this view
is accepted and the criterion of semantic predictability is taken to be an
essential one, we are led to an analysis of English where two verb inflectional
morphemes are identical in form but distinct in meaning. Or rather, we should
say 99.9% identical in form, as the only case where the distinction between the
temporal preterite and the modal form manifests itself is in the subjunctive
remnant were (as in our example 25). In other words, a two-morpheme analysis
will involve an enormous amount of formal neutralization in English. In
Norwegian a two-morpheme analysis will involve 100% formal neutralization,
as there is no case where the modal non-past use of preterite forms is formally
distinct from the temporal past time use. This is a problem of morphological
analysis, which we will have to leave unsolved here. It seems, though, that an
adequate analysis of this problem cannot simply focus on the morpheme
‘preterite’/’past time’, but has to deal with both tense and mood (and subjectverb agreement if relevant) as parameters of finiteness. For a fruitful contrastive
comparison in this area the interaction of these parameters should be taken into
account.
References
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Trudgill, Peter & Jean Hannah (1994): International English. A Guide to the Varieties of
Standard English. 3rd Edition. London: Arnold.
II. Modal- und Modalitätsverben
Heinz Vater
Möchten als Modalverb
1. Allgemeine Vorbemerkungen
Diewald (1999) und Reis (2001) definieren Modalverben (im Folgenden: MV)
durch semantische „Polyfunktionalität“, durch ihr Vorkommen in zirkumstanzieller und epistemischer Bedeutung .1 Die Frage „Bilden Modalverben im
Deutschen eine syntaktische Klasse?“ beantwortet Reis (2001: 313) dahingehend, dass semantische und syntaktische Klasseneigenschaften der Modalverben systematisch korrelieren: Polyfunktionalität ist mit obligatorischer syntaktischer Kohärenz verbunden . Unter Kohärenz („Fügungsenge“) versteht Bech
(1955-57) die Verschmelzung einer Verbform mit dem Hauptverbkomplex zu
einem einheitlichen Komplex (vgl . (1-01)), während bei Inkohärenz deutliche
Trennung zweier Verbkomplexe vorliegt .2 Verben, die 1 . Status (d .h . reinen Infinitiv) regieren, werden immer kohärent konstruiert (vgl. (1-01 a/b), während
Verben, die 2. Status (Infinitiv + zu) regieren, kohärent und inkohärent vorkommen (vgl . (1-01 c) vs . (1-02)):
(1-01) a)
b)
c)
(1-02)
… weil Paul dich abholen kommt
… weil Paul dich abholen will / soll / muss / wird / kann / darf / möchte
… weil Paul dich abzuholen beabsichtigt
… weil Paul beabsichtigt, dich abzuholen
Die beiden durch MV ausgedrückten Modalitätsarten werden traditionell „objektiv“ und „subjektiv“ genannt . In (1-03) kann muss objektiv (a) oder subjektiv (b)
interpretiert werden . Später wurden diese in vieler Hinsicht nicht zutreffenden
Termini durch die aus der Logik stammenden Bezeichnungen „deontisch“ und
„epistemisch“ ersetzt . Da sich der Terminus „deontisch” als zu eng erwies, um
alle nicht-epistemischen Lesarten abzudecken, wurde er bei Kratzer (1976, 1981)
durch „zirkumstanziell“ ersetzt, was Reis (2001) übernimmt .3
1
2
3
Ähnlich definieren Thráinsson / Vikner (1995: 53) die Klasse der Modalverben: „Modal
verbs are verbs that can have both an epistemic and a root modal sense …“ .
Der Verbkomplex vereint alle verbalen Elemente innerhalb einer VP; vgl . gekommen ist
bzw . gekommen sein soll .
Raynaud (1975: 10) unterscheidet zwei Subsysteme, ohne sie zu benennen: „Dans le premier des deux systèmes, les Vm énoncent une disposition, une attitude, une condition du
sujet S en face du procès exprimé par le groupe infinitival C Ix, dans le sens des modalités
logiques attribuées à un seul terme, le sujet. … Dans le second système les Vm énoncent
l‘incertitude, donc une opinion du sujet parlant …“ . Tarvainen (1976) unterscheidet „lexikalisch“ (= „zirkumstanziell“) und „grammatisch“ (= „epistemisch“); vgl. Jäntti (1982:
53) . Diewald (1999: 15) unterscheidet deiktische (= epistemische) und nicht-deiktische
(= zirkumstanzielle) Modalität: „Deiktika bringen . . . zum Ausdruck, dass die denotierte
Entität von der Origo aus denotiert ist . . ., sie enkodieren . . . die Perspektive, von der aus
100
(1-03)
a)
b)
Heinz Vater
Paul muss dort sein .
„Es ist notwendig, dass Paul dort ist“ (P. ist dazu verpflichtet)
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass Paul dort ist“ (da dort Licht brennt)
Aufgrund der genannten Kriterien − semantische Polyfunktionalität und obligatorische syntaktische Kohärenz − rechnet Reis (2001) neben den sechs klassischen
MV (wollen, sollen, müssen, können, dürfen, mögen) auch werden, brauchen und
möchten zu den MV. Sie stimmt in dieser Klassifizierung überein mit Vater (1975;
2004) und Öhlschläger (1989) .4
Die Polyfunktionalität der MV besteht nach Diewald (1999) und Reis (2001)
darin, dass sie sowohl zirkumstanzielle als auch epistemische Modalität auszudrücken vermögen. Jede dieser beiden Haupt-Modalitätsarten verzweigt sich
in Unterarten (vgl . Hetland 2005): Die zirkumstanzielle Verwendung gliedert
sich in die dispositionelle und die deontische Verwendung, wobei letztere (die
in der Logik lange Zeit als einzige Modalitätsart behandelt wurde) die logischen Operatoren Notwendigkeit und Möglichkeit realisiert .5 Epistemische
Verwendung im engeren Sinne betrifft Wahrscheinlichkeitsgrade im Hinblick
auf die Proposition der vom MV regierten Infinitivkonstruktionen (im Folgenden: IK) .
Die meisten nicht-verbalen Modalitätsausdrücke – Adjektive, Adverbien, Partikeln – scheinen auf eine modale Bedeutung beschränkt zu sein . So kommen z .B .
wahrscheinlich, vielleicht und möglicherweise nur epistemisch vor, notwendig
und zulässig nur deontisch .6
Nach Vater (1975; 1997) bilden die Modalverben müssen, werden und können ein Untersystem, in dem müssen starke, werden mittlere und können schwache Wahrscheinlichkeit bezeichnet . Dazu kommen mögen, brauchen und (nur im
Konj . II) dürfen zur Bezeichnung schwacher Wahrscheinlichkeit:
(1-04) a
b
c
4
5
6
Das mag stimmen .
Das braucht nicht (zu) stimmen .
Das dürfte stimmen .
die sprachliche Äußerung produziert wurde“. Zur Definition von „Modalität“ vgl. Kiefer
(1994) .
Zu werden vgl. auch Doherty (1985), Janssen (1989) und Leiss (1992), zu brauchen Folsom (1968), Raynaud (1975) und Lenz (1996) .
Dabei drückt müssen Notwendigkeit und können Möglichkeit aus . Eine Negation des MV
kehrt die Verhältnisse um: A muss nicht B tun bedeutet (oder impliziert zum mindesten),
dass es für A möglich ist, B zu tun; A kann nicht B tun bedeutet (oder impliziert), dass es für
A notwendig ist, B nicht zu tun .
Auch norw . kanskje (‘vielleicht’), engl . maybe, frz . peut-être kommen nur epistemisch
vor, nicht zirkumstanziell; engl . necessary ist stets zirkumstanziell, ähnlich wie (gleichbedeutendes) frz . nécessaire, poln . trzeba, russ . нужно und auch russ . нельзя „man
darf/kann/soll nicht“; frz . obligatoire werden offenbar nur deontisch verwendet, wie
auch dt . obligatorisch .
Möchten als Modalverb
101
Zum epistemischen Gebrauch im weiteren Sinne zählt die evidenzielle Verwendung (vgl . Ehrich 2001), die im Deutschen vor allem durch sollen und wollen
realisiert wird .7
(1-05) a
b
Fritz soll reich (gewesen) sein .
Fritz will reich (gewesen) sein .
Während in (1-05 a) der Sprecher mit soll auf eine (ungenannte) Quelle als Gewähr für die Richtigkeit (oder Wahrscheinlichkeit) der Proposition in der regierten
IK verweist, ist in (1-05 b) das Satzsubjekt selbst die Quelle für den Wahrheitsgehalt dieser Proposition (vgl . Letnes 1997; 2008, Diewald 1999: 18 und Vater
2001 zu diesem „quotativen“ Gebrauch von sollen/wollen) . Hetland / Vater (2008)
schlagen folgende Subklassifizierung der deutschen MV vor:
Abb. 1 Deutsche Modalverben
(nach Hetland / Vater 2008: 94)
zirkumstanzielle Verwendung
dispositionell8
müssen
können
dürfen
wollen
sollen
werden
mögen
möchten
brauchen
7
8
9
deontisch9
müssen
können
dürfen
sollen
werden
mögen
möchten
brauchen
epistemische Verwendung
epistem . im engeren S .
müssen
werden
können
mögen
dürfen
möchten
brauchen
evidenziell
wollen
sollen
möchten
brauchen
Zur Frage, ob evidenzielle Modalität als Variante der epistemischen Modalität (i .w .S .)
und Quotativität als Variante der Evidenzialität anzusehen sind, vgl . Diewald / Smirnova
(2008) .
Vgl .: Alle Menschen müssen sterben; Paul kann schwimmen; das darf doch nicht wahr
sein!; Paul will Schauspieler werden; er sollte später erfahren, dass er Recht hatte; ich
werde es mir überlegen; Paul mag nicht still sitzen; das Obst braucht nicht gewaschen
(zu) werden .
Vgl .: Paul muss morgen arbeiten (= ist beauftragt zu arbeiten); Paul kann (= darf) das
Buch behalten; Paul darf das Buch behalten; Sie sollen zum Chef kommen; Du wirst
tun, was ich Dir sage!; Paul mag tun und lassen, was er will; Sie brauchen morgen nicht
(zu) kommen .
102
Heinz Vater
Die Kennzeichnung der Evidenzialität spielt in einigen Sprachen eine größere
Rolle als im Deutschen .10 So muss man in der in Peru gesprochenen Sprache Jaqaru laut Dittwald u . a . (20072: 10) bei jedem Satz die Quelle der Information für
eine Aussage angeben:
„Das Jaqaru (Jaqi-Sprachfamilie ...) unterscheidet beispielsweise zwischen einer Sinneswahrnehmung (Endung -wa/-w), Hörensagen (-mna), [Schlussfolgerung (-jili)] und bloßer
Vermutung (-psa) . . . . :
Yamkutu-wa
‘Ich habe Hunger’ (eigene Wahrnehmung)
Yamki-mna
‘Sie hat Hunger’ (hat sie gesagt)
Yamki-psa
‘Sie hat Hunger’ (Vermutung)“
2. Möchten als selbständiges Modalverb?
2 .1 Zur Morphologie und Syntax von möchten
In den gängigen Wörterbüchern − ich habe Grimm (Bd. VI, 1895), Paul (19666),
Klappenbach / Steinitz (4 . Bd . 1975), Duden (200624), das Duden-Universalwörterbuch (20014) und Duden, GWDS (19942), konsultiert − sucht man ein Lemma
möchten vergebens .11 In diesen Wörterbüchern sind möchte-Formen überall unter
mögen verzeichnet, wobei die Anwendungen, wo man m . E . möchten als selbständiges MV werten muss, nicht von den möchte-Formen geschieden sind, die als
Konj . II von mögen anzusehen sind .12 Ehlich / Rehbein (1972: 318) behandeln dies
Modalverb zunächst als mögen II, fügen aber eine schüchterne Fußnote hinzu:
„Man könnte fast versuchen, als Infinitiv ‘möchten’ zu verwenden. Dieser Infinitiv ist selbstverständlich alles andere als eingeführt . Dadurch könnte man dem Umstand entsprechen,
daß ‘mögen’ zur Zeit eine gewisse Wandlung in seiner Verwendung erfährt .“
Die erwähnte Wandlung in der Verwendung betrifft − das zeigt der Kontext − nicht
so sehr mögen insgesamt, sondern die möchte-Formen, also die Formen, die dem
neuen Verb möchten zuzuordnen sind . Brünner / Redder (1983: 16) verwenden
10 Vgl . dazu Diewald / Smirnova (2008) und Leiss (2008) .
11 Im Duden, GWDS (19942: 5, 2286) werden mochte, möchte mit Verweis auf mögen
aufgeführt .
12 Die Konjunktiv-Formen sind eindeutig als solche in Konditionalgefügen ausgewiesen; auch
in Wunschsätzen wie Möchte er doch sein Unrecht einsehen! (WDG 1975: 2541) lassen sie
sich wohl als Konjunktiv auffassen; in ihnen ist möchte oft durch würde austauschbar . Auch
in man möchte fast meinen, . . . (wo Austausch durch könnte, nicht aber durch wollte möglich
ist) liegt wohl Konj . vor . Andererseits sind Verwendungen wie in Ich möchte Auto fahren
können und Ich möchte nach Hause (ebd .), wo möchte durch will, aber nicht durch mag
ersetzt werden kann, sicher dem MV möchten zuzuordnen .
Möchten als Modalverb
103
schon ungeniert möchten und Öhlschläger (1989: 3, Fn.2) verweist 17 Jahre nach
dem zaghaften Versuch von Ehlich / Rehbein (1972) bereits auf neun linguistische Monographien, in denen der Infinitiv möchten verwendet wird; in dreizehn
weiteren Studien wird möchte als eigenes MV (ohne Ansetzung eines Infinitivs)
behandelt .
Die Beispiele für möchten bei Reis (2001: 302ff) zeigen im Übrigen klar, dass
möchten sich morphosyntaktisch und semantisch wie wollen verhält, nicht wie
mögen (vgl. auch Wurmbrand 1999). Umgangssprachlich gibt es den Infinitiv
möchten offenbar schon lange . Hier ein Hörbeleg:
(2-01) Von möchten kann nicht die Rede sein . Müssen!
(Verkäuferin von Rewe, Stommeln, 28 .4 .08, 1130)
Dass dieser Infinitiv nicht so neu ist, zeigt folgender Beleg von Anzengruber:
(2-02)
„Daß der Muckerl keine andere will wie dich und, selbst, wenn er eine möchten tat,
mich schon af d‘allerletzt, das weißt . . .“ .
(Anzengruber, Sternsteinhof, in DLLK, 2000: 20238)
Mittlerweile scheint der Infinitiv möchten auch in der Standardsprache und in
deren Beschreibungen (vgl. Öhlschläger 1989: 3, Fn. 2) schon geläufig zu sein;
es gibt sogar englischsprachige Belege wie den folgenden im Internet unter
„Quia“ zu findenden, wo ausdrücklich möchten als selbständiges Verb angenommen wird:
„Quia-Kapitel 5B: Conjugating the verb möchten: The verb möchten is a modal auxiliary
verb . It shows no action and thus requires a 2nd verb to be in the sentence .“
(www .quia .com/cnstom/32326main .html)
Möchten bildet keine Vergangenheitstempora (Präteritum, Perfekt und Plusquamperfekt) . Es ist darin werden parallel, das ebenfalls keine Vergangenheitstempora
bildet, weshalb ihm von einigen Linguisten der Zutritt zur Klasse der Modalverben verwehrt wurde, obwohl es sich sonst syntaktisch und semantisch wie ein Modalverb verhält . Dass Modalverben oft defektiv sind, zeigt z .B . poln . powinien/
powinna ‘soll(te)’, das zwar in der Tempusbildung defizitär ist, aber Abwandlung
in der Person zulässt und dadurch eindeutig als Verb identifizierbar ist (vgl. nie
powinieneś ‘du solltest nicht’) .13
13 Es gibt allerdings Grenzfälle, so frz . il me faut aller ‘ich muss gehen’, poln . Tu trzeba
postępować ostrożnie ‘Hier muss man vorsichtig sein’, Pawłowi wolno wstawać ‘Paul darf
aufstehen’ (wörtl . ‘Dem Paul erlaubt aufstehen’), russ . Здесь нельзя курить ‘Hier darf
man nicht rauchen’, wo es zweifelhaft ist, ob faut, trzeba, wolno und нельзя echte (unpersönliche) Verbformen oder eher Adjektive sind, da sie nicht in der Person abwandelbar
sind, die slavischen Formen auch nicht im Tempus (zu frz . faut lässt sich das Prät . fallait
und das Perfekt a fallu bilden) .
Heinz Vater
104
2 .2 Zur Semantik von möchten
Zwischen möchte-Formen, die noch als Konjunktiv II von mögen aufzufassen sind,
und möchte-Formen, die eindeutig als Formen eines selbständigen MV möchten
deutbar sind, gibt es Übergangsfälle, auch noch in der neueren Literatur:
(2-03)
Unser alter Erdball beginnt zu rumoren, als möchte er uns abschütteln, als seien
wir Menschen ihm lästig geworden .
(Grass, Weites Feld 668)
Hier lässt sich möchte sowohl als Konjunktiv von mögen auffassen (schon weil es
in einem als-Satz steht − es ließe sich durch den Konjunktiv wollte ersetzen − als
auch als selbständiges Verb möchte (synonym mit will) .14
Besonders gebräuchlich ist möchten offenbar in dispositioneller − genauer: voluntativer − Bedeutung, wo es dem etablierten MV wollen besonders nahe steht
(vgl . (2-03)) und es oft ersetzt, besonders in der ersten Person, weil ich möchte als
höflicher gilt als ich will (vgl . (2-04)):15
(2-04)
Paul möchte Schauspieler werden .
(2-05) a Ich will jetzt gehen .
b Ich möchte jetzt gehen .
In dieser voluntativen Verwendung kommt möchten offenbar schon seit längerer
Zeit vor, wie folgende Belege aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert zeigen:
(2-06)
Es gibt wohl in allen Menschen solche Augenblicke, wo sie sich weit über alles Erlebte . . . hinaussetzen möchten . . .
(Arnim, Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores, DLLK 4093) .
(2-07) „Jetzt aber bin ich meine Aberration inne geworden und male die Leute, wie sie gern
sein möchten . . .“
(Arnim, Die Kronenwächter, 1 . Bd ., DLLK 5311)
(2-08) „Jetzt rücken sie mir die vermauerte Gasse vor und möchten den Brunnen einreißen . . .“ .
(Arnim, Die Kronenwächter, 1 . Bd ., DLLK 5631)
14 Als − synonym mit als ob/als wenn − bezieht sich auf irreale Situationen und steht daher
standardsprachlich mit dem Konjunktiv II: Es war, als hätt‘ der Himmel die Erde still
geküsst (Joseph Frh. von Eichendorff, Mondnacht, in: Conrady 19922: 261) . Umgangssprachlich steht es allerdings auch mit Indikativ; vgl . den Berliner Ausdruck als wennste
schwebst .
15 Das Duden-Universalwörterbuch (20014: 1093) vermerkt: „d . (Konj . Prät . meist in der
Bed . eines Indik . Präs .) den Wunsch haben: ich möchte (gern) kommen; ich möchte
wissen (wüsste gern), was er jetzt tut; . . . das möchte (will) ich überhört haben”; ebenso
in „e) wollen, geneigt sein . . . (bes . verneint): ich mag nicht [gern] weggehen; . . . ich mag
keinen Fisch essen .” Diewald (1999) spricht bei wollen von volitiver (statt voluntativer)
Bedeutung .
Möchten als Modalverb
(2-09)
(2-10)
(2-11)
(2-12)
(2-13)
105
„Legen Sie die Hände der jungen Leute ineinander, die nur zu gern sich in die Arme
fallen möchten .“
(Ebner-Eschenbach, Božena S . 303, DLLK 21432)
„Ach ja, ach ja − und Sie möchten Ihre Schwester sehen?“ setzte sie überstürzt
hinzu .
(Ebner-Eschenbach, Gemeindekind, DLLK 21702)
Ja, wir möchten sie [die Lyrik; HV] in diesem Betracht vorzugsweise eine deutsche
Kunst nennen; wegen der größeren Innigkeit . . .
(Eichendorff, Geschichte der poet. Lit. Deutschlands, DLLK 24438)
Die Menschen möchten immer gesichert sein!
(Altenberg 1896 (19149): Wie ich es sehe, DLLK 379)
Die Männer sind blöde --- sie möchten in einer Stunde erreichen, wozu 1000 Stunden
nöthig wären!
(Altenberg 1901,192413, Was der Tag mir zuträgt, DLLK 821)
Daneben kommt es aber heutzutage auch schon oft deontisch vor, wo es oft sollen
ersetzt, bei dem das Vorliegen einer (externen) Notwendigkeit stark betont wird,
was durch möchten abgemildert wird:
(2-14) a Sie möchten zum Chef kommen!
b Sie sollen zum Chef kommen!
Interessanterweise ist beim parallelen wollen nicht das gleiche Verb in der
Umsetzung an den Beauftragten möglich, sondern nur sollen:
(2-15) a
b
(2-16) a
b
Der Chef möchte, dass Sie zu ihm kommen!
Sie möchten zum Chef kommen!
Der Chef will, dass Sie zu ihm kommen!
Sie sollen zum Chef kommen!
(= 2-14 b)
(2-15 a) und (2-16 a) zeigen, dass möchten syntaktisch auch darin mit wollen
übereinstimmt, dass es einen dass-Satz statt einer Infinitivkonstruktion regieren kann .16 Durch die Austauschbarkeit mit sollen beweist möchten, dass es
sich nicht nur von mögen (von dessen Konjunktivform es abgeleitet ist) emanzipiert hat, sondern auch von wollen, an das es sich sonst semantisch anlehnt:
Es lässt zu, dass ihm Auftraggeber wie auch Beauftragter zugeordnet werden
können, was bei wollen unmöglich ist, wo stattdessen das („brüderliche“) sollen einspringt (vgl . Vater 2001) .
16 Vgl . auch folgenden Beleg: „ . . .sie möchten, dass irgendetwas komme und sie stark forttrage und vergessen mache auf sich selbst .“ (H . v . Hofmannsthal, Die Menschen in Ibsens
Dramen 4, DLLK 93638) .
106
Heinz Vater
Auch die deontische Verwendung ist offenbar schon seit einiger Zeit geläufig:17
(2-17)
. . . da sagte der bärtige Hausknecht . . ., wenn sie mit der Stube nicht zufrieden, möchten
sie wo anders einkehren .
(Arnim, Die Kronenwächter, 2 . Bd., DLLK 5855)
Deontisch zu werten ist auch das folgende Beispiel aus dem WDG, wo allerdings
sollen wegen der Verbindung mit bitte nicht so gut einsetzbar ist (wenn auch Sie
sollen bitte morgen wiederkommen nicht auszuschließen ist) .
(2-18)
Sie möchten bitte morgen wiederkommen .
(WDG 1975, Bd . 4: 2541)
Noch anders liegt der Fall bei (2-19):
(2-19)
Sie wollte selbst kommen, aber sie fühlt sich heute ein wenig unwohl . Sie möchten Sie
entschuldigen und mich statt ihrer anhören .
(Kafka, Der Prozeß, DLLK 105737)
Während in (2-17) soll(t)en die angemessenste modale Alternative wäre, lässt
sich möchten in (2-19) am besten durch den Imperativ ersetzen, dem aber bitte
hinzuzusetzen ist, da möchten hier (ähnlich wie in der voluntativen Variante) eine
ausgesprochen höfliche Konnotation hat:
(2-19’) . . . sie fühlt sich heute ein wenig unwohl . Entschuldigen Sie sie bitte und hören Sie
mich statt ihrer an .
Noch anders ist die − ebenfalls deontische − Modalkonstruktion in (2-20) zu werten, wo die indirekte Aufforderung (durch die möchten-Form in der 3 . Person)
allenfalls durch eine umständliche Passivkonstruktion („der Herr Kommerzienrat
wird gebeten, . . .“) ersetzbar ist:
(2-20)
Simba: Der Herr Kommerzienrat möchten noch an Spruch auf den Herrn Baron
ausbringen .
(Wedekind, Der Marquis von Keith, DLLK 168886)
17 Vgl . auch zwei Fontane-Belege: „Um ein Uhr trat der neue Mieter bei Möhrings ein und
sagte, daß er nun zu Tisch wolle; . . . er werde vor sieben nicht wieder da sein . Und wenn
wer käme, möchten sie sagen, ‘um acht’“ . (Fontane, Mathilde Möhring 29, DLLK 30926);
„Einmal erschienen wir, um gleich in den ersten fünf Minuten mit der Mitteilung überrascht zu werden, daß in der Nacht vorher bei ihnen eingebrochen und beinahe sämtliches
Silberzeug weggeräubert sei . Wir möchten also entschuldigen .“ (Fontane, Von Zwanzig bis
Dreißig, DLLK 35972)
Möchten als Modalverb
107
Möchten wird in regionalen Versionen des Deutschen − mir besonders aus dem
sächsischen Bereich vertraut − häufig epistemisch gebraucht, so in das möchte
schon sein:
(2-21)
(A: Kommt Paul morgen? − B:) Das möchte schon sein.
Das möchte schon sein bezeichnet einen schwachen Wahrscheinlichkeitsgrad und
entspricht ungefähr „das könnte schon sein; vielleicht“ (Duden-Universalwörterbuch 20014: 1093) . Ich habe auch einen eher standardsprachlichen Beleg, jedenfalls aus einer Predigt, gefunden (bei Google):
(2-22)
Verschließen wir uns als Gemeinde nicht selbstmächtig und frühzeitig − es möchte
sein, dass der Geist Gottes großzügiger ist als unser Herz .
(Pfr. J. Denker, ev.-ref. Kirchengemeinde Wuppertal-Ronsdorf, 12.6.2000)
In der Standardsprache ist dieser Gebrauch selten. Andererseits finden sich standardsprachliche Beispiele für evidenzielle Verwendung, wie im folgenden Beleg
aus dem Kölner Stadtanzeiger, in dem es um die junge Wienerin Natascha Kampusch geht, die von ihrem Entführer acht Jahre gefangen gehalten wurde:
(2-23)
Niemand aus der Nachbarschaft will etwas bemerkt haben, keiner möchte auch nur
Verdacht geschöpft haben .
(KStA, „Das Umfeld . . .“, 30 .8 .06, S . 14)
Die Nähe zu will bemerkt haben unterstreicht, dass es sich hier um quotativ-evidenzielle Verwendung handelt . In beiden Fällen ist das Satzsubjekt (niemand / keiner)
Quelle des Quotats . Offenbar wollte der Schreiber variieren und gebraucht so einmal will, einmal möchte in gleicher quotativer Verwendung . Die Verbindbarkeit von
möchten mit Infinitiv Perfekt ist offenbar typisch für den quotativen Gebrauch.
Die nach Diewald (1999) und Reis (2001) für MV charakteristische Polyfunktionalität gilt offenbar nicht für alle Formen der Modalverben im gleichen Maße .
Möchten, das standardsprachlich kaum epistemisch verwendet wird, steht damit
keineswegs allein: Das „klassische“ MV dürfen wird in indikativischem Gebrauch
nie epistemisch verwendet: Paul darf zu Hause sein kann – anders als Paul kann /
muss zu Hause sein – nur zirkumstanziell, nicht epistemisch interpretiert werden .
Der Konjunktiv II (vgl . Paul dürfte zu Hause sein) kann dagegen sowohl zirkumstanziell als auch epistemisch verstanden werden . Andererseits wird werden als
MV typischerweise epistemisch gebraucht . Mögliche zirkumstanzielle Verwendungen wie Du wirst tun, was ich gesagt habe, das ich in Vater (1975) als Anordnung (schärfer als bei sollen) gewertet hatte, erscheinen mir heute eher als Erinnerung an eine Anordnung und damit nicht mehr als rein modale Verwendungen .18
18 Die Frage ist, ob die futurische Verwendung von werden (die auch bei wollen und sollen
vorkommt; vgl . Vater 2004) evtl . modal-zirkumstanziell zu werten ist . In Fällen wie Ich
108
Heinz Vater
Als drittes Modalverb mit eingeschränkter Polyfunktionalität ist brauchen zu
nennen, das in Verbindung mit Negation zwar ohne weiteres deontisch und epistemisch verwendet wird (vgl . Er muss zu Hause sein − Er braucht nicht zu Hause
(zu) sein), das aber ohne Negation nicht epistemisch verwendbar ist: Das braucht
nicht (zu) stimmen − *Das braucht (zu) stimmen .
3. Fazit
Möchten kommt in allen modalen Verwendungen vor, ist also echt polyfunktional .
Es ist offenbar uneingeschränkt zirkumstanziell möglich, vorwiegend (dispositionell) voluntativ, aber auch deontisch . Epistemisch wird es vorwiegend evidenziell (bzw . quotativ) verwendet; epistemischer Gebrauch im engeren Sinne ist auf
die Umgangssprache beschränkt (vgl . (2-21)), kommt jedoch gelegentlich auch
standardsprachlich vor wie in (2-22) .19 Es ließ sich jedoch zeigen, dass dies keine
Besonderheit von möchten ist, sondern dass ähnliche Restriktionen zum Mindesten auch für dürfen und brauchen in ähnlicher Weise gelten .
Morphologisch ist möchten zwar defektiv, da es kein Präteritum bildet, doch
gilt das auch für werden, das mittlerweile von vielen Linguisten als Modalverb
anerkannt wird . Zudem sind auch die anderen Modalverben in vielerlei Hinsicht
defektiv und verhalten sich auch nicht in allen morphosyntaktischen Eigenschaften gleich (vgl . Hetland / Vater 2008); so bildet nur wollen einen Imperativ und
nur wollen und möchten und in beschränkterem Maße mögen können einen dassSatz regieren . Hinzuweisen ist auch auf defektive Modalverben in den slavischen
Sprachen, so z .B . poln . powinien/powinna (vgl . 2 .1) .
Ansonsten erfüllt möchten das von Reis (2001) genannte syntaktische Kriterium:
starke Kohärenz mit der regierten Infinitivkonstruktion. Man sollte also keine Bedenken haben, möchten, das sich recht weit von mögen entfernt hat, auf Grund seiner
vielfachen modalen Verwendungen als selbständiges Modalverb zu werten .
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werde/will es mir überlegen, wo eine Intention des Sprechers ausgedrückt wird, könnte
werden (das hier wollen sehr nahe kommt) zur voluntativen Variante zirkumstanzieller MV
zuzurechnen sein (vgl . Vater 2001) .
19 Hetland (2005) und Eide (2006) rechnen evidenziellen Gebrauch zur epistemischen Verwendung (im weiteren Sinne); vgl . auch Hetland / Vater (2008) .
Möchten als Modalverb
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Gabriele Diewald und Elena Smirnova
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität im heutigen
Deutsch1
Einleitung
Die semantisch-funktionalen Domänen Evidentialität und epistemische Modalität
haben viel gemein . Die mit ihnen assoziierten Inhalte sind oft schwer voneinander
zu trennen, denn die beiden sagen etwas über den Wissensstand der Sprecherin/
des Sprechers hinsichtlich des Geäußerten aus . Außerdem werden die Konzepte
aus den beiden Domänen oft durch ähnliche oder sogar durch dieselben sprachlichen Formen realisiert . Trotz alledem handelt es sich um zwei verschiedene semantisch-funktionale Bereiche, was in diesem Beitrag am Beispiel des Deutschen
demonstriert wird .
Unser Interesse gilt in erster Linie den vier deutschen Verbalperiphrasen werden & Infinitiv, scheinen, versprechen und drohen & zu & Infinitiv, die im heutigen Deutsch dem Ausdruck evidentieller Inhalte dienen .
(1)
Wenn also Franz Beckenbauer und andere der Stiftung Warentest vorhalten, sie wolle sich
über die Weltmeisterschaft profilieren, werden sie ziemlich schnell feststellen, dass…
(DWDS, ZEIT)2
(2)
Die Ermittlungen des schwedischen Konsuls in Antwerpen scheinen sich wesentlich auf
ein Verhör der Besatzung beschränkt zu haben. (DWDS, Kernkorpus)
(3)
Sie bestehe aus Mitarbeitern JELZINs, einer mächtigen Korporation unberechenbarer
Leute aus seiner Umgebung, die das Land in die Katastrophe zu führen drohten. (DWDS,
Gesprochene Sprache)
(4)
Auf demselben Höhenzuge, den Morningside Heights, zu dem die von Süden her kommenden Straßen New Yorks ansteigen und auf dem, weit hinausschauend die ColumbiaUniversität steht, ist, weiter westlich, seit etwa zehn Jahren, eine Kirche im Bau begriffen,
die einer der größten neuzeitlichen Tempel zu werden verspricht. (DWDS, Kernkorpus)
1
2
Hintergrund unseres Beitrags ist das Forschungsprojekt „Evidentialitätsmarker im Deutschen“, das sich mit der Entwicklung evidentieller Markierungen in der deutschen Sprache
beschäftigt . Wir danken der Fritz-Thyssen-Stiftung für die Förderung des Projekts .
Die Beispiele sind aus dem DWDS-Korpus (www .dwds .de), einem umfangreichen digitalen
Korpus für deutsche Gegenwartssprache, entnommen . Da jedes Beispiel leicht zurückverfolgt werden kann, begrenzen wir uns hier auf die Kennzeichnung des jeweiligen Teilkorpus, aus dem unsere Beispielsätze stammen (ZEIT, Kernkorpus, Gesprochene Sprache) .
114
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
Diese Periphrasen werden im Folgenden den modalen Ausdrücken des Deutschen
gegenübergestellt, nämlich den Infinitivkonstruktionen mit den (grammatikalisierten Varianten der) Modalverben dürfte, können, mag, müssen, sollen und wollen sowie den verbalen Modi Indikativ, Konjunktiv I und Konjunktiv II .
Unsere zentrale These ist, dass sich evidentielle Distinktionen – wie sie durch
die vier oben genannten verbalen Periphrasen ausgedrückt werden – im Verlauf der
Geschichte des Deutschen zu einem Paradigma grammatikalisiert haben . Dieses
Paradigma stellt ein eigenständiges System der evidentiellen Markierungen dar, das
von dem Paradigma der modalen Distinktionen weitgehend unabhängig ist .
Im Folgenden werden wir uns mit der Frage beschäftigen, ob und wie Evidentialität und epistemische Modalität im Allgemeinen und speziell im Deutschen
voneinander abzugrenzen sind . Unsere zentralen Fragen sind also:
(i)
Wie lassen sich evidentielle und epistemisch modale Distinktionen im
Deutschen abgrenzen?
(ii) Wie lassen sich Überschneidungsbereiche – deren Existenz einen Beitrag
wie diesen überhaupt erst nötig macht – eingrenzen und erklären?
Der Beitrag ist folgendermaßen gegliedert: Im ersten Abschnitt werden einige
Definitionen von Evidentialität und epistemischer Modalität gegeben und eine
erste definitorische Abgrenzung dieser Kategorien voneinander vorgeschlagen.
Abschnitt 2 stellt das Modell zur kategorialen Einordnung deutscher evidentieller
Periphrasen von Diewald (2004) vor, in dem die evidentiellen Periphrasen als
eine Subklasse ins System der modalen Distinktionen des Deutschen integriert
sind . Im Laufe der weiteren Forschungen zeigte sich, dass dieses Modell einiger
Korrekturen und Präzisierungen bedarf . Diese werden in Abschnitt 3 erläutert,
so dass im abschließenden Teil des Beitrags eine revidierte Version des Modells
präsentiert werden kann, die für eine strikte Unterscheidung zwischen zwei unabhängigen Systemen – einem modalen und einem evidentiellen – plädiert .
1. Evidentialität und epistemische Modalität: erste definitorische
Abgrenzung
Da in der deutschen Grammatikschreibung Evidentialität – anders als epistemische
Modalität – bisher keine geläufige Kategorie ist, werden im Folgenden einige Definitionen dieser Kategorie vorgestellt und diskutiert. Sie beruhen im Wesentlichen
auf den inzwischen zahlreichen typologischen Arbeiten auf diesem Gebiet (z .B . Bybee 1985, Anderson 1986, Willett 1988, van der Auwera/ Plungian 1998, de Haan
1999, 2005, und insbesondere Aikhenvald 2003, 2004) .
Als distinktiver semantischer Kern der Evidentialitätsmarker gilt die Benennung
der Quelle, aus der die Information stammt, die in der Proposition dargestellt ist .
Dies kommt in folgenden Definitionen zum Ausdruck:
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
115
„Evidentials may be generally defined as markers that indicate something about the source of
the information in the proposition .“ (Bybee 1985: 184)
„Evidentials express the kinds of evidence a person has for making factual claims .“ (Anderson 1986: 273)
„[Evidentialitätsmarker drücken aus], how the speaker obtained the information on which s/he
bases an assertion .“ (Willet 1988: 55)
„Evidentiality proper is understood as stating the existence of a source of evidence for
some information; this includes stating that there is some evidence, and also specifying
what type of evidence there is .“ (Aikhenvald 2003: 1)
Die Kennzeichnung der Informationsquelle muss – wie Anderson (1986: 274) zu
Recht betont – Bestandteil der Bedeutung der fraglichen linguistischen Einheit, also
des potentiellen Evidentialitätsmarkers, sein . Diesbezügliche konversationelle Implikaturen, die in bestimmten Verwendungen möglich sind, reichen nicht aus, um
ein Element der Klasse der evidentiellen Ausdrücke zuzuordnen .
Evidentialitätsmarker bezeichnen nicht nur die Tatsache, dass der Sprecherin/
dem Sprecher Evidenzen vorliegen, sondern auch oft die Art der Evidenz, auf die
die Sprecherin/ der Sprecher zurückgreift . Dabei ist vor allem die Unterscheidung
zwischen direkter Evidenz einerseits, also Evidenz durch aktuelle Wahrnehmung,
und indirekter Evidenz andererseits, also Evidenz durch Schlussfolgerungen usw .,
von Bedeutung (vgl . z .B . Anderson 1986: 274, Willett 1988: 57, Bybee / Perkins /
Pagliuca 1994: 323) .
Eine mögliche universelle Differenzierung evidentieller Bedeutungen schlägt
Plungian (2001) vor (vgl . Abb . 1):
Indirect evidence
Direct evidence
Reflected evidence
(= inferentials and presumptives)
Mediated evidence
(= Quotatives)
Personal evidence
Abb .1: Universelle Differenzierung evidentieller Werte (Plungian 2001: 53)
Bei der epistemischen Modalität andererseits, also der Faktizitätsbewertung eines Sachverhalts, ist der funktionale und semantische Kern der verbalen Moduskategorie und der epistemisch gebrauchten Modalverben (die sich in die Moduskategorie „hinein grammatikalisiert“ haben) angesprochen .
Epistemische Modalität oder Faktizität betrifft die Frage des “Tatsache-Seins”
der Proposition . Dabei geht es nicht um “objektive Wahrheitswerte”, sondern um
die sprecherbasierte Einschätzung des dargestellten Sachverhalts bezüglich seines
116
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
Grades an Realität, Aktualität, Wirklichkeit . Die Zuweisung eines Faktizitätswertes
basiert also immer auf einer je aktuellen „subjektiven“ Bewertung der Sprecherin/
des Sprechers; sie ist deiktisch . Faktizitätsmarker, oder Ausdrücke der epistemischen
Modalität, enkodieren also – so Bybee/ Perkins/ Pagliuca (1994: 320) – „the degree
of commitment of the speaker to the truth or future truth of the proposition“ .3
Der unmarkierte Wert der Faktizitätsdimension ist die Bewertung der Proposition
als faktisch im definierten Sinn. Dieser Wert wird durch den morphologisch merkmallosen Indikativ ausgedrückt, den „Modus der Faktizität und der direkten Behauptung“ (Lyons 1983[1977]: 414) . Alle anderen Mitglieder der Moduskategorie
bringen markierte Faktizitätswerte zum Ausdruck. Das betrifft die flexivischen Modusmarker, d .h . den Konjunktiv I und den Konjunktiv II, ebenso wie die modalen
Auxiliarkonstruktionen, also die würde-Konstruktion und die Modalverbkonstruktionen, soweit sie sich bereits als (mehr oder weniger stark) grammatikalisierte Formen dem Modus-Paradigma angeschlossen haben .
Die spezifischen Faktizitätswerte der Modi und Modalverben des Deutschen
stehen hier nicht im Zentrum des Interesses und werden daher erst später und
nur als Kontrastfolie zu evidentiellen Werten kurz erwähnt (s . hierzu Diewald
1999: 167 ff .) . Im Folgenden geht es ausschließlich um diejenigen semantischen Differenzierungen, die von den Modal- und Modalitätsverben zum Ausdruck gebracht werden .
Das oben Dargestellte kann nun abschließend kurz zusammengefasst werden,
wobei in (i) die Gemeinsamkeiten der beiden Domänen formuliert sind, während
in (ii) und (iii) jeweils die Besonderheiten von Evidentialität und epistemischer
Modalität herausgestellt sind . Das unten stehende Diagramm (Abb . 2) dient der
Illustration .
(i) Epistemische Modalität und Evidentialität sind semantisch-kognitive Domänen, die mit der sprecherbasierten Bewertung eines sprachlich dargestellten
Sachverhalts bezüglich seines ontologischen Status zu tun haben .
(ii) Epistemische Modalität betrifft die sprachliche Enkodierung eines deiktischen Faktizitätsgrades, d .h . eines bestimmten Gewissheitsgrades der Sprecherin/ des Sprechers bezüglich des dargestellten Sachverhalts .
(iii) Evidentialität betrifft die sprachliche Enkodierung der Informationsquelle,
d .h . einer bestimmten Quellenlage der Sprecherin/ des Sprechers bezüglich
des dargestellten Sachverhalts .
Es sei noch darauf hingewiesen, dass beide Kategorien hier als deiktische Kategorien verstanden werden . Für die epistemische Modalität gilt das mittlerweile
als erwiesen (vgl . v .a . Diewald 1999) . Für die Evidentialität hat sich diese Auffassung ebenfalls in jüngster Zeit durchgesetzt .
3
Es geht hier nur um den „subjektiven“, d .h . deiktischen, Bereich der „epistemischen“ Modalität . Dass wir hier dennoch diesen missverständlichen Terminus verwenden, ist der Tatsche
geschuldet, dass sich im einschlägigen wissenschaftlichen Diskurs genauere Begriffe, wie
z .B . „deiktische“ Modalität, bislang nicht durchgesetzt haben .
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
Gemeinsames Merkmal
Distinktive Merkmale
Kategorie
117
sprecherbasierte Bewertung des Sachverhalts bezüglich
seines ontologischen Status
+
0
Faktizitätsgrad
Faktizitätsgrad
0
Informationsquelle
+
Informationsquelle
↓
epistemische Modalität
↓
Evidentialität
Abb . 2: Epistemische Modalität und Evidentialität: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
„These various concerns [...] bring to mind the Jacobsonian notion of “shifters”. […] Since
shifters typically involve deixis, evidentiality in part at least may well be thought of therefore as connected to matters of deixis, in that in systems that overtly mark evidentiality,
utterances typically include indicators pointing directly to particular sources or away from
potential sources, as the speaker takes a particular point of view in describing an action .“
(Joseph 2003: 308)
„We are now ready to consider evidentials as a deictic phenomenon . […] The only way in
which Wintu verbs locate events with respect to speakers similar to English tense deixis is
with the evidential suffixes. […] English uses tense deixis to place a statement with respect
to the time its truth depends on; Wintu employs evidential deixis to place an event in the
context of the other events which are entailed by it .“ (Schlichter 1986: 57 f .)
„Evidentiality can also be characterised as a deictic category, one that functions to index
information to some point of origin (Bühler’s ‘origo’) . […] Evidential markers are deictic
because they index information to the conceptualiser who makes an epistemological judgement . In context, the choice of evidential categories (e .g . witness or report) serves to select
the deictic origin – the one from which all temporal, spatial and identifying information can
be calculated .“ (Mushin 2001: 33)
„A recent proposal is to analyze evidentiality not as a modal, but as a deictic category . [ . . .]
[There is a] connection between spatial deictic elements such as demonstratives, temporal
deictic elements such as tense, and evidential elements . In all cases, the morphemes in question denote the distance between the speaker and an object (spatial), time (temporal), or the
entire proposition (evidential) .“ (De Haan 2006: 59)
Evidentialität und epistemische Modalität werden im Deutschen durch verbale
Konstruktionen bzw . periphrastische Verbformen realisiert . Wie folgende Beispiele
mit den dazugehörenden Paraphrasen veranschaulichen, wird die epistemische Modalität durch entsprechend gebrauchte Modalverben zum Ausdruck gebracht, vgl .
(5), während Evidentialität durch die Konstruktionen werden & Infinitiv, scheinen/
drohen / versprechen & zu & Infinitiv wie in (6) realisiert wird:
118
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
(5)
Die Lieferung dürfte/ könnte/ mag größer sein als erwartet.
Der Sprecher/ die Sprecherin schätzt den Sachverhalt „die Lieferung ist größer als erwartet“ als mehr oder weniger gewiss ein .
(6)
Die Lieferung scheint/ droht/ verspricht größer zu sein als erwartet. Der Sprecher/ die Sprecherin stützt den Sachverhalt „die Lieferung ist größer als erwartet“ auf Evidenzen .
Anhand dieser Beispiele kann bereits der erste wichtige Unterschied zwischen epistemischer Modalität und Evidentialität aufgezeigt werden: Während epistemisch modale Werte sozusagen auf einer Gewissheits-Skala verteilt sind, sind einzelne Evidentialitätswerte durch bestimmte (Informations-)
Kanäle definiert. Wie die Bedeutungsparaphrasen zeigen, handelt es sich um
eng verwandte, aber in der Art und Weise des „Quellenbezug“ deutlich unterscheidbare Domänen . Daher – aufgrund ihrer semantischen Nähe – werden
epistemische Modalität und Evidentialität oft unter einer gemeinsamen Kategorie zusammengefasst .
Im Folgenden wird in Frage gestellt, ob diese konzeptuelle Verschmelzung
sinnvoll ist . Es wird dargelegt, worin die Überscheidungsbereiche zwischen
den beiden Domänen bestehen und wie dies zu erklären ist bzw . zustande
kommt . Es wird die These vertreten, dass trotz dieser Überschneidungen eine
prinzipielle konzeptuelle Trennung zwischen den beiden Bereichen anzusetzen ist .
2. Klassifikation evidentieller und epistemischer Konstruktionen
im Deutschen: erster Versuch
Die in Abschnitt 1 skizzierte semantische Nähe zwischen Evidentialität und
epistemischer Modalität bzw . Faktizität ist – wie schon angedeutet – einer der
Gründe dafür, dass in vielen Arbeiten die beiden Begriffe nicht klar getrennt
werden . Meist wird Evidentialität schlicht als Subkategorie von Epistemizität
resp . Faktizität betrachtet, so z .B . Gunkel (2000: 111) und Traugott (1997) . So
verfährt auch der Vorschlag, den wir hier als Ausgangspunkt für folgende Darlegungen ausgewählt haben . Es ist das Modell zu den semantischen Distinktionen im Bereich der Modalität und Evidentialität im Deutschen, das in Diewald
(2004) vorgestellt wurde . Wie bereits erwähnt werden dort beide Bereiche in
eins gefasst, d .h . Evidentialität wird als eine Subkategorie innerhalb der epistemischen Modalität begriffen .
„Modalität wird im Deutschen u.a. durch Infinitivkonstruktionen zum Ausdruck gebracht. An
erster Stelle sind hier die klassischen Modalverben, also die sechs Verben dürfen, können, mögen, müssen, sollen und wollen zu nennen, dann aber auch die Verben scheinen, drohen und
versprechen, […] .“ (Diewald 2004: 230)
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
119
„Da nun die Faktizitätsbewertung die gemeinsame Eigenschaft aller Modal- und Modalitätsverben und das distinktive Merkmal der Moduskategorie ist, eignet sich die nur bei einigen
Faktizitätsmarkern auftretende evidentielle Komponente zu einer weiteren semantischen Subklassifikation dieses Paradigmas.“ (Diewald 2004: 238)
Das System der faktizitätsbewertenden Ausdrücke des Deutschen in ihren Zusammenhängen wurde in einem Modell präsentiert, das als Abb . 3 unverändert abgebildet wird:
unsichere Faktizitätsbewertung (Vermutung)
rein deiktisch
können
müssen
-Evidentialität
+Evidentialität
Modalverben
Modalitätsverben
quotativ
sollen
wollen
phorisch
dürfte
mag
-ingressiv
scheinen
+ingressiv
-erwünscht
+erwünscht
drohen
versprechen
Abb . 3: Semantische Distinktionen bei den Modal- und Modalitätsverben (Diewald 2004: 253)
Der Unterschied zwischen den Modalverben und den sog . Modalitätsverben wird
in Diewald (2004) dahingehend beschrieben, dass die Modalverben eine deiktische
nicht-evidentielle Faktizitätsbewertung liefern, während die drei Modalitätsverben zusätzlich eine stark ausgeprägte evidentielle Komponente haben . Innerhalb
jeder Klasse werden eigene Distinktionskriterien angewandt, um weitere Differenzierungen systematisch darzustellen .
Wie in der Einleitung bereits vorweggenommen, haben unsere aktuellen Untersuchungen ergeben, dass eine Trennung der beiden Kategorien im Deutschen nötig ist .
Die neueren Erkenntnisse bezüglich der funktionalen Leistung deutscher evidentieller Periphrasen und ihrer diachronen Entwicklung deuten unmissverständlich daraufhin, dass es sich im Deutschen um zwei separate Systeme handelt . Dies hat dazu
geführt, dass das oben dargestellte Modell revidiert werden musste . Einige wichtige
Gründe hierfür werden im folgenden Abschnitt diskutiert .
3. Das Problem der Vermischung und das Plädoyer für eine prinzipielle
Trennung
Für eine strikte konzeptuelle Trennung der beiden hier behandelten Kategorien haben sich bereits viele Autoren ausgesprochen, vgl . z .B .:
„[…] evidentiality, deals with the evidence the speaker has for his or her statement, while the
other, epistemic modality, evaluates the speaker’s statement and assigns it a commitment value .
120
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
This evaluation is obviously done on the basis of evidence (which might or might not be expressed overtly, or which might or might not be expressed by means of evidentials), but there is
nothing inherent in evidentials that would compel us to assign an a priori epistemic commitment
to the evidence .“ (De Haan 1999: 98 f .)
„The evidentials, however, signal only the way the speaker arrived at knowledge about the
event .“ (Bybee 1985: 182)
„Evidential markers may indicate a speaker’s attitude towards the validity of certain information
but do not have so . This is why evidentiality should not be considered as part of the ‘linguistic
coding of epistemology’ .“ (Aikhenvald 2003: 13)
Auch hier wird – wie oben erwähnt – die Position vertreten, dass epistemische Modalität und Evidentialität prinzipiell distinkte Kategorien darstellen . Gleichzeitig wird
jedoch eingeräumt, dass diese unterschiedlichen semantisch-funktionalen Domänen
nicht völlig unabhängig voneinander existieren, sondern bestimmte Überlappungsregionen aufweisen (vgl . van der Auwera/ Plungian 1998, Faller 2002, Nuyts 2001,
Mushin 2001 u .a .), die vor allem den Bereich der indirekten Evidentialitätswerte,
insbesondere das Feld der inferentiellen Evidentialität, betreffen .
Die Abb . 4 und das erklärende Zitat weiter unten veranschaulichen dieses Verhältnis zwischen Evidentialität und epistemischer Modalität:
Necessity
. . .
Deontic
necessity
Epistemic
necessity
=
Inferential
evidentiality
Evidentiality
Quotative
evidentiality
. . .
Abb . 4: Überlappungsbereich zwischen Evidentialität und epistemischer Modalität (van der
Auwera/ Plungian 1998: 86)
„[ . . .] the inferential reading amounts to epistemic modality and more particularly epistemic
necessity: for both categories we are dealing with the certainty of a judgment relative to
other judgments . From this point of view it also causes no surprise that inferential evidentials
often receive an English translation with epistemic must. Inferential evidentiality is thus
regarded as an overlap category between modality and evidentiality .“ (van der Auwera/
Plungian 1998: 85 f .) (unsere Hervorhebung)
Im Gegensatz zu der in van der Auwera/ Plungian (1998) vertretenen Ansicht,
dass der Bereich der inferentiellen Evidentialität einen „Treffpunkt“ der beiden
Kategorien darstellt, in dem die Werte „epistemisch notwendig“ und „inferentiell evidentiell“ identisch erscheinen, sind wir der Meinung, dass hier von keiner
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
121
Identität bzw . vollkommener konzeptueller Gleichheit der beiden gesprochen
werden kann . Die Sub-Domänen „epistemische Notwendigkeit“ und „inferentielle Evidentialität“ können und müssen voneinander unterschieden werden . Nicht zuletzt deswegen, weil nicht jede inferentiell markierte Aussage
notwendigerweise einen epistemisch modalen Wert innehat . Und umgekehrt:
nicht jede epistemisch modal als „notwendig“ (d .h . im Deutschen z .B . mit
müssen) markierte Aussage stellt zwingend Ergebnis eines Schlussfolgerungsprozesses dar .
Stattdessen wird hier dafür plädiert, ein Implikationsverhältnis (und nicht ein
Identitätsverhältnis) zwischen diesen Sub-Kategorien anzunehmen .
„In particular, an indirect evidential, which indicates that the speaker has only indirect knowledge concerning the proposition being asserted, implies that the speaker is not totally committed to the truth of that proposition and thus implies an epistemic value .“ (Bybee/ Perkins/
Pagliuca 1994: 180) (unsere Hervorhebung)
Das bedeutet im Wesentlichen, dass die beiden Sub-Kategorien miteinander in einem stabilen Implikationsverhältnis stehen, das allerdings nicht permanent aktiv
ist bzw . aktiviert wird . Aus dieser Perspektive lässt sich unter anderem erklären,
warum die Kategorien häufig miteinander vermengt werden und auch durch gleiche
sprachliche Mittel zum Ausdruck gebracht werden . Es wird aus dieser Sicht nämlich nicht ausgeschlossen, dass diese Sub-Kategorien auch unabhängig voneinander
konzipiert, realisiert und ausgedrückt werden können . Zwei Argumente sprechen
für diese Auffassung:
1 . empirisches Argument
Es gibt Sprachen, die nicht explizit zwischen epistemischer Modalität und (inferentieller) Evidentialität unterscheiden und dementsprechend linguistische Markierungen mit undifferenzierten Bedeutungen haben . Allerdings gibt es auch genügend
Sprachen, die für die Konzepte der jeweiligen Sub-Kategorie separate Ausdrucksmittel besitzen und somit keine Überschneidung bzw . eine klare konzeptuelle Trennung der beiden vorweisen, vgl .:
„The inferred in a three-term system may acquire epistemic extensions of uncertainty and
probability – as in Quang and in Tsafiki. In Shipibo-Konibo, both inferred evidentials (-bira
and -mein) have overtones of uncertainty and doubt . In some four-term systems, only nonvisual acquires epistemic extensions, since it may imply that the speaker is not in control .
But this is by no means universal . Many multi-term systems require subtle precision in
indicating how the information was obtained, which leaves little leeway for uncertainty .
Thus, epistemic meanings are not expressed through evidentials . Moreover, languages with
multi-term evidentials generally tend to have a multiplicity of other verbal categories, especially ones that relate to modalities – examples include Tsafiki, and Tariana.“ (Aikhenvald 2003: 15) (unsere Hervorhebung)
122
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
2 . logisches Argument
Das Implikationsverhältnis der beiden Sub-Kategorien ist bidirektional . Das bedeutet, dass von einer auf die andere geschlossen werden kann und umgekehrt . Für die
Richtung inferentielle Evidentialität > epistemische Notwendigkeit gilt: Man ist sich
normalerweise nie hundertprozentig sicher, ob die Schlussfolgerung gilt, auch wenn
die Prämisse eindeutig wahr ist (gilt vor allem für induktive und abduktive Schlüsse) .
Die Schlussfolgerung wird immer den Status einer (starken) Hypothese haben . Für
die Richtung epistemische Notwendigkeit > inferentielle Evidentialität kann formuliert werden: Je höher der Sicherheitsstaus der Aussage, umso wahrscheinlicher ist,
dass die Sprecherin/ der Sprecher für sie „gute Gründe“ (bzw . Evidenzen) hat .
Alleine diese simple Rekonstruktion der Implikationsverhältnisse zeigt deutlich, dass es sich um zwei unterschiedliche, aber sehr eng miteinander zusammenhängende konzeptuelle Bereiche handelt .
Für das Deutsche, das alle Evidentialitätsmarker im Feld der inferentiellen Evidentialität hat, wäre also anzunehmen, dass sie typischerweise eine epistemische
Färbung haben können (aber nicht müssen) .
Im Folgenden wird anhand einiger Paraphrasen demonstriert, dass – auch wenn
für das Deutsche eine sehr enge Verbindung von epistemischer Modalität und inferentieller Modalität angenommen werden kann – diese Verbindung genau der von
uns vertretenen Position entspricht . Nämlich: deutsche Evidentialitätsmarker weisen in ihrer Bedeutung epistemisch modale Nuancen auf, die in ihrem Status am
besten als (konversationelle) Implikaturen und nicht als inhärente Bestandteile ihrer Semantik verstanden werden sollten . Umgekehrt gilt: deutsche epistemisch gebrauchte Modalverben weisen in ihrer Bedeutung evidentielle Nuancen auf, die in
ihrem Status am besten als (konversationelle) Implikaturen und nicht als inhärente
Bestandteile ihrer Semantik aufgefasst werden sollten .
Die reinen Faktizitätsmarker – die Ausdrücke der epistemischen Modalität im engen
Sinn – enthalten in ihrer Semantik keinerlei Bezug auf eine „Informationsquelle“ . Sie
enkodieren die bloße Tatsache, dass der Sachverhalt von der Sprecherin/ vom Sprecher
einen bestimmten (d .i . unsicheren) Faktizitätswert zugewiesen bekommen hat . Sie machen also keine Aussage über Quellen oder Gründe, die die Sprecherin/ den Sprecher
zu dieser bestimmten Faktizitätsbewertung bewegt haben . Dabei ist die Möglichkeit
einer expliziten Erwähnung wie unten in (8) bzw . eines implizit mitgedachten (d .h .
kontextuell erschließbaren) Bezugs auf eine Informationsquelle wie in (9) prinzipiell
immer gegeben . Zu beachten ist jedoch, dass dieser Bezug auf eine Informationsquelle
nicht durch den Evidentialitätsausdruck evoziert wird, sondern eben kontextuell „hinzugefügt“ wird . Das wird hier am Beispiel des deutschen Modalverbs müssen exemplifiziert, das als Marker der epistemischen Notwendigkeit fungiert:
(7)
Sie muss ihre Doktorarbeit abgegeben haben.
(8)
Ich habe sie gestern auf der Party gesehen. Sie muss ihre Doktorarbeit abgegeben
haben.
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
(9)
123
[Der Sprecher ist auf der Party und unterhält sich mit dem Hörer . Beide können die Person sehen .] > Sie muss ihre Doktorarbeit abgegeben haben.
In (8) werden die Evidenzen explizit genannt, in (9) wird eine Situation konstruiert, in der ein Bezug auf Evidenzen angenommen werden kann . Wichtig ist,
dass in allen drei Fällen in (7) bis (9) die Proposition „sie hat ihre Doktorarbeit
abgegeben“ von der Sprecherin/ vom Sprecher nicht als „faktisch“ dargestellt
wird . In anderen Worten: die Sprecherin/ der Sprecher weiß einfach nicht bzw .
sie/ er ist sich nicht hundertprozentig sicher, ob das der Fall ist . Diese Einstellung der Sprecherin/ des Sprechers bezüglich des dargestellten Sachverhalts
wird mittels müssen markiert . Es sei noch einmal hervorgehoben, dass müssen
an sich keinerlei Aussage darüber macht, ob der Sprecherin/ dem Sprecher irgendwelche Evidenzen für den Sachverhalt vorliegen .
Die reinen Evidentialitätsmarker – die Ausdrücke der Evidentialität im engen
Sinn – dagegen enthalten in ihrer Semantik keinerlei Informationen über den
Faktizitätsgrad des dargestellten Sachverhalts . Sie enkodieren die bloße Tatsache,
dass die Sprecherin/ der Sprecher den Sachverhalt aus einer Informationsquelle
bezieht . Allerdings gilt für Evidentialitätsmarker analog das, was oben mit umgekehrten Vorzeichen schon für epistemische Marker festegestellt wurde, nämlich,
dass das gleichzeitige Vorhandensein einer (unsicheren) Faktizitätsbewertung des
Sachverhalts durch die Sprecherin/ den Sprecher nicht ausgeschlossen ist . Wie am
Beispiel des deutschen Verbs scheinen in (10) bis (12) ersichtlich, kann die unsichere Faktizitätsbewertung entweder explizit ausgedrückt werden, wie in (11),
oder aus dem kommunikativen Kontext erschlossen werden, wie in (12) .
(10) Sie scheint ihre Doktorarbeit abgegeben zu haben.
(11) Sie scheint ihre Doktorarbeit abgegeben zu haben. Ich bin (ziemlich/ fast/ sehr) sicher,
dass sie das noch rechtzeitig geschafft hat.
(12) A: – Sie scheint ihre Doktorarbeit abgegeben zu haben.
B: – Dann hat sie es also noch rechtzeitig geschafft?
A: – Naja, ich weiß es nicht genau, aber ich habe sie gestern auf der Party gesehen.
In allen drei Fällen wird die Proposition „sie hat ihre Doktorarbeit abgegeben“
von der Sprecherin/ vom Sprecher auf der Basis irgendwelcher Informationen
geschlussfolgert, was durch das Verb scheinen zum Ausdruck gebracht wird . Es
wird also ausgesagt, dass die Sprecherin/ der Sprecher über Informationen verfügt, die daraufhin deuten, dass das Dargestellte der Fall ist . Diese Quellenlage
der Sprecherin/ des Sprechers wird mit scheinen markiert . Es sei noch einmal
betont, dass scheinen an sich keinerlei Aussage darüber macht, ob die Sprecherin/
der Sprecher sich des Sachverhalts mehr oder weniger sicher ist . Diese Informationen können aus dem Kontext erschlossen oder explizit genannt werden .
124
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
An dieser Stelle sei noch einmal auf typologische Arbeiten zu Evidentialität verwiesen, die zahlreiche Evidenzen für das unabhängige Existieren von epistemischer
Modalität und (inferentieller) Evidentialität liefern . Zum einen ist aufgezeigt worden, dass evidentielle und modale Marker in einem Satz kombiniert werden können .
Das deutet daraufhin, dass diese Ausdrucksmittel zwei voneinander unabhängige
und einander nicht ausschließende Bedeutungen transportieren:
„In a number of languages, evidentiality marking is mutually exclusive with mood and modality, as is the case in Abkhaz and in many Samoyede languages . However, in Western Apache,
Jarawara and Tariana, mood and modality markers can occur together with evidentials.“ (Aikhenvald 2003: 16)
Zum anderen können evidentielle Ausdrücke ohne jegliche epistemischen Nuancen
auftreten . Dies ist auch übereinzelsprachlich belegt:
„For Kashaya Pomo, a Hokan language spoken in Northern California, Oswalt says that ‘it
might be noted that … all propositions with the Kashaya evidentials are presented by the speaker as certain and true’ (1986: 43) . For Iquito, a Zaparoan language from the Andes, Eastman
and Eastman say, ‘regarding the reportative suffix -na and free form kináhá “so it is said”, [their
use] does not mean to cast doubt as to the truth of the statement, but merely implies that it is
a reported statement (1963: 191) . Finally, in Coos, an Oregon Pentutian language, the evidential
particle cku denotes evidence based on inference . Frachtenberg (1922: 388) analyses this morpheme as being composed of cə ‘slight surprise’ and ku ‘dubitative’ . Regarding the status of this
evidential, Frachtenberg notes that it is used ‘whenever the speaker wishes to state a fact that occurred beyond doubt, but whose causes are not known to him (1922: 388) . […] The hypothesis
I am using is that evidentials are in fact a priori unmarked with respect to a commitment to
the truth of the speech utterance on the part of the speaker. Evidentials merely assert that
there is evidence to back up the speaker’s utterance. Any connection between the two […]
is secondary in nature. They encode different things (source of information vs. attitude towards that information). Although they are closely enough related to cause overlap in some
languages, this overlap is not universal.“ (De Haan 1999: 89 f .) (unsere Hervorhebung)
Es kann hier zusammenfassend formuliert werden, dass die Situation, die weiter oben
anhand der deutschen Beispiele mit müssen und scheinen umrissen wurde, für viele
Sprachen belegt ist (s . auch de Haan 1999 für das Niederländische) und einen universellen Charakter zu haben scheint . Die deutschen Evidentialitätskonstruktionen
haben also epistemische Färbung, sind allerdings nicht inhärent epistemisch .
Weitere Tests – wiederum am Beispiel von scheinen und müssen illustriert – sollen zur Unterstützung der hier vertretenen These hinzugezogen werden:
(13) Sie scheint ihre Arbeit abgegeben zu haben.
(14) … Ich vermute das, (weil ich sie gestern auf der Party gesehen habe.)
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
125
(15) … Ich bin mir (dessen sehr) sicher, (weil ich sie gestern auf der Party gesehen habe.)
(16) … Ich weiß das ganz genau, (sie war doch gestern auf der Party.) etc.
An der Beispielreihe (13) – (16) wird ersichtlich, dass dem deutschen Evidentialitätsmarker scheinen keine bestimmten epistemisch modalen Werte zugeordnet werden können . Es lässt sich ohne Komplikationen mit vielen möglichen epistemisch modalen Werten kombinieren: von sicherem Wissen in (16)
über die hohe Sicherheit wie in (15) und bis hin zur (schwachen) Vermutung
wie in (14) . Dieses variable Kombinationsvermögen von scheinen & zu & Infinitiv mit unterschiedlichen epistemisch modalen Werten und Ausdrücken lässt
erkennen, dass diese Konstruktion sich nicht in das Paradigma der epistemisch
gebrauchten Modalverben einordnen lässt . Dasselbe gilt auch für andere evidentiellen Konstruktionen des Deutschen .
Das Umgekehrte gilt auch für epistemisch gebrauchten Modalverben . Wie
das Beispiel des Verbs müssen samt hinzugefügten Sätzen in (17) – (20) zeigt,
können potenziell unterschiedliche Informationsquellen angenommen werden,
aus denen die Sprecherin/ der Sprecher den dargestellten Sachverhalt beziehen
könnte:
(17) Sie muss die Arbeit abgegeben haben.
(18) … Katarina hat es mir erzählt.
(19) … Ich habe sie gestern auf der Party gesehen.
(20) … Ich habe sie mit einem großen Packet in Richtung Uni gehen sehen.
etc.
In (18) dient das Hörensagen als Informationsquelle, in (19) und (20) sind visuell wahrgenommene Informationen, die mit dem Sprecherwissen über den
beschriebenen Sachverhalt verbunden werden, also Schlussfolgerungen aus den
aktuell wahrgenommenen Evidenzen . Die hier aufgezeigte Offenheit von müssen & Infinitiv gegenüber unterschiedlichen evidentiellen Werten und Ausdrücken macht deutlich, dass diese Konstruktion sich nicht in das Paradigma der
evidentiellen Distinktionen einordnen lässt, weil sie eben keinen eindeutigen
evidentiellen Wert transportiert . Dasselbe gilt auch für andere epistemisch modale Konstruktionen des Deutschen .
Eine konstruierte Analogie mag an dieser Stelle das beschriebene Verhältnis
zwischen epistemischer Modalität und inferentieller Evidentialität veranschaulichen . Die deutschen Verben fahren und ankommen bezeichnen offensichtlich
zwei unterschiedliche verbale Ereignisse, die allerdings in einem sehr engen
konzeptuellen (Implikations-)Verhältnis zueinander stehen . So kann man nur
126
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
dann irgendwo ankommen, wenn man vorher gefahren ist, d .h . auch umgekehrt,
dass der Vorgang des Fahrens normalerweise immer mit einer Ankunft endet .
Dabei kann sowohl der Prozess des Fahrens als auch das Ereignis des Ankommens weiter spezifiziert werden, und zwar nach jeweils geeigneten Kriterien.
Fahren kann z .B . schnell oder langsam sein, es kann problemlos ablaufen oder
nicht, es kann weiterhin mit unterschiedlichen Beförderungsmitteln erfolgen:
Eisenbahn, Bus, Auto, Fahrrad usw . Ankommen andererseits kann rechtzeitig
oder verspätet oder auch verfrüht sein, es kann sich an unterschiedlichen Plätzen ereignen, und es kann auch Freude bereiten oder nicht usw . Es ist außerdem
evident, dass das langsame Fahren normalerweise verspätete Ankunft nach sich
zieht, genauso wie eine Zugfahrt eine Ankunft an einem Bahnhof impliziert .
Diese Tatsache führt aber nicht automatisch dazu, dass die Konzepte fahren
und ankommen als eine einheitliche Kategorie aufgefasst werden, kurz: ein
und dasselbe bedeuten; zumal die beiden Konzepte (nur) nach verschiedenen
Merkmalen weiterspezifiziert werden können.
Ähnlich verhält es sich nun mit den Kategorien epistemische Modalität und
inferentielle Evidentialität . Dass eine epistemisch modal markierte Aussage
aus Schlussfolgerungsprozessen hervorgegangen sein kann, und dass eine inferentiell evidentiell markierte Aussage einen unsicheren Faktizitätsgrad haben
kann, bedeutet nicht automatisch, dass es sich um ein und dieselbe einheitliche
Kategorie handelt . Zumal innerhalb der jeweiligen Kategorie (nur) verschiedene Differenzierungen möglich sind .
Um kurz zusammenzufassen: Das in Diewald (2004) vorgeschlagene Modell, dass für die beiden Domänen eine einheitliche Kategorisierung vorsah,
bedarf einer Revidierung . Zum einen soll eine Trennung in zwei Systeme mit
konversen Verteilungen von inhärenter Semantik und konversationeller Implikatur erreicht werden – für die oben ausführlich plädiert wurde . Zum anderen
sollen neue Merkmalsbezeichnungen für kategorieinterne Distinktionen eingeführt werden, die eine engere Anbindung an typologische Studien und eigene
Korpusarbeit widerspiegeln sollen . Das revidierte Modell, das diesen Anforderungen entspricht, wird im nächsten Abschnitt vorgestellt .
4. Das sich entwickelnde System evidentieller Distinktionen im Deutschen:
zweiter Versuch
In diesem Beitrag wird angestrebt, einerseits eine systematische Darstellung des
sich entwickelten Systems der evidentiellen Markierungen des Deutschen zu präsentieren und andererseits dieses System vom Paradigma der deutschen modalen
Markierungen abzugrenzen .
Unseren obigen Ausführungen folgend und uns auf die Ergebnisse durchgeführter Korpusanalysen stützend, schlagen wir vor, das evidentielle System des
Deutschen wie in Abb . 5 zu charakterisieren:
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
127
Evidentialität
inferentielle Evidentialität
- spezifische
Evidenzen
werden
+ spezifische Evidenzen
(+)/- aktuell
wahrgenommene
Evidenzen
scheinen
+ aktuell wahrgenommene Evidenzen
- erwünscht
+ erwünscht
drohen
versprechen
Abb . 5: Evidentielle Distinktionen im heutigen Deutsch
Die deutschen Infinitivkonstruktionen werden & Infinitiv, scheinen/ drohen/
versprechen & zu & Infinitiv, die im heutigen Deutsch bereits einen sehr starken
Grammatikalisierungsgrad aufweisen und in ihrer grammatischen Funktion als
Evidentialitätsmarker fungieren, dienen dem Ausdruck der inferentiellen Evidentialität . Das bedeutet, dass sie alle das semantische Merkmal ‘inferentiell evidentiell’ repräsentieren und es gemeinsam haben, kurz: sie konstituieren das Paradigma der inferentiellen Evidentialität .
Gleichzeitig bilden sie untereinander ein strukturiertes Paradigma, das auf (jeweils
binär aufgebauten) Unterscheidungen basiert . Diese Unterscheidungen sind gleichzeitig Spezifizierungen des gemeinsamen semantischen Wertes ‘inferentiell evidentiell’.
Die erste relevante Unterscheidung innerhalb des deutschen evidentiellen Systems ist die Opposition [+/- spezifische Evidenzen], wobei hier die Konstruktion
werden & Infinitiv allen anderen Konstruktionen gegenübersteht. Während durch die
Verwendung von werden & Infinitiv die Sprecherin/ der Sprecher (lediglich) darauf
hinweist, dass der dargestellte Sachverhalt das Ergebnis eines Schlussfolgerungsprozesses ist, ohne dass die Prämissen dieser Schlussfolgerung in irgendeiner Weise
spezifiziert sind, transportieren alle anderen Konstruktionen eine besondere Spezifizierung von Prämissen . Werden & Infinitiv bringt also zum Ausdruck, dass die Sprecherin/ der Sprecher den dargestellten Sachverhalt aus irgendwelchen Informationen
schlussfolgert, wie in (21) . Diese Informationen können entweder perzeptiver Natur
sein, oder aus zweiter Hand stammen oder auch zum persönlichen (oder zum allgemeinen) Wissen der Sprecherin/ des Sprechers gehören .
Die zweite relevante Unterscheidung, oder die zweite Stufe der Hierarchie, ist
die Opposition [+/- aktuell wahrgenommene Evidenzen], wobei hier die Konstruktion scheinen & zu & Infinitiv einerseits und die Periphrasen drohen/ versprechen & zu & Infinitiv andererseits einander gegenüberstehen. Scheinen verweist
darauf, dass die Prämissen für die geäußerte Schlussfolgerung spezifischer Natur
sind, d .h . dass die Sprecherin/ der Sprecher in Besitz von bestimmten Informationen gelangt ist, die sie/ ihn zu dieser Schlussfolgerung veranlassen, vgl . (22) .
Diese Informationen können wiederum – wie bei werden – entweder perzeptiver Natur sein oder aus zweiter Hand stammen . Es ist allerdings ausgeschlossen,
dass die Sprecherin/ der Sprecher die Aussage auf persönliches oder allgemeinzugängliches Wissen stützt .
128
Gabriele Diewald und Elena Smirnova
Die Konstruktionen drohen/ versprechen & zu & Infinitiv andererseits verweisen normalerweise darauf, dass die Schlussfolgerung auf (i) bestimmten Prämissen basiert, die (ii) aktuell wahrgenommen bzw . aktuell wahrnehmbar sind, vgl .
(23) – (24) . Das bedeutet, dass die Prämissen für die Schlussfolgerung in der aktuellen Sprechsituation in irgendeiner Weise direkt wahrgenommen werden können: Meist handelt es sich um perzeptive Eindrücke .
Die Opposition zwischen drohen und versprechen besteht in der positiven vs .
negativen Evaluation des dargestellten Sachverhalts, vgl . (23) versus (24) . Diese
Opposition hat keinen inhärent evidentiellen Charakter und ist auf die lexikalische Semantik der beiden Verben zurückzuführen .
(21) In Hannover wird es regnen.
[Aussage basiert auf Schlussfolgerungen, Prämissen nicht weiter spezifiziert]
(22) In Hannover scheint es zu regnen.
[Aussage basiert auf Schlussfolgerungen, Prämissen sind spezifiziert als direkt oder indirekt zugängliche Information]
(23) In Hannover droht es zu regnen.
[Aussage basiert auf Schlussfolgerungen, Prämissen sind spezifiziert als direkt zugängliche Information, Sachverhalt nicht erwünscht]
(24) In Hannover verspricht es zu regnen.
[Aussage basiert auf Schlussfolgerungen, Prämissen sind spezifiziert als direkt zugängliche Information, Sachverhalt erwünscht]
Das System der evidentiellen Markierungen bildet eine vom modalen Paradigma
des Deutschen unabhängige grammatische Kategorie (vgl . den vorhergehenden
Abschnitt) . Wie oben beschrieben, sind einzelne Werte innerhalb des evidentiellen Paradigmas so verteilt, dass sie (i) einerseits Kriterien folgen, die für die
Domäne Evidentialität eine hohe Relevanz haben (ausgenommen die Opposition
zwischen den Konstruktionen mit drohen und versprechen, die auf den schwächeren Grammatikalisierungsgrad dieser Periphrasen zurückgeführt werden kann);
und (ii) andererseits eindeutig von den modalen Werten unterschieden sind .
Das modale System im heutigen Deutsch lässt sich nun wie in Abb . 6
charakterisieren:
Faktizität
Realisierung durch Verbmodus
Realisierung durch
Modalverb
unsichere Faktizität
rein deiktisch
phorisch
quotativ
können / müssen
(28)
Konjunktiv II
(27)
dürfte / mag
(29)
Konjunkiv I
(26)
sollen / wollen (30)
Indikativ
(25)
Abb . 6: Modale Distinktionen im heutigen Deutsch
Abgrenzung von Modalität und Evidentialität…
129
Die Tabelle wiederholt im Wesentlichen das Modell, das in Diewald (2004) erarbeitet und vorgestellt wurde, mit der wichtigen Modifikation, dass die evidentiellen Periphrasen jetzt nicht mehr in das System integriert werden . Aus diesem
Grund wird hier auf einzelne modale Differenzierungen innerhalb des Systems
nicht näher eingegangen (für eine ausführliche Darstellung s . Diewald 2004) . Die
unten stehenden Beispiele mit beigegebenen Paraphrasen exemplifizieren kurz
die Distinktionen innerhalb des deutschen modalen Systems:
(25) In Hannover regnet es.
[Faktizitätsaussage]
(26) In Hannover regne es.
[quotativ, unsichere Faktizität als Implikatur]
(27) In Hannover würde es regnen.
[phorisch bedingte Nicht-Faktizität]
(28) In Hannover muss/ müsste/ kann/ könnte es regnen.
[unsichere Faktizität, keine Nebenbedeutung]
(29) In Hannover dürfte/ mag es regnen.
[phorisch bedingte unsichere Faktizität]
(30) In Hannover soll es regnen.
[quotativ, unsichere Faktizität als Implikatur]
Zusammenfassend können die eingangs gestellten Fragen wie folgt beantwortet
werden:
Bezüglich der Frage der Abgrenzung evidentieller und epistemisch modaler
Distinktionen haben wir in diesem Beitrag gezeigt, dass evidentielle und (epistemisch) modale Distinktionen im Deutschen zwei separate Systeme bilden, die über
eigene Ausdrucksmittel verfügen und die intern in strukturierten Paradigmen mit je
eigenen distinktiven Merkmalen organisiert sind .
Zur Frage nach den Überschneidungsbereichen zwischen beiden Domänen lässt
sich festhalten, dass die beiden Systeme zwar eigenständige, unabhängig voneinander existierende Paradigmen darstellen, dass diese jedoch in einem sehr engen
Verhältnis miteinander stehen: Sie weisen konverse Verteilungen von inhärenter
Semantik und konversationeller Implikatur auf .
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Tanja Mortelmans
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben
must, müssen und moeten nicht entsprechen
1. Einführung
Im vorliegenden Beitrag sollen das englische Modalverb must und sein unmittelbares Pendant im Deutschen (müssen) und Niederländischen (moeten) unter die
Lupe genommen werden . Mittels einer kontrastiven Analyse auf der Grundlage eines selbst erstellten Korpus wird dabei untersucht, wie sich der Funktionsbereich
des Verbs in den drei Sprachen gestaltet . Außerdem soll der Frage nachgegangen
werden, wie sich die auffälligen Unterschiede zwischen den drei Sprachen erklären
lassen . Es soll dabei gezeigt werden, dass Aussagen über englisches must weder auf
das deutsche müssen noch auf das niederländische moeten bezogen werden können,
weil es nur in den wenigsten Fällen eine deutliche Überschneidung der drei Verben
gibt . Vielmehr scheint es der Fall zu sein, dass der konzeptuell-semantische Bereich
der Notwendigkeit sprachlich sehr unterschiedlich gestaltet werden kann: Bestimmte
„Notwendigkeitsarten“ werden im Englischen konventionell anders zum Ausdruck
gebracht als im Deutschen bzw . im Niederländischen, auch wenn in den drei Sprachen ein müssen-Verb zur Verfügung steht . Die Unterschiede zwischen Englisch,
Deutsch und Niederländisch lassen sich dabei nicht nur auf semantisch-funktionale, sondern auch auf formale Eigenschaften (und zwar auf einen unterschiedlichen
Grammatikalisierungsgrad des betreffenden Modalverbs) zurückführen .
1 .1 . Die Semantik der Modalverben
Bekanntlich gibt es zur Beschreibung des Bedeutungsspektrums der Modalverben
eine sehr reiche Skala an möglichen Klassifikationen. Als wichtige Weichensteller
erwähnt Nuyts (2006) unter anderem van der Auwera / Plungian (1998), Palmer
(1986, 2001) und Bybee / Perkins / Pagliuca (1994)1 . Nuyts schlägt selber „als
1 Kennzeichnend für van der Auwera / Plungian (1998) ist (im nicht-epistemischen Bereich)
die Unterscheidung zwischen participant internal modality und participant external modality, wobei deontische Modalität als eine Subkategorie der partizipant-externen Modalität betrachtet wird . Palmer (1986) unterscheidet als wichtigste Subkategorien epistemic modality
(„any modal system that indicates the degree of commitment by the speaker to what he says“
(Palmer 1986: 51) und deontic modality („[…] is concerned with language as action, mostly
with the expression by the speaker of his attitude towards possible actions by himself and
others” (Palmer 1986: 121) . Palmer (2001) führt eine Dichotomie zwischen event modality
(die sowohl dynamische als auch deontische Modalität umfasst) und propositional modality
(welche die Kategorien epistemische Modalität und Evidentialität abdeckt) ein . Der Ansatz
von Bybee / Perkins / Pagliuca (1994) enthält die Kategorie der speaker oriented modality, die sich von agent-oriented modality, einerseits, und epistemic modality, andererseits,
134
Tanja Mortelmans
traditionelle Version“ (Nuyts 2006: 2) die Dreiteilung2 dynamisch, deontisch und
epistemisch vor, die allerdings auch verschiedentlich definiert werden kann. Palmer (2001) versteht unter deontischer bzw . dynamischer Modalität Folgendes:
„Deontic modality relates to obligation or permission, emanating from an external source,
whereas dynamic modality relates to ability or willingness, which comes from the individual
concerned .“ (Palmer 2001: 9-10)
Während Palmer (1986) deontische Modalität (wie die ganze Kategorie Modalität überhaupt) noch als inhärent subjektiv (i .e . „concerned with the attitudes and
opinions of the speaker“ Palmer 1986: 17)) betrachtet, räumt er nichtsubjektiven
(d .h . nichtsprecherbezogenen) Modalitätsarten in seinen späteren Arbeiten eine
wichtigere Stellung ein . So sei deontische Modalität zwar „typisch“ und „frequent“, aber nicht zwangsweise sprecherbezogen3 .
„[…] typically and frequently the authority is the actual speaker, who gives permission to, or
lays an obligation on, the addressee .“ (Palmer 2001: 10)
Die Kategorie der epistemischen Modalität bringt „the degree of probability of
the state of affairs” (Nuyts 2006: 6) zum Ausdruck . Die Frage, ob und inwiefern
sich diese Kategorie von der Evidentialität unterscheidet, deren Marker an erster Stelle auf Evidenzen (Informationsquellen) verweisen, die der Sachverhaltsdarstellung zugrunde liegen, ist extrem strittig (vgl . etwa Nuyts 2006: 10 ff . für
einen Überblick über die möglichen Positionen) . Zunächst einmal soll zu dieser
Problematik keine weitere Stellung bezogen werden . Ich möchte mich an dieser
Stelle nur auf den Hinweis beschränken, dass gerade das Modalverb must4 in der
einschlägigen Literatur öfters als Zwitter aufgeführt wird, der epistemische (als
Marker einer hohen Wahrscheinlichkeitseinschätzung) und evidentielle (aufgrund
seiner inferentiellen Komponente, vgl . etwa Coates 1983: 41, Palmer 1986: 64)
Merkmale kombiniert .
Für die deutsche Sprache dürfte die Klassifikation der deutschen Modalverben
in Diewald (1999) maßgebend sein: Sie unterscheidet zunächst zwischen epistemischen (in Diewalds Terminologie: deiktischen) und nichtepistemischen (nichtdeiktischen) Verwendungen der Modalverben . In letzterer Gruppe gibt es dann
abhebt . Mit Markern der speaker oriented modality werden Direktiva zum Ausdruck gebracht, mit denen der Sprecher den Adressaten zum Handeln bewegen will .
2 Besonders in der amerikanischen Tradition wird oft nur zwischen epistemischer und nichtepistemischer Modalität (der sogenannten ‘root modality’) unterschieden .
3 So bietet laut Nuyts (2006) deontische Modalität eine „indication of the degree of moral
desirability of the state of affairs expressed in the utterance, typically but not necessarily, on
behalf of the speaker“ (Nuyts 2006: 4) .
4 Ähnliches gilt für die Pendants von must in den romanischen Sprachen (sp . deber, fr . devoir,
it . devere), für die ebenfalls epistemische und evidentielle Züge nachgewiesen werden (vgl .
etwa Cornillie 2007, Dendale 1994, Squartini 2004) .
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben…
135
eine weitere Einteilung in dispositionelle (können, müssen), deontische (sollen, dürfen)
und volitive (mögen, wollen) Modalität, wobei deontische Modalität „mit interpersonalen Beziehungen im Bereich direktiver Kommunikationssituationen“ (Diewald 1999:
74) zu tun habe, während die dispositionelle Modalität sich auf „innere oder äußere
Fähigkeiten und Dispositionen des Subjekts” (Diewald 1999: 76) beziehe .
In diesem sehr knappen Überblick möchte ich zwei Elemente besonders hervorheben: (1) die wichtige Stellung der epistemischen Modalität, die in den meisten Klassifizierungen als separate Kategorie gilt, wobei allerdings undeutlich ist,
ob epistemische Modalität und Evidentialität unter einen Hut zu bringen sind, und
(2) die problematische Stellung der deontischen Modalität, d .h . der Modalitätsart,
die Aufforderungen und Erlaubnisse zum Ausdruck bringt . Die deontische Modalität gilt nicht nur als personenbezogen, sondern neigt – wie schon erwähnt wurde
– zu einer starken Sprecherbezogenheit (indem die personale modale Quelle der
Obligation oder Erlaubnis mit dem Sprecher gleichgesetzt werden kann) . Ob diese Sprecherbezogenheit (welche die deontische Modalität mit der epistemischen
Modalität verbindet) dieser Modalitätsart einen Sonderstatus verleiht, ist unklar .
1 .2 . Epistemische Modalität
Ein besonderes Augenmerk in diesem Beitrag gilt den epistemischen Verwendungen
des Modalverbs, die beim englischen must am deutlichsten ausgeprägt sind, im niederländischen und im deutschen Korpusmaterial allerdings nur spärlich belegt sind,
was aber nicht heißen soll, dass es sie nicht gibt .5 Die epistemischen Verwendungen
von must (bzw . müssen bzw . moeten) sind aus mehreren Gründen interessant . Erstens
gelten sie – in den germanischen Sprachen wenigstens – als formal stärker grammatikalisiert als die nichtepistemischen (vgl . Plank 1981, 1984) .6 Zweitens kann davon
ausgegangen werden, dass die durch das Modalverb bezeichnete modale Notwendigkeitsrelation in der epistemischen Lesart tendenziell subjektiver konstruiert wird
(im Sinne von Langacker) als in der nichtepistemischen Lesart .
„But if I express an epistemic judgment by saying It may rain this afternoon, that judgment
has no influence on the likelihood of it actually raining. The locus and direct consequences
of the potency are internal to the conceptualizer, pertaining to the state of the speaker’s
knowledge and how it might evolve . The potency inheres in an offstage mental simulation of
5 Nach Nuyts (2001: 174-175) gehört ndl . moeten zu den wenigen Modalverben im Niederländischen, die überhaupt eine epistemisch/evidentielle Bedeutung entwickelt haben (er erwähnt außer moeten noch kunnen und zullen) . Die Liste der deutschen epistemischen Modalverben ist ein wenig länger: können, werden, mögen (im Indikativ), dürfen (im Konjunktiv
II), müssen und sollen .
6 Dem muss hinzugefügt werden, dass der Grammatikalisierungsgrad der Modalverben im Englischen höher ist als im Deutschen (Heine 1993: 72 ff .) und im Niederländischen (Goossens
1983), unabhängig davon, ob sie nichtepistemisch oder epistemisch verwendet werden .
136
Tanja Mortelmans
the speaker’s reality conception evolving along a certain path . It resides in the mental effort
expended and subjectively experienced in simulating the growth of Rc [the conceptualizer’s
reality conception] along a path by which it comes to encompass the grounded process .“
(Langacker 2008: 306) .
In diesem Zusammenhang erhebt sich die Frage, ob epistemisches must – aufgrund
seines höheren Grammatikalisierungsgrads – die modale Relation irgendwie noch
abstrakter und subjektiver konstruiert als seine deutschen und niederländischen Pendants . Dies würde bedeuten, dass der sog . Ground (d .h . die Basiselemente der kanonischen Sprechsituation: Sprecher, Hörer, das Sprechereignis und die unmittelbaren
Begleitumstände des Sprechens, vgl . Langacker 2008: 78) bei der Verwendung von
must mit maximaler Subjektivität konstruiert wird, sodass er – wenn er auch als Referenzpunkt fungiert – implizit und daher maximal abwesend ist . Drittens bietet gerade
– wie bereits in 1 .1 . erwähnt wurde – die durch must kodierte inferentielle Modalität
ein Beispiel für eine Bedeutung, die sowohl der Kategorie der Evidentiälität als auch
der epistemischen Modalität zugeschlagen werden kann .
„[…] the inferential reading amounts to epistemic modality and more particularly epistemic necessity . […] [I]t […] causes no surprise that inferential evidentials often receive an
English translation with epistemic must . Inferential modality is thus regarded as an overlap
category between modality and evidentiality .“ (van der Auwera / Plungian 1998: 85 f .)
2. Das Korpus: erste Befunde
Das kontrastive Korpus wurde folgendermaßen zusammengestellt: In den ersten
elf Kapiteln aus dem von Nicci French7 im Englischen verfassten Roman The
memory game8 und dessen Übersetzungen ins Deutsche (Der Glaspavillon) bzw .
Niederländische (Het geheugenspel) wurde alle Belege gesammelt, die wenigstens in einer der drei Sprachen eine Form von must bzw . moeten bzw . müssen
7 Nicci French ist das Pseudonym des englischen Schriftstellerpaars Nicci Gerrard (geb . 1958)
und Sean French (geb . 1959), die beide in England wohnen und arbeiten . Die Befunde in
diesem Beitrag betreffen also die UK-Variante des Englischen, über andere Varianten werden grundsätzlich keine Aussagen gemacht . Der betreffende Roman wurde gewählt, weil er
der Gattung der „literarischen (d .h . sprachlich und inhaltlich anspruchsvolleren) Krimis“
zugeordnet werden kann, was sich auf die Qualität der Übersetzung auswirkt . In diesem
Zusammenhang ist allerdings noch zu bemerken, dass die Qualität der niederländischen
Übersetzung eindeutig höher ist als der deutschen, was sich unter anderem daran zeigt, dass
bestimmte Stellen in der deutschen Übersetzung manchmal einfach gestrichen wurden oder
ungenau (d .h . weniger originalgetreu) oder sogar fehlerhaft übersetzt wurden .
8 Es handelt sich um folgende Ausgaben: French, Nicci (1998): The Memory Game . London:
Penguin; French, Nicci (1999): Der Glaspavillon . Deutsch von Petra Hrabak, Barbara Reitz
und Christine Strüh . München: Goldmann Verlag; French, Nicci (1997): Het geheugenspel .
Vertaald door Gideon den Tex . Amsterdam: Ambo-Antos .
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben…
137
enthielten . Es entstand eine Sammlung von insgesamt 202 Belegen . Eine erste
auffällige Feststellung betrifft die quantitative Dominanz von ndl . moeten in diesem kontrastiven Korpus: Das niederländische Verb ist deutlich multifunktionaler
(und deshalb frequenter) als seine Pendants in beiden anderen Sprachen . Folgende Tabelle vermittelt einen ersten Überblick über die gefundenen Verhältnisse .
ndl. moeten
ja
ja
ja
ja
nein
nein
nein
155
dt. müssen
nein
ja
nein
ja
ja
ja
nein
84
engl. must
nein
nein
ja
ja
ja
nein
ja
38
insgesamt
97
39
7
12
5
28
14
202
Tabelle 1: Überblick über die Frequenzverhältnisse
Es finden sich im niederländischen Teil des Korpus 155 moeten-Belege, im
deutschen 84 müssen-Belege, während must im englischen Original nur 38-mal
vorliegt . Insgesamt gibt es in nur zwölf Belegen eine volle Korrespondenz zwischen dem englischen, deutschen und niederländischen Material (must = müssen
= moeten) . Diese Belege, in denen sich die drei Sprachen völlig überlappen, können zwei Kategorien zugeordnet werden: Es finden sich sechs epistemische (bzw.
evidentielle) Belege (vgl . (1)) und sechs subjektiv-deontische Belege (vgl . (2)),
in denen sich der Sprecher an den Adressaten (du) wendet, um ihn dazu aufzufordern, den im Infinitiv bezeichneten Sachverhalt zu verwirklichen.9
(1)
ENG Somebody must have buried the body, I said . (38)
NDL Iemand moet het lijk begraven hebben, zei ik . (36)
DT
Jemand muß die Leiche vergraben haben, sagte ich . (42)
(2)
ENG If you’re unhappy with anywhere I try to push you, well, then you must say that
[…] (88)
NDL Als je ontevreden bent met de richting waarin ik je probeer te duwen, dan moet
je dat zeggen […] . (77)
DT
Wenn Sie sich dort nicht wohl fühlen, wo ich Sie hindirigiere, müssen Sie es
sagen […] . (90)
9 Aus der Analyse sämtlicher must-Belege im Korpus, auf die hier allerdings nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, ergibt sich, dass diese beiden Kategorien tatsächlich den
Kern des must-Gebrauchs im heutigen UK-Englisch bilden . Mehr als zwei Drittel der mustBelege entfallen auf die epistemische Lesart, die restlichen sind vorwiegend als sprecherbezogen deontisch einzustufen .
138
Tanja Mortelmans
Viel frequenter sind aber solche Belege, in denen moeten zwar im niederländischen
Text auftaucht, weder aber im Deutschen noch im Englischen müssen bzw . must
entspricht (insgesamt 97 Belege). So findet sich in (3) im Englischen das volitive Verb want to, das im Deutschen relativ wörtlich mit möchtest übersetzt
wird, während im Niederländischen die Präteritalform moest erscheint . In (4)
wird das englische was supposed to ins Deutsche durch das Modalverb sollte
übersetzt, ins Niederländische wiederum durch präteritales moest . Beispiel (5)
veranschaulicht ein im Korpus relativ häufig vorliegendes Übersetzungsmuster, wobei ndl . moeten auf eine ursprünglich infinite Verbform im Englischen
(to do) zurückgeht .
(3)
ENG What did I do to you to make you want to choose this? (104)
NDL Wat heb ik dan gedaan dat jij hiervoor moest kiezen? (91)
DT
Was habe ich dir getan, daß du das hier möchtest? (105)
(4)
ENG I thought I was supposed to do all the talking . (68)
NDL Ik dacht dat ik hier degene was die moest praten . (61)
DT
Ich dachte, ich sollte reden . (71)
(5)
ENG He really was old now and his job consisted of telling his son and his nephew
what to do . (5)
NDL Hij was echt oud geworden, dus zijn taak bestond eruit dat hij zijn zoon en zijn
neef vertelde wat ze moesten doen . (8)
DT
Weil er so alt war, bestand seine Rolle darin, seinen Sohn und seinen Neffen
herumzukommandieren. (10)
In der nächsten Sektion soll der Frage nachgegangen werden, wie sich diese auffälligen Frequenzunterschiede, insbesondere die hohe Frequenz von moeten, erklären lassen .
3. Warum ist ndl. moeten viel frequenter als dt. müssen und engl. must?
Für die hohe Frequenz von ndl . moeten im Vergleich zu der von must im Englischen bzw . müssen im Deutschen lassen sich wenigstens zwei verschiedene Gründe anführen .
3 .1 . Semantisch-funktionale Gründe
Zunächst einmal ist hervorzuheben, dass nichtepistemische Verwendungen im
Korpus eindeutig in der Mehrheit sind, für deren Ausdruck sich im Englischen
und im Deutschen zum Teil andere Ausdrucksmittel konventionalisiert haben als
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben…
139
must bzw . müssen .10 So überrascht es nicht, dass viele nichtepistemische Belege,
die im Niederländischen moeten enthalten, auf ein englisches have to bzw. have
got to zurückgehen (insgesamt 31 Belege, davon allerdings 26 mit müssen im
Deutschen, vgl . Tabelle 2) .
Ndl . moeten
Ndl . moeten
Engl . have (got) to
Engl . should
31
25
Ndl . moeten
Engl . Imperativ
8
Nld . moeten
Ndl . moeten
Engl . need/ be in need
Engl . ought to
5
4
davon Dt . müssen
26
davon Dt . soll(te)
20
davon Dt . Imperativ/Konj/ ‘ich
8
bitte Sie’
davon Dt . müssen
4
davon Dt . sollte
4
Tabelle 2: Alternativen für moeten im Englischen und Deutschen
Die englischen have to Belege ziehen dabei vorwiegend nichtsprecherbezogene
dynamische (6) und deontische (7) Interpretationen nach sich, während die have
got to Belege vorwiegend subjektiv-deontisch zu interpretieren sind (8) .
(6)
ENG I looked in the phonebook and I had to phone the police all the way off in
Kirklow . (15)
NDL Ik keek in het telefoonboek en moest helemaal naar de politie in Kirklow bellen .
(17)
DT
Ich mußte mir im Telefonbuch die Nummer der Polizei in Kirklow heraussuchen . (20)
(7)
ENG When I’m finished here I have to drive to the site of a building I’ve designed .
(53)
NDL Als ik hier klaar ben, moet ik naar de bouwlocatie van een pand dat ik heb ontworpen . (49)
DT
Sobald ich hier fertig bin, muß ich zu einer Baustelle, [ . . .] . (57)
(8)
ENG I know it’s hard for all of us, but we’ve just got to help each other . (94)
NDL Ik weet dat het voor ons allemaal moeilijk is, maar we moeten elkaar gewoon
helpen . (82)
DT
Es ist für uns alle nicht leicht, aber wir müssen uns einfach gegenseitig helfen . (95)
Sowohl im Deutschen wie auch im Englischen gibt es eine zweite Konkurrenzform für müssen bzw . must mit eindeutig subjektiv-deontischer Bedeutung, und
zwar should bzw . soll(te): insgesamt entsprechen 20 ndl . moeten-Belege soll(te)
10 Bezeichnenderweise haben von den 38 englischen must-Belegen im Korpus nicht weniger als 28 Belege eine epistemische (evidentielle) Bedeutung (auf die in Sektion 4 näher
eingegangen wird) . Zum Vergleich: von den 84 dt . müssen-Belegen sind 14 Belege epistemisch (evidentiell); von den 155 ndl . moeten-Belegen sind sogar weniger als 10% (ingesamt
12 Belege) epistemisch (evidentiell) .
140
Tanja Mortelmans
im Deutschen bzw . should im Englischen, vgl . noch einmal Tabelle 2) . Das niederländische Modalverb zullen/zou (das unmittelbare formale Pendant von soll(te) bzw .
should) hat sich auf den Ausdruck der Zukunft (zullen) bzw . der Irrealität und Evidentialität (zou) spezialisiert, wobei es die ursprüngliche Aufforderungs- oder Verpflichtungsbedeutung (vgl. Gij zult niet doden ‘Du sollst nicht töten’) weitgehend
eingebüßt hat, sodass es als Entsprechung vom subjektiv-deontischen should bzw .
sollte einfach nicht in Frage kommt . Die should- bzw . sollte-Belege im Korpus sind
insofern interessant, als sie eine stark sprecherbezogene Lesart bekommen, bei der
der Sprecher als modale Quelle der Aufforderung fungiert . Die Sprecherbezogenheit
wird in einigen Fällen explizit markiert, etwa durch die Hinzufügung eines Verbs wie
think/denken oder know/wissen in der ersten Person . Als Adressat (formales Subjekt
des Satzes) liegen fast ausnahmsweise direkt an der Sprechsituation beteiligte Aktanten vor: we bzw . wir (insgesamt 7-mal), you bzw . du/ihr/Sie (3-mal) und I / ich
(9-mal), was die inhärente Deontizität von should bzw . sollte, die sich im Rahmen
interpersonaler Beziehungen gestaltet, hervorhebt .
(9)
ENG Her discovery and disinterment are facts . I think that is where we should begin .
(89)
NDL Dat zij ontdekt en opgegraven is, was een feit . Volgens mij moeten we daarmee
beginnen . (78)
DT
Natalies Tod ist ein Faktum, ebenso wie die Entdeckung der Knochen Fakten
sind . Ich denke, hier sollten wir ansetzen . (91)
(10)
ENG I’ve gone through most of the books, but of course you should go through them
as well, just to be sure . (102)
NDL De meeste boeken heb ik wel bekeken, maar jij moet ook nog maar even kijken,
gewoon voor de zekerheid . (88)
DT
Den größten Teil der Bücher habe ich durchgesehen, aber du solltest sicherheitshalber noch mal einen Blick darauf werfen . (102)
(11)
ENG ‘I know I shouldn’t say this’, Claud began […] . (103)
NDL ‘Ik weet dat ik dit eigenlijk niet moet zeggen’, begon Claud […] . (90)
DT
‚Ich weiß, ich sollte das nicht sagen’, begann Claud […] . (104)
Bemerkenswert ist außerdem die Feststellung, dass deontisches should bzw . sollte in keinem der Belege einem abgeschwächten zou moeten entspricht, sondern
am häufigsten mit dem „indikativischen“ moeten wiedergegeben wird, eine Beobachtung, die bereits früher aufgrund einer anderen kontrastiven Analyse gemacht
wurde (vgl . Mortelmans 2000) .
(12)
ENG I thought we should have a chat first and see what we think about things. (65)
NDL Volgens mij moeten we eerst eens even een beetje praten en kijken wat we ervan
vinden . (59)
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben…
DT
141
Aber ich dachte, wir sollten uns erst mal ein bißchen unterhalten und uns kennenlernen . (68)
In diese Kategorie gehört auch die Verwendung von should bzw . sollen in Fragesätzen, in denen der Fragende sich typischerweise nach dem Willen des Adressaten erkundigt, dem er sich unterwirft . Der Adressat wird m .a .W . auf implizite
Weise als modale Quelle konstruiert (vgl . Mortelmans 2002 für eine detaillierte
Beschreibung der Verwendung von sollen in Fragesätzen) .
(13)
ENG Should I sit or lie down? (54)
NDL Moet ik gaan zitten of gaan liggen? (49)
DT
Soll ich mich hinsetzen oder hinlegen? (57)
Dass ndl . moeten eine auffällig reiche Skala von Verwendungen aufweist, geht
ebenfalls aus der Tatsache hervor, dass das Verb auch zur Übersetzung von Imperativen erscheint (insgesamt 8-mal, vgl . (14) und (15)), d .h . einem stark grammatikalisierten, sprecherorientierten Modalitätstyp (im Sinne von Bybee / Perkins /
Pagliuca (1994) speaker-oriented modality) entsprechen kann .
(14)
ENG If there’s anything I can do, just ask . (9)
NDL Als ik je ergens mee kan helpen, dan moet je dat gewoon zeggen . (12)
DT
Wenn ich dir irgendwie helfen kann, lass es mich wissen . (15)
(15)
ENG Be nice to him though . He’s an old friend . (61)
NDL Maar je moet wel aardig tegen hem zijn, hoor . Hij is een goede vriend van ons .
(56)
DT
Aber seien Sie nett zu ihm . Er ist ein alter Freund . (65)
Das semantische Feld der Notwendigkeit und die damit assoziierte pragmatische
Domäne der Direktiva scheint somit im Deutschen und im Englischen feiner gegliedert als im Niederländischen . In letzterer Sprache übernimmt moeten die ganze Skala von wenig grammatikalisierten, deskriptiven Verwendungen (die nicht
einmal unbedingt auf Notwendigkeiten verweisen, vgl . (3)) bis hin zu den stark
am Sprecher orientierten direktiven Verwendungen .
3 .2 . Formale Gründe: Grammatikalisierung
Wie bereits erwähnt, gibt es noch einen zusätzlichen Grund, weshalb moeten besonders im Vergleich zum Englischen viel frequenter vorliegt . Als stark grammatikalisiertes Modalverb verfügt must über ein beschränkteres Set an formalen
Optionen . So kann das Verb in der Regel nicht auf in der Vergangenheit existierende Notwendigkeiten verweisen . Als ‘grounding predication’ (im Sinne von
142
Tanja Mortelmans
Langacker 1991) können die englischen Modalverben (mit Ausnahme von can
und will, vgl . Langacker 1991: 336) in der Regel nicht selber im Skopus von Tempusmarkierungen stehen, weil dies eine zu starke Objektivierung der modalen Relation herbeiführen würde . Für das niederländische moeten (und für das deutsche
müssen) sind solche präteritalen Verwendungen allerdings durchaus möglich . Im
Englischen tritt für Vergangenheitsverwendungen an erster Stelle have to ein .
(16)
ENG I had to supervise this, didn’t I? (8)
NDL Ik moest toch toezicht houden op de bouw? (11)
DT
Ich mußte das hier beaufsichtigen, oder etwa nicht? (14)
Eine auffällige Ausnahme bilden solche Verwendungen, in denen must in einem
Nebensatz von einem verbum dicendi im Präteritum abhängt: Als ursprüngliche
Präteritalform kann must immer noch als Marker in past indirect speech (vgl . Tops
1977) fungieren .
(17)
ENG If I had time afterwards, he told me, I must go and look at the Norman front .
(95)
NDL Als ik na afloop even tijd had, zei hij tegen me, dan moest ik naar de Normandische doopvont gaan kijken . (82)
DT
Falls ich anschließend noch Zeit hätte, müßte ich mir das normannische Taufbecken ansehen . (96)
Der hohe Grammatikalisierungsgrad von must ist auch dafür verantwortlich, dass
das englische Modalverb nicht im Skopus eines anderen Modalverbs stehen kann
(*will must, *can must) und im Allgemeinen nicht in infiniten Umgebungen erscheinen kann, was für moeten bzw . müssen unproblematisch ist .
(18)
ENG I suppose I’ll have to sell it one day . (44)
NDL Ik zal het wel een keer moeten gaan verkopen . (41)
Halten wir fest: Für die hohe Frequenz von moeten in Niederländischen gibt es
sowohl funktionale (lexiko-semantische bzw . pragmatische) als auch formale
Gründe . Zunächst einmal scheint das Niederländische über ein beschränkteres
(grammatisches) Repertoire von formalen Ausdrucksmitteln für Notwendigkeiten
und Aufforderungen zu verfügen, sodass moeten gleichsam als Faktotum eingesetzt wird. Umgekehrt ist das semantische Feld der Verpflichtungen und Aufforderungen im Englischen und im Deutschen ein wenig feiner aufgegliedert, sodass
sich eine Art Aufgabenverteilung zwischen verschiedenen, stärker und schwächer
grammatikalisierten Verb(form)en ergibt . Zweitens ist moeten wesentlich schwächer grammatikalisiert als must . Es hat sich nicht wie must zu einem zwangsläufig
finiten Auxiliar entwickelt, und verfügt deshalb über mehr formale Einsatzmöglichkeiten (infinite Verwendungen, präteritale Verwendungen usw.) als must . Die
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben…
143
hohe Frequenz von moeten im Niederländischen lässt also keineswegs auf einen
hohen Grammatikalisierungsgrad des niederländischen Verbs schließen (vgl . etwa
Bybee 2006) .
4. Evidentiell-epistemisches müssen / must / moeten
Insgesamt liegt ein epistemisches must im Korpus 28-mal vor . Interessanterweise
gibt es nur in sechs Fällen eine totale Überschneidung, bei der epistemisches must
durch müssen ins Deutsche und moeten ins Niederländse übersetzt wird (vgl . (1)
oben und (19)) .
(19)
ENG So finding her, it was awful, not just because it was her, but because somebody
must have buried her . (41)
NDL Dus, toen we haar vonden, was dat vreselijk, niet alleen omdat zij het was, maar
omdat iemand haar begraven moet hebben . (38)
DT
Die Entdeckung der Knochen war schrecklich, nicht nur weil es Natalie war,
sondern weil jemand sie dort vergraben haben muss . (45)
Bemerkenswert ist weiterhin die Feststellung, dass von den 14 must-Belegen, die
weder im Deutschen noch im Niederländischen durch müssen bzw . moeten wiedergegeben werden (vgl . dazu noch einmal Tabelle 1), nicht weniger als 13 Belege der epistemischen Kategorie zugeschlagen werden können (vgl . (20) und (21)) .
Es gibt also eine ganz klare Tendenz, epistemisches must eben nicht mit dem intuitiv auf der Hand liegenden Pendant müssen bzw . moeten zu übersetzen .
(20)
ENG I’m afraid the trail must have gone awfully cold by now . (39)
NDL Ik ben bang dat het spoor nu wel helemaal zal uitgewist zijn . (36)
DT
Alle Spuren dürften mittlerweile verwischt sein . (42)
(21)
ENG Then Erica appeared, also from the far side . She must have been sitting in the
back seat and she was carrying little Rosie . (12)
NDL Daarna verscheen Erica, ook aan de andere kant . Zij had vast op de achterbank
gezeten en liep met kleine Rosie […] haastig naar binnen . (14)
DT
Offenbar hatte sie auf dem Rücksitz gesessen, denn sie trug Rosie im Arm, die
[…] schlief . (17)
Die Tatsache, dass sowohl der niederländische als auch der deutsche Übersetzer oft
davor zurückschrecken, die englischen epistemischen must-Belege mittels müssen
bzw . moeten zu übersetzen, interpretiere ich dahingehend, dass beide Übersetzer
(von denen übrigens angenommen werden kann, dass sie ihre Übersetzungen unabhänigig voneinander gemacht haben) davon ausgehen, dass epistemisches must
eine anderen semantisch-pragmatischen Wert hat als ‘epistemisches’ moeten im
Tanja Mortelmans
144
Niederländischen bzw . müssen im Deutschen . Schauen wir uns zunächst mal die
Alternativen in beiden Sprachen an .
zullen
10
+ wel
8
vast
6
Ø
1
waarschijnlijk
1
insgesamt
18
+ vast
1
Tabelle 3: Niederländische Übersetzungsäquivalente für epistemisches must
Wie der Tabelle zu entnehmen ist, findet sich im Niederländischen als Pendant
zum englischen epistemischen must an erster Stelle das Modalverb zullen (meistens in Kombination mit der Partikel wel, vgl . (20), (22) und (23)), an zweiter
Stelle die Partikel vast (ohne weitere verbale Markierung, vgl . (21)) .
bestimmt
5
sicher
2
offenbar
3
offensichtlich
2
Ø
4
dürfte
1
17
Tabelle 4: Deutsche Übersetzungsäquivalente für epistemisches must
Im Deutschen werden eindeutig Modaladverbien bevorzugt (es finden sich die
epistemischen Satzadverbien bestimmt (vgl . (22)) und sicher und die evidentiellen Satzadverbien offenbar (vgl . (21)) und offensichtlich) . Einmal erscheint im
Deutschen das Modalverb dürfte (20), in vier weiteren Belegen wird das Modalverb einfach nicht übersetzt (vgl . (23) und (24)) .
(22)
ENG I haven’t seen Granny and Grandpa . They must be up in their room . (20)
NDL Die zullen wel op hun kamer zitten . (21)
DT
Sie sind bestimmt oben in ihrem Zimmer . (25)
(23)
ENG […] and I always thought she must be dead . (41)
NDL […] en ik altijd dacht dat ze wel dood zou zijn . (38)
DT
[…] und ich immer geglaubt habe, dass sie tot ist. (45)
(24)
ENG […] and another [photo] which must have been taken only a week or so before
she died . (47)
NDL en nog eentje, waarschijnlijk van een week of zo voor haar dood . (43)
DT
[…] und dazu noch eines, das ungefähr eine Woche vor Natalies Tod aufgenommen worden war . (50)
Zweierlei lässt sich aus diesen Beobachtungen ableiten: Erstens scheint must
im Englischen sowohl epistemische als auch evidentielle Interpretationen zu erlauben, während moeten bzw . müssen eher (rein) evidentiell-inferentiell zu sein
scheint, d .h . typischerweise explizit auf vorhandene Informationsquellen verweist . Fälle, in denen durch must an erster Stelle das epistemische Commitment
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben…
145
des Sprechers zum Ausdruck gebracht wird, werden im Niederländischen und im
Deutschen vorzugsweise durch andere Mittel wiedergegeben (andere Modalverben, Adverbien) . Zweitens gehört must (zusammen mit den Tempusmarkern) zu
den englischen grounding-Elementen, die den im Infinitiv bezeichneten Prozess
profilieren (indem sie ihn grounden) . Letzerer enthält die kommunikativ gewichtige Information, die durch die Verwendung von must epistemisch gegroundet
wird, d .h . implizit über den Ground eine epistemische Lokalisierung erfährt . Das
englische Modalverb kodiert also in gewissem Sinne Hintergrund-Informationen,
was die einfache Weglassbarkeit im Deutschen (23-24) und im Niederländischen
(25) beweist . Als subjektive grounding predication rückt must in erster Linie den
Prozess im Infinitiv in den Vordergrund, nicht aber sich selber.
(25)
ENG Jane, we’re almost finished and I know you must be exhausted but I’d like us to
try something . (116)
NDL Jane, we moeten er bijna mee ophouden, en ik weet dat je doodmoe bent, maar
ik wou graag dat wij eens iets probeerden . (101)
DT
Jane, die Zeit ist fast um, und bestimmt sind Sie erschöpft, aber ich möchte
trotzdem noch etwas ausprobieren . (116)
Es nimmt in diesem Zusammenhang denn auch nicht wunder, dass must manchmal an erster Stelle als pragmatisches Signal zu funktionieren scheint, mit dem
Höflichkeit signalisiert wird, indem die Sprecherin – wie in (26) und (27) – auf
ein bereits existierendes Wissen beim Adressaten hinweist und sich für mögliche Wiederholungen in ihrer Äußerung gleichsam zu entschuldigen scheint .
Auch in Beleg (25) („and I know you must be exhausted“) scheint der Sprecher
an erster Stelle seine Anteilnahme am Wohlbefinden des Adressaten zum Ausdruck zu bringen .
(26)
ENG That was her boyfriend, as you must know . (39)
NDL Dat was haar vriendje, zoals u wel zult weten . (37)
DT
Luke war ihr Freund, das wissen Sie sicher . (43)
(27)
ENG You must have heard about it from my dad . (39)
NDL Dat zult u al wel van mijn pa hebben gehoord . (36)
DT
Bestimmt hat Ihnen mein Vater eine Menge davon berichtet . (42)
Im Gegensatz dazu sind moeten und müssen in der Regel nicht in der Lage, die
modale Relation mit maximaler Subjektivität darzustellen . Die modale Relation
erfährt also eine gewisse Objektivierung . Der durch müssen bzw . moeten kodierte
inferentielle Moment steht im Vordergrund: Vor allem dann, wenn eine logische
Schlussfolgerung, die sich auf kontextuell vorhandene Evidenzen stützt, gezogen
wird, erscheint im Deutschen und im Niederländischen ein müssen-Verb (vgl . Belege (1) und (19) oben) . Dies ist auch im folgenden Beleg (28) der Fall, in dem
146
Tanja Mortelmans
der Sprecher explizit die Argumente aufführt, die den Schluss nahe legen, dass die
ganze Situation für den Hörer schrecklich sein muss .
(28)
ENG Look, I’m really sorry about this awful thing with your sister-in-law and everything else that’s been happening with you . It must be terrible . (61)
NDL Zeg, ik vind dat zo erg van dat verschrikkelijke gedoe met je nichtje en al die
vreselijke dingen die jou de laatste tijd zijn overkomen . Dat moet vreselijk zijn .
(55)
DT
Die Sache mit Ihrer Freundin tut mir sehr leid, und dann all das, was Sie sonst
noch durchmachen müssen . Es muß schrecklich sein . (64)
Im folgenden Beleg stützt sich die Schlussfolgerung („Du musst das doch wissen“) auf die vorhin gemachte (und deshalb im kommunikativen Raum stehende)
Feststellung, dass der Angesprochene ein Arzt ist . Der Satz hat überdies deontische Beiklänge (‘Als Arzt sollte man so etwas wissen’) .
(29)
ENG You’re a doctor, you must know . (93)
NDL Jij bent arts, jij moet zoiets weten . (81)
DT
Du bist Arzt, du mußt das doch wissen . (95)
Betrachten wir noch einen letzten Beleg, in dem allerdings nur im Niederländischen moeten erscheint, während das Deutsche sich des evidentiellen Adverbs
offensichtlich bedient . Wiederum wird die Evidenz kontextuell sichtbar gemacht:
Die Frage der Polizistin („Alles in Ordnung?“) fungiert als explizite Evidenz dafür, dass die Überraschung der Protagonistin sich in ihrem Gesicht bemerkbar
gemacht haben muss .
(30)
ENG She was younger than I expected . And she was a she . And it must have shown
on my face . ‘Is everything all right?’ she asked . (52)
DT
Meine Überraschung spiegelte sich offensichtlich in meinem Gesicht wider .
„Alles in Ordnung? “, fragte sie . (55)
NDL Ze was jonger dan ik had verwacht . En ze was een zij . En dat moet aan mijn
gezicht te zien zijn geweest . ‘Is er iets met je?’ vroeg ze . (48)
Halten wir fest: Mit evidentiellem moeten bzw . müssen verweist der Sprecher in
der Regel auf kontextuell bzw . in der Sprechsituation vorhandene Evidenzen, aus
denen sich die gemachte Inferenz ergibt . Der Sprecher verweist also auf Elemente
des Grounds, der somit nicht maximal subjektiv konstruiert wird . Die Tatsache,
dass evidentielles moeten im Niederländischen nicht nur eine inferentielle, sondern auch eine quotative Lesart hat (vgl . etwa de Haan 2001), ist damit übrigens
in Einklang zu bringen . Die genaue Interpretation von moeten ist stärker kontextbedingt (und somit gleichzeitig stärker sprecherabhängig) als die von must;
verschiedene Evidenztypen können dabei als Input fungieren .
Falsche Freunde: Warum sich die Modalverben…
(31)
147
Ik heb veel over Paradise Now gehoord, moet een goede film zijn.
„Ich habe viel über Paradise Now gehört, soll ein guter Film sein“
5. Zusammenfassung: Deutsch zwischen Niederländisch und Englisch
In diesem Beitrag wurde gezeigt, dass die hohe Frequenz von moeten im Niederländischen nicht zwangsläufig mit einem hohen Grammatikalisierungsgrad des
Verbs einhergeht . Das niederländische Verb ist in hohem Grade polyfunktional,
wobei die ganze Skala von deskriptiven dispositionellen Verwendungen bis hin zu
am Sprecher orientierten deontischen und evidentiellen Verwendungen abgedeckt
wird . Im Vergleich dazu besitzt das stark grammatikalisierte (und insgesamt viel
weniger frequente) englische must einen beschränkteren Leistungsbereich, indem
es sich auf sprecherbezogene deontische und epistemisch-evidentielle Verwendungen spezialisiert hat . Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass die modale
Relation – wenigstens was ihren Beitrag zur Ebene der Proposition betrifft – dermaßen im Hintergrund stehen kann, dass sie in den niederländischen und deutschen Übersetzungen einfach weggelassen werden kann . Das deutsche müssen
schließlich nimmt eine Mittelposition zwischen must und moeten ein . Es ist insgesamt weniger grammatikalisiert als must, erscheint dadurch auch häufiger, aber
verfügt nicht über die gleiche funktionale Breite wie moeten .
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Ole Letnes
Zur „affektiven“ Komponente epistemischer
müssen-Verwendungen
1. Einleitung 1
In einem Aufsatz aus dem Jahre 2005 zum Thema Polyfunktionalität der deutschen
Modalverben zieht Grazina Droessiger eine Problematik ins Blickfeld, die m .E . in
der bisherigen Modalverbforschung zu wenig Beachtung gefunden hat, und zwar
die Fragestellung: Inwieweit spielen bei der Semantik (evtl . auch Pragmatik) von
Modalverben andere Bedeutungskomponenten als die ausgeprägt kognitiven eine
Rolle? Droessiger zufolge ist die Einbeziehung nichtkognitiver Bedeutungen und
Bedeutungsimplikationen, das heißt in ihrem Zusammenhang die affektiven und
die voluntativen, bisher vernachlässigt worden .
Für Sequenzen mit epistemischer Modalverbverwendung, die Droessigers Auffassung nach affektiv gefärbt sind, nennt sie ein Beispiel wie (01) . Eine gewisse
emotionelle Aufregung des Sprechers dürfte hier offensichtlich sein:
(01) [ . . .] der Mann muss übergeschnappt sein . (Remarque, Erich Maria: Der Weg zurück, S . 25;
zitiert nach Droessiger 2005: 90)
Im vorliegenden Aufsatz möchte ich auf die mir bekannte Fachliteratur eingehen,
die bei der Beschreibung von Modalverbsätzen eine solche affektive Komponente
in Betracht zieht – mehr oder weniger explizit . Der Umfang solcher Sekundärliteratur ist, jedenfalls soweit ich es überblicke, insgesamt eher klein und somit
überschaubar .
Anschließend möchte ich versuchen, das Bild der müssen-Sequenzen mit einer
solchen affektiven Färbung um einiges zu ergänzen, nicht zuletzt was die Frequenz dieses Typus anbelangt . Weiter möchte ich einige mögliche Untertypen andeuten, auch in Anlehnung an vorhandene einschlägige Literatur . Dies geschieht
auf der Grundlage von einer Belegsammlung bestehend aus insgesamt tausend
Textausschnitten mit je einem müssen in epistemischer Verwendung .
2. „Linguistische Einstellung“ (Bähr 1986) und affektive
Modalverbverwendungen
Droessigers Ausgangspunkt bei ihrer Beschreibung der nichtkognitiven Aspekte
der Modalverbbedeutungen ist der Begriff „Einstellung“, wie er von Bähr (1986)
1
Ich danke den Teilnehmern der Tagung „Modalität/Temporalität in kontrastiver und typologischer Sicht“ (Danzig, 5 .-7 . Mai 2008) für wertvolle Kommentare .
150
Ole Letnes
definiert wird. Sein Begriff „linguistische Einstellung“ ist, wie man an der Definition sieht, eher weit:
„Der sprachwissenschaftliche Einstellungsbegriff umfaßt alle mentalen Beziehungen der
Menschen zu irgendwelchen Objekten und Sachverhalten“ (Bähr 1986: 172; zitiert nach
Droessiger 2005: 89) .
Der Begriff „Linguistische Einstellung“ ist also so weit gefasst, dass, so Droessiger, nicht nur die epistemischen Modalverbverwendungen, sondern „auch die
deontischen Lesarten der deutschen Modalverben zweifellos dem Ausdruck von
Einstellungen“ dienen .
Einstellungen, wie sie Bähr definieren, umfassen drei Komponenten – die kognitive, affektive und voluntative . Bei der affektiven Komponente, die hier am
meisten interessiert, nennt Bähr als charakterisierende Stichworte Gefühle wie
Angst, Freude und Neid bezüglich des Einstellungsobjekts, ausgedrückt in einem
Satz wie z .B . Ich habe Angst vor morgen .
Obschon auch die deontischen Modalverblesarten affektive Komponenten aufweisen können, sind Droessiger zufolge die
„epistemischen Lesarten sowie beide Lesarten im Konjunktiv […] im Vergleich zur deontischen Lesart deutlich emotioneller, sie enthalten neben der kognitiven auch die affektive und/oder voluntative Komponente“ (Droessiger 2005: 90) .
Droessigers Darstellung ist korpusbasiert, auch wenn es sich um ein eher schmales Korpus handelt; sie bringt Beispiele für müssen-Anwendungen aus dem Remarque-Roman Der Weg zurück .
Als einschlägige Modalverben zieht Droessiger vor allem müssen und können
heran, wie im schon genannten Remarque-Beispiel (01) – in (02) mit mehr Kontext wiedergegeben:
(02) Das versteht Laher noch weniger . Diesen erstklassigen Tabak gegen eine blecherne Kokarde – der Mann muß übergeschnappt sein . Valentin würde das Päckchen nicht rausrücken, selbst wenn er dafür auf der Stelle Unteroffizier werden könnte . (Droessiger
2005: 90; Hervorhebungen im zitierten Text .)
Hier diene, so Droessiger, das Modalverb müssen
„nicht zum Ausdruck einer Vermutung, sondern eher Überraschung . Der Sprecher will
mit seinen Äußerungen nicht behaupten, dass jemand verrückt/übergeschnappt ist, sondern er drückt auf diese Weise sein endloses Erstaunen aus“ (Droessiger 2005: 90) .
Droessigers Erwähnung von „Überraschung“ und „Erstaunen“ legt auch nahe,
solche müssen-Verwendungen in Verbindung mit der in den letzten Jahren oft
Zur „affektiven“ Komponente…
151
thematisierten Erscheinung Mirativität (engl . mirativity) zu bringen . Unter Mirativität ist, nach DeLancey (1997: 35), „the grammatical marking of unexpected information“ zu verstehen, also die Erscheinung, dass eine Äußerung dem
Sprecher neue und unerwartete Information bringt . Wichtige Beiträge zur Beschreibung der Mirativität haben in diesem Zusammenhang nicht zuletzt AksuKoç/ Slobin (1986), DeLancey (1997 und 2001), de Haan (2001) und Lazard
(2001) geleistet .
Auch könnte in (02) oben weist Droessiger zufolge eine affektive Komponente
auf . Ich muss zugeben, dass mir dies bei können weniger einleuchtet, gehe aber hier
darauf nicht näher ein, da ich in diesem Beitrag mich ja auf müssen beschränke .
3 „Affektives“ müssen bei Bech (1949), Raynaud (1975)
und Ulvestad (1984)
In ihrem Aufsatz greift Droessiger damit eine Thematik wieder auf, die u .a . von
Gunnar Bech in seiner, 1949 erschienenen, Modalverbmonographie angesprochen
wurde . In seiner Darstellung bespricht Bech bei jedem der sechs Modalverben einige „charakteristische Typen“ . Im Fall von müssen gebe es elf solche charakteristischen Typen . Unter dem müssen-Typ „Gedankenmäßige Notwendigkeit“, also
dem quasi epistemischen, betont Bech, dass hier
„nicht immer ein zwingend logischer Schluss vor[liegt]: Ebenso häufig, vielleicht sogar
häufiger liegt eher eine (vage) Vermutung oder ein affektbestimmter Gedanke als eine eigentliche Folgerung als Grundlage der aufgestellten Notwendigkeit vor“ (Bech 1949: 28) .
Die für diesen „affektbestimmten Gedanken“ bei Bech einschlägigsten Exemplifizierungen scheinen die folgenden beiden zu sein: [...] wie muss ich gelitten haben sowie [ . . .] und sie muss auch dumm sein, sie spricht ja kein Wort .
Dass die Phänomene, die Droessiger bzw . Bech besprechen, sich zumindest
überschneiden, ist besonders am zweiten Bech-Beispiel deutlich – man vergleiche die beiden Sequenzen Der Mann muss übergeschnappt sein [ . . .] (Droessiger)
und [ . . .] und sie muss auch dumm sein [ . . .] (Bech) .
Zu denjenigen, die gewissen Modalverbverwendungen einen affektiven Aspekt zugeschrieben haben, gehört auch Franziska Raynaud, vor allem in ihrer
Modalverbmonographie aus dem Jahre 1975. Bezogen auf die epistemischen
Verwendungswiesen – Raynaud spricht von modalisation (epistemisch), im
Gegensatz zu modification (nicht-epistemisch) – nennt sie drei charakteristische Merkmale: ‘incertitude’, ‘raisonnement’ und ‘subjectivité affective’
(1975: 478) . Während das erste Merkmal, ‘incertitude’, alle sieben Modalverben betrifft (d .h . die sechs traditionellen und das Verb werden), seien die
beiden letzten bei sollen und wollen nicht relevant . Das Merkmal ‘subjectivité
affective’
152
Ole Letnes
„indique que l’intuition et des sentiments personnels ont participé à la formation du jugement exprimé par le Vm et que ce jugement ne s’appuie donc pas uniquement sur des
arguments objectifs“ (Raynaud 1975: 478 f .) .
Man bemerke, dass bei Raynaud in diesem Zusammenhang auch von „Intuition“
die Rede ist .
Zwischen der Faktizitätsbewertung seitens des Sprechers und der ‘subjectivité
affective’ sieht Raynaud, bezogen auf alle fünf Modalverben, folgenden (negativen) Zusammenhang: „[…] plus l’affectivité du raisonneur, c .à-d . sa subjectivité
est forte, plus le degré de certitude de son jugement diminue“ (1975: 479) .
Und weiter – nur mit Bezug auf das epistemisch verwendete müssen:
„Moins les bases objectives du jugement sont solides, plus les sème fondamentaux de Mü
diminuent et laissent la place au trait ,subjectivité affective’ “ (Raynaud 1975: 484) .
Raynaud zufolge (1975: 485) finden sich epistemische müssen-Verwendungen mit
dem Merkmal ‘subjectivité affective’ vorwiegend in Ausrufesätzen; sie spricht
hier von „creations de l’esprit“ . Diese müssen-Sequenzen basieren aber trotzdem
„presque toutes sur une experience“ . Des Weiteren sei müssen in solchen Fällen
„en général accompagné de doch“, wie im Beispiel: „Nun sagen Sie mir bloß: dieser […] dieser heilige Prokureur, die Exzellenz muss doch uralt sein! Uralt! Der
kann ja noch Napoleon gesehen haben!“ (Hervorhebungen im Original) .
Eine weitere in diesem Zusammenhang einschlägige Arbeit ist Ulvestad (1984) .
Ulvestad vergleicht in seinem Aufsatz die illokutive und perlokutive Funktion
des epistemisch verwendeten werden bzw . müssen im Satz- und Dialogzusammenhang . Ihm geht es dabei vor allem um die Sprechaktfunktionen dieser beiden
Modalverben „in verschiedenen typisierbaren Äußerungen“ .
So findet sich Ulvestad zufolge müssen, und eben nicht werden, „fast immer bei
krank, verrückt sein usw .“, wobei Merkmale wie [+ wichtig], [+ ernsthaft], [+ kritisch] und [+ eindrucksvoll] für die Modalverbwahl relevant seien: „Es ist ihr etwas
zugestoßen. Sie muß krank sein“; „Ich muß wohl verrückt sein“ (1984: 277) .
Als Sequenzen mit einem (nahezu) obligatorischen müssen erwähnt Ulvestad auch
„Einfühlungs- oder Mitleidssätze ([+ Empathie])“ – wie Er muß schrecklich gelitten
haben, der alte Mann und, mit dem Merkmal [+ teilnahmsvoll]: „Armes Kind! Sie
müssen viel gelitten haben“, sagte Andi teilnahmsvoll . Obligatorisch sei müssen auch
in „extra beteuernden“, also auch, darf man sagen, affektbetonten, Sequenzen wie:
Es ist unmöglich, was du sagst, es muß unmöglich sein! (1984: 277f .) .
Des Weiteren sei ein müssen durch ein werden kaum austauschbar in Aussagen,
in denen „der Sprecher aus einem reellen Sachverhalt auf kausale Ereignisse, Zustände usw .“ schließt, „deren Irrealität ihm völlig klar ist“ (1984: 275 f .), wie im
Beispiel: „Er muß in ein Wodkafaß gefallen sein […] Solch ein Gestank ist kaum
normal“ . Dies erinnert an das obige Beispiel aus Droessiger ([ . . .] der Mann muss
übergeschnappt sein), das auf eine ähnliche Formel gebracht werden kann .
Zur „affektiven“ Komponente…
153
Es dürfte sich, so wie ich es sehe, bei den zitierten Beispielen aus Ulvestad
(1984) durchweg um Sequenzen handeln, die sich unter Überschriften wie „subjectivité affective“ (Raynaud) oder „affektbestimmter Gedanke“ (Bech) subsumieren lassen .
Das Bild vom epistemischen müssen als einer Modalverbverwendung mit besonderer affektiver Affinität wird nach Ulvestad (1984: 283) durch die jeweils
auftretenden sogenannten Registerindikatoren verstärkt . Unterschieden wird zwischen Registerindikatoren des Erzählers und denen des Sprechers . So drücken
typische Sprecherindikatoren Ulvestad zufolge „in den meisten Fällen Erregtheit
(Affekt) aus“, wie z .B . Mann in: Mann, Sie müssen von Sinnen sein!
Ein Beispiel für einen Erzählerindikator ist der Ausdruck schilt der Leutnant
ärgerlich in:
(03) „Sie müssen doch wissen, wer den Schlüssel . . . hat“, schilt der Leutnant ärgerlich (Fallada, Hans: Wir hatten mal ein Kind, 246; zitiert nach Ulvestad 1984: 282, Hervorhebung
in Ulvestad 1984)
Bei müssen sind nach Ulvestad aber Indikatoren des Erzählers selten anzutreffen, deutlich seltener als beim epistemisch verwendeten werden, was darauf beruhen möge, so Ulvestad, dass müssen in sich selbst eine spezifische, wie also
zum Beispiel eine affektive, Sprecherhaltung ausdrücke . Das deckt sich gut mit
der von Droessiger vertretenen Meinung, ein Modalverb wie ein epistemisch verwendetes müssen könne an sich die Funktion haben, Emotionen wie Überraschung
auszudrücken .
In pädagogischen Grammatiken und wissenschaftlichen Darstellungen allgemein ist, wie schon betont, von einer affektiven Komponente sehr selten die Rede .
Das gilt für müssen wie für andere Modalverben . Die zitierten Arbeiten bilden, so
weit ich die Forschungslage überblicke, ausgesprochene Ausnahmen .
4. Empirischer Teil
Dem empirischen Teil meiner Darstellung zugrunde liegt eine Belegsammlung von
tausend Textausschnitten, die der dialogreichen Erzählliteratur entstammen . Die Belegsätze enthalten je ein – indikativisches – müssen in epistemischer Verwendung .
Dabei haben die müssen-Sätze entweder Vergangenheits- oder Gegenwartsbezug .
Konjunktivische und zukunftsbezogene müssen-Sätze blieben ausgeklammert .
Mit Bechs Worten als Ausgangspunkt versuche ich zunächst, diejenigen
müssen-Sätze auszusortieren, deren Grundlage ein „affektbestimmter Gedanke“
ist oder zumindest sein könnte . Man erinnere sich hier an Bechs oben wiedergegebene Formulierungen, wonach bei dieser Lesart von müssen „nicht immer ein
zwingend logischer Schluss“ vorliege, sondern häufig „eher eine (vage) Vermutung oder ein affektbestimmter Gedanke“ (1949: 28) .
154
Ole Letnes
Nun ist es natürlich so, dass manchmal Geschmackssache ist, was als affektiv
und was als „nicht-affektiv“ zu bezeichnen ist . Es handelt sich in hohem Maße
um unscharfe, gleitende Übergänge, mit vielen Grenzfällen – das semantischpragmatische Merkmal [+ affektiv] ist noch lange nicht eindeutig . (Auf einige
solche diskutablen Belege werde ich unten auch kurz eingehen .)
Es scheint mir bei solch unscharfen Grenzen vernünftig, einen recht weiten
Begriff von „affektiv“ zu Grunde zu legen . In der Praxis heißt dies beispielsweise,
dass nicht nur ganz offensichtlich affektive müssen-Verwendungen wie in (04),
sondern auch eine wie in (05) als affektiv einzustufen wäre:
(04) „Sie müssen verrückt sein!“ fuhr er mich an . „Erst schlagen sie einen Menschen, weil er
gedankenlos von Vergasung redet, und dann kommen Sie mit einer Theorie, mit der Sie
den erhabenen Gleichgültigen spielen wollen!“ (Andersch: 229)
(05) „Daß Ihr Buch eines Tages als deutsches Buch in Deutschland erscheinen wird, muß Ihnen seltsam vorkommen, nicht wahr?“ (Andersch: 394)
In (05) oben wird, wie man sieht, Empathie ausgedrückt . Nach Ulvestad sind
dies Bespiele für Fügungen, in denen müssen nahezu obligatorisch ist: Hier dürfe also ein müssen durch ein epistemisch verwendetes werden (ohne erhebliche
Bedeutungsänderung) nicht ausgetauscht werden . Das sind typische Beispiele
für Fälle, wo, mit Raynauds Worten (siehe oben) „l’intuition et des sentiments
personnels ont participé à la formation du jugement exprimé par le V[erbes]
m[odaux]“ (1975: 478 f .) .
Noch eindeutiger und offensichtlicher empathisch sind müssen-Verwendungen
wie in (06) und (07):
(06) Esther, die länger geblieben ist, muß es schwerer gehabt haben, in den letzten Jahren.
(Andersch: 37)
(07) Das Ende von Frau Krystek muß schrecklich gewesen sein . (Andersch: 343)
Schon beim ersten Durchgang der tausend epistemischen müssen-Belege fällt es
auf, wie zahlreich die Belege sind, die als affektiv charakterisiert werden können .
Klar affektiv, oder zumindest „affektverdächtig“, sind rund 30% des Materials .
Auf dem Hintergrund dieser Zahlen ist man versucht, schlicht festzustellen, dass
Bech recht hat (siehe oben) .
Was aber noch mehr auffällt und überrascht, ist der hohe Anteil der empathischen Belege, die allein etwa 15% des Gesamtmaterials ausmachen, also etwa die
Hälfte aller affektiven Beispiele . Außerdem lässt sich, im Unterschied zum übergeordneten Merkmal [+ affektiv], die Kennzeichnung ‚Empathie’ ziemlich genau,
auf jeden Fall beträchtlich genauer, abgrenzen . Einige weitere Beispiele aus dem
Material sind (08) bis (13):
Zur „affektiven“ Komponente…
155
(08) Balinkay schwieg einen Augenblick, dann sagte er teilnehmend . „Armer Kerl, dir müssen’s aber gehörig zugesetzt haben . . .“ (Zweig: 317)
(09) „Sie müssen sich gegenseitig ganz schön auf die Nerven gehen, vermute ich“ (Kirst/Wölfe: 225)
(10) „Für mich endete es mit einer ansehnlichen Niederlage“, sagt der Mann und lächelt säuerlich, gerade als kehrte mit diesem Eingeständnis auch der Schmerz zurück oder die Beschämung, die er damals empfunden haben muß . (Lenz: 330)
(11) Ich antwortete nicht . Es war auch unnötig . Ilon musste ohnehin bemerkt haben, wie erschüttert ich war . (Zweig: 263)
(12) [ . . .] sie suchte nach dem Eindruck, den die Worte ihrer Mutter auf den Mann machten
oder doch machen mussten [ . . .] (Lenz: 240)
(13) Es muß sehr schön sein, vor der Tür zu warten, hinter der die Frau, mit der man verheiratet ist, das Kind stillt, das man mit ihr gezeugt hat . (Rinser: 296)
Wie man an den Beispielen sieht, kommt dieser Typ, nicht unerwartet, vor allem
in der erlebten Rede vor . Beispiele gibt es auch für „Autoempathie“:
(14) „Es ist so lange her . Aber es muß, du hast recht, es muss immer noch etwas von diesem
schrecklichen Gefühl in mir stecken . Ich mag sie nicht, diese Person .“ (Rinser: 228)
(15) Einmal glaubte er, atmen zu hören, doch musste er sich getäuscht haben . (Dürrenmatt: 93)
Dabei habe ich, wohlgemerkt, diejenigen empatischen müssen-Sätze nicht mitgezählt, die eine sogenannte explizite Begründung für die müssen-Schlussfolgerung
aufweisen . Unter expliziter Begründung verstehe ich im unmittelbaren Kotext angeführte Anhaltspunkte für die im müssen-Satz ausgedrückte Schlussfolgerung
– im Beleg (16) so steht er mit gesenkten Augen beunruhigt herum:
(16) […] zweifellos muss der alte Mann gespürt haben, daß eben eine gefährliche Stimmung zwischen uns beiden schwingt; so steht er mit gesenkten Augen beunruhigt herum (Zweig: 101)
In Textausschnitten wie (16) handelt es sich, trotz der ausgedrückten Empathie,
mit Bechs Worten, eher um eine „eigentliche Folgerung“ als darum, dass „ein affektbestimmter Gedanke“ die „Grundlage der aufgestellten Notwendigkeit“ ausmache (1949: 28) .
Im Folgenden möchte ich einige weitere Typen andeuten . So ließe sich beispielsweise eine beachtliche Anzahl der epistemischen, affektiven müssen-Sätze
156
Ole Letnes
in meinem Material unter der Kategorie „Übertreibung“ einordnen . Droessigers
müssen-Beispiele ([ . . .] der Mann muss übergeschnappt sein und [...] Weil muss
verrückt sein) würden natürlich zu dieser Gruppe gehören . Dabei handelt es sich
um ein viel benutztes, traditionsreiches rhetorisches Mittel (Hyperbel) . Ulvestad
spricht hier von müssen-Aussagen, bei denen der Sprecher „aus einem reellen
Sachverhalt auf kausale Ereignisse, Zustände usw .“ schließe, „deren Irrealität ihm
völlig klar ist“ (1984: 276) .
Dieser von Ulvestad etablierte Typ macht einen erheblichen Teil der Belege
meines Materials aus, in denen Übertreibung ausgedrückt wird . Einige Beispiele
hierfür sind:
(17) . . . ich [befreundete] mich mit zwei Chinesinnen, die aber griechisches Blut in den Adern
haben mußten, denn die praktizierten eine Liebe, die vor Jahrhunderten auf der Insel Lesbos besungen wurde . (Grass: 563)
(18) . . . [sie] aß mit mir . . . Torte, in der Zement verbacken sein mußte . . . (Grass: 542)
(19) Aber dann kam der Krieg, und irgendein Teufel muß mich in den Journalismus geritten
haben . (Andersch: 47)
(20) Am rechten Arm hängt eine Kette aus Smaragden – sie muß mehr wert sein als unsere
gesamte Firma einschließlich des Lagers, der Häuser und des Einkommens der nächsten
fünf Jahre. (Remarque: 368)
(21) „Ich kann ihn […] nicht mehr riechen – der Mann muß hauptsächlich von Knoblauch
leben […]“ (Fallada: 574)
(22) „Mich ritt der Teufel, ich konnte nicht anders . Ich muß unter meinen Vorfahren Falschmünzer gehabt haben, oder Leute, die von gezinkten Karten lebten .“ (Fussenegger: 316)
(23) Manche Geschichten erzählte sie, üble Geschichten, die kleine Stadt mußte eine Hölle
sein . (Hesse: 211)
(24) Bei einer derartigen Form von Anteilnahme muss das Sterben direkt ein Vergnügen sein!
(Kirst/Fabrik: 513)
(25)
Ja, dies kann nicht nur, dies muß ein Vogelfrühstück sein. (Lenz: 163)
Beispiel (17) oben enthält zwar rein äußerlich eine explizite Begründung . Diese
ist aber zwangsläufig unzureichend, und der müssen-Schluss ist übertrieben und
somit offensichtlich irreal .
Auch bei diesem Typ gibt es, wie zu erwarten ist, Grenzfälle, bei denen man
sich fragt, ob es sich tatsächlich um Übertreibung handelt – vgl . der Typ Er muss
Zur „affektiven“ Komponente…
157
völlig verrückt sein! . Vgl . auch den Telegrammtext in (26), wo es gut möglich ist,
dass „besoffen“ stimmt, „verrueckt“ wohl als Übertreibung zu verstehen ist:
(26) xlieber jacob du gluecklicher hund stop du musst besoffen oder verrueckt gewesen sein
als du in phoenix den wettschein ausgefuellt hast stop (Simmel/Hurra: 253)
Zu den mehr idiomatisierten Übertreibungen gehören (27) und (28):
(27)
“Du mußt ja einen Mordshunger haben!“ (Simmel/Hurra: 623)
(28) “[ . . .] du mußt doch halb tot sein nach dem Getümmel und Getue am Morgen [ . . .]“ (Böll:
293)
Das epistemische müssen eignet sich offensichtlich gut in übertreibenden Aussagen . Wie ließe sich das erklären?
Wie Bech betont, ist der durch das epistemisch verwendete müssen ausgedrückte Schluss nicht immer „zwingend logisch“ .
Eine naheliegende Frage ist: Warum nicht gleich den entsprechenden unmodalisierten Satz verwenden? Müssen deutet zwar eine hohe subjektive Sicherheit an – das ist unumstritten . Der Umstand aber, dass keine hundertprozentige
Sicherheit seitens des Sprechers ausgedrückt wird, scheint in diesem Zusammenhang von entscheidendem Belang zu sein . Die winzige Unsicherheit, die bei einem epistemisch verwendeten müssen bleibt, ist wichtig als Signal an den Hörer/
Leser, dass hier übertrieben wird .
Hier dürfte der Gebrauch von Ironie eine Parallele darstellen: Bei einer ironischen Ausdrucksweise gilt wohl allgemein als angemessen, im Text Hinweise
zu liefern, dass hier ironisch gesprochen wird . Analog bedarf es fairerweise eines
Übertreibungssignals .
Es sieht so aus, dass ein epistemisches müssen ein mögliches Übertreibungssignal ist (aber sicher nicht das einzige, das zu diesem Zweck zur Verfügung steht) .
Anhand von den Belegen (29)-(37) versuche ich zu ermitteln, was geschieht, wenn
„übertreibende“ müssen-Sätze in nichtmodalisierte Sätze umgeschrieben werden .
Wie man sieht, funktioniert dies unterschiedlich bei den verschiedenen Sätzen:
(29)
„[ . . .] die aber griechisches Blut in den Adern hatten . . .“
(30)
[ . . .] Torte, in der Zement verbacken war . . .
(31) [die Kette] ist mehr wert als unsere gesamte Firma einschließlich des Lagers . . .
(32) Ich hatte unter meinen Vorfahren Falschmünzer, oder Leute, die von gezinkten Karten
lebten .
158
Ole Letnes
(33) „Ich kann ihn […] nicht mehr riechen – der Mann lebt hauptsächlich von Knoblauch
[ . . .]“
(34) Bei einer derartigen Form von Anteilnahme ist das Sterben direkt ein Vergnügen!
(35) Manche Geschichten erzählte sie, üble Geschichten, die kleine Stadt war eine Hölle .
(36)
[...] irgendein Teufel hat mich in den Journalismus geritten.
(37)
Ja, dies kann nicht nur ein Vogelfrühstück sein, dies ist ein Vogelfrühstück.
Eine Fragestellung mehr genereller Art ist, ob eine affektive Komponente (wie
z .B . Übertreibung) epistemischer müssen-Sätze anhand von semantischen oder
pragmatischen Kategorien zu beschreiben ist . Ein Argument dafür, dass die Erklärung in der Semantik von müssen liegen könnte, ist der Umstand, dass das Subjekt
eines epistemischen müssen-Satzes nichtkontrollierend ist – mit Bechs Worten
(1951: 7), dass der Modalfaktor „extrasubjektiv“ lokalisiert ist und das grammatische Subjekt jeweils nicht ein Agens, sondern ein Patiens darstellt . Dies geht einher mit engem Negationsskopus (Bech: „negation obliqua“, 1951: 8 ff .) . Negierte
epistemische müssen-Sequenzen sind allerdings selten . (38) unten ist ein Beispiel
aus meinem Material, wobei der enge Negationsskopus offensichtlich ist:
(38) Es muß nicht zum besten stehen mit dem Baron, wenn er in einem billigen Hotel in
Bayswater wohnt [ . . .] (Andersch: 309)
Die Umschreibungen (29) bis (37) oben lassen sich m .E . nach dem Kriterium
akzeptabel oder nicht akzeptabel (d .h . als einigermaßen gleichwertige Aussage)
grob gruppieren . Die drei letzten, (35) bis (37), scheinen mir akzeptabler als die
übrigen, also als die Beispiele (29) bis (34) .
Die Belege (35) und (36) entsprechen ziemlich festen Redewendungen, das
könnte eine Erklärung sein . Beispiel (37) enthält neben müssen ein epistemisch verwendetes kann – das könnte begründen, warum diese Fügung akzeptabel
scheint: Das kann liefert den hier nötigen – epistemischen – Kontext, der andeutet,
dass es sich um eine Übertreibung handelt .
Auf den Versuch einer feinmaschigeren Typisierung der affektiven müssenSätze muss aus offensichtlichen Gründen verzichtet werden . Ich werde lediglich
einige weitere Beispiele nennen, die Typen mit gemeinsamen Charakteristika zu
repräsentieren scheinen .
Als eine Untergruppe der übertreibenden Sätze lassen sich diejenigen einstufen, die Ulvestad (1984: 276) „vergleichende Schlussfolgerungen“ nennt . Hier
ziehe der Sprecher
„aus ihm mehr oder weniger vertrauten Geschehnissen, Zuständen in der Geschichte,
der Religion, der Mythologie, der Geographie usw . Vergleichsschlüsse mit Bezug auf
Zur „affektiven“ Komponente…
159
die Einmaligkeit, Großartigkeit, Beachtlichkeit gegenwärtiger Zustände usw .“ (Ulvestad
1984: 276) .
Auch solche Sätze enthalten m .E . eine affektive Komponente . Hinzu kommt oft
eine Art Komik, besonders wenn die Begebenheiten, die verglichen werden, unterschiedlichen Epochen und religiös-kulturellen Zusammenhängen entstammen,
und die Textteile somit zu zwei unterschiedlichen Stilebenen gehören . (39) und
(40) sind zwei Beispiele hierfür aus meinem Material:
(39) [ . . .] Georg starrte mit andächtigen Augen zum Pool, wo Shirley sich auf einer Decke
räkelte und streckte . So muß Moses ausgesehen haben im Anblick des Gelobten Landes .
(Simmel/Neige: 53)
(40) Seine Augen funkelten, sie füllten sich, sie strömten mir entgegen . So muß Lazarus geblickt
haben, als er betäubt emporstieg aus seinem Grabe und wieder den Himmel sah und sein heiliges Licht . (Zweig: 389)
Wie Raynaud (1975: 485) betont, sind Aussagen, die durch die subjectivité affective
charakterisiert sind, oft Ausrufesätze und außerdem „en général accompagné de
doch“ . Tatsächlich enthalten so viel wie etwa 9 % der Sätze in meinem Material die
Partikel doch. Zahlreiche der Vorkommnisse dieser Partikel finden sich im Zusammenhang mit Sequenzen, die man als eigene Untergruppe der affektiven müssenSequenzen betrachten könnte . Ähnlich spricht Ulvestad (1984: 279) mit Bezug auf
vergleichbare müssen-Sätze vom „extra beteuernde[n]“ müssen-Gebrauch . (41) bis
(55) sind Beispiele aus meinem Material; in sämtlichen ist ein doch enthalten:
(41) Ich möchte wissen, wer diese Cora, von der mein Onkel in mehreren seiner Gedichte
spricht, ist oder war . Irgendwann muß es also doch eine Frau [ . . .] gegeben haben, von der
er touchiert wurde . (Andersch: 127)
(42) Die Welt muß doch noch etwas anderes sein als ein aus Zufällen zusammengesetztes
Chaos . (Andersch: 119)
(43) „Ist doch viel schöner [nackt zu baden] . Und außerdem ist das die Sylter Spezialität, mußt
du doch schon von gehört haben .“ (Danella: 385)
(44)
„[ . . .] ihre Mutter muß ihr doch von ihrem Vater erzählt haben!“ (Andersch: 290)
(45) „Du mußt doch wissen, wo deine Mutter ist, mußt doch wissen, wie es ihr geht, wie sie
aussieht .“ (Böll: 363)
(46) „Wenn Sie seit Kriegsanfang draußen sind, müssen Sie doch schon zwei- oder dreimal auf
Urlaub gewesen sein!“ (Fallada: 200)
160
Ole Letnes
(47)
„Also das gibt es nicht! Da muß doch was vorgekommen sein .“ (Fallada: 201)
(48) Für was kämpfte denn dieses Volk? Warum litt es so? Wozu wurde es so schlecht? Es
mußte doch einen Sinn haben?! (Fallada: 251)
(49)
„Sie müssen doch wissen, daß mein Mädel Sie geliebt hat .“ (Fallada: 383)
(50)
„Sie müssen doch schon ‚ne Masse erlebt haben!“ (Fallada: 444)
(51) „Aber du mußt es doch gemerkt haben, daß dann jemand die Treppe herunterkam und zur
Tür wollte . . .“ (Fussenegger: 97)
(52)
„Das muß doch was zu bedeuten haben?“ (Kirst/Wölfe: 473)
(53)
„Das muß ich doch am besten wissen!“ sagte Barbara überlegen . (Kirst/08/15: 675)
(54) „Kerl, wo treibst du dich so lange herum? Du mußt doch längst wissen, wohin sie sind!”
(May/Greifenklau: 101)
(55) „Sehn Sie, das finden Sie vollkommen begreiflich. Na, dann muß doch die Geschichte
auch umgekehrt passen, nicht wahr?“ (May/Greifenklau: 163)
Insistierend – und somit als affektiv einzustufen – sind auch die epistemischen
müssen-Sätze vom Typ „Das muss doch einen Grund haben!“, die eigentlich
nichts anderes als eine Art Paraphrasierung des Kausalprinzips sind . Nach
Ulvestad geht es bei diesem Typ „mehr um ein Raten als um eine Vermutung“ .
Wie man an den Beispielen (56) bis (60) sieht, enthalten auch mehrere von
diesen Sequenzen ein doch:
(56)
„Sie sind aber doch sehr traurig . Das muß doch einen Grund haben .“ (Fontane: 99)
(57) „Es muß doch welches [Gold] dort gegeben haben, weil wir es gefunden haben .“ (May/
Surehand: 13)
(58) „Er muß doch einen Grund haben, auf keinen Fall heim zu wollen .“ (Simmel/Brüder:
415)
(59) „- Irgendeine Erklärung muß es doch geben, und meinen Ärzten fällt nichts anderes ein .“
(Späth, S . 69)
(60) „Plärr doch nicht so! Irgend jemand muß es [der Vater] wohl gewesen sein, nicht?“
(Späth: 67)
Zur „affektiven“ Komponente…
161
5. Schlussbemerkung
Zusammenfassend möchte ich nochmals hervorheben, dass Droessiger m .E . gute
Gründe hat, diese Thematik aufzugreifen und dabei so deutlich zu betonen, dass
bei manchen Modalverbverwendungen, vor allem der epistemischen, von rein kognitiven Einstellungen nur bedingt gesprochen werden darf .
Hier konnte die Thematik natürlich nur andiskutiert werden, in Anlehnung an
einige in diesem Zusammenhang relevante Arbeiten wie Ulvestad (1984), Raynaud (1975), Bech (1949) und vor allem, weil das mein Ausgangspunkt und direkte
Veranlassung ja war, Droessiger (2005) .
Anhand von den authentischen Beispielen hoffe ich auch exemplifiziert haben zu können, dass Modalverbbedeutungen sich nicht ausschließlich anhand von
kognitiv basierten Erklärungskategorien erfassen lassen . Es sollten noch weitere
Aspekte herangezogen werden, wie also zum Beispiel der affektive .
Literatur
Aksu-Koç/Dan Slobin (1986): „A psychological account of the development and use of evidentials in Turkish“, in: Chafe, Wallace / Johanna Nichols, (Hgg.) (1986): Evidentiality: The
Linguistic Coding of Epistemology. Norwood, N.J.: Ablex.
Bähr, Dieter (1986): Die Substitution von singulären Termen in opaquen Kontexten oder wie
schwierig es ist, über die Einstellungen von anderen Menschen zu sprechen (= Tübinger
Beiträge zur Linguistik 217) . Tübingen: Gunter Narr .
Bech, Gunnar (1949): Das semantische System der deutschen Modalverba (= Travaux du cercle
linguistique de Copenhague 4) . Kopenhagen: Munksgaard .
Bech, Gunnar (1951): Grundzüge der semantischen Entwicklungsgeschichte der hochdeutschen Modalverba (= Det Kongelige Danske Videnskabernes Selskab, Historisk-filologiske Meddelelser 32/6) . Kopenhagen: Munksgaard .
DeLancey, Scott (1997): „Mirativity: The grammatical marking of unexpected information“,
in: Linguistic Typology 1, 33-52 .
De Haan, Ferdinand (2001): „The mirative and evidentiality“, in: Journal of Pragmatics 33/3,
369-382 .
Diewald, Gabriele (2004): „Faktizität und Evidentialität“, in: Leirbukt, Oddleif (Hg .): Tempus/
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Droessiger, Grazina (2005): „Zur Polyfunktionalität der deutschen Modalverben oder: Was ist
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Zweig, Stefan: Ungeduld des Herzens . (= Zweig)
Kjetil Berg Henjum
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp
„Imperativ + skal + Personalpronomen + Infinitiv“
1 Einleitung und Definition des Untersuchungsgegenstands
Thema dieses Beitrags ist ein norwegischer Konstruktionstyp, der auf die Formel in (1 .a) gebracht werden kann und in (1 .b) durch ein authentisches Beispiel
veranschaulicht ist . Die Konstruktion kann umschrieben werden mit einem voll
ausgeführten Konditionalgefüge (s . 1 .c), in dem der Inhalt des Bedingungssatzes
mit dem des Imperativs in (1 .b) vergleichbar ist und der skal-Satz als Obersatz
auftritt .1
(1 .)
a
b
c
Imperativ + skal + Pers.pron. + Infinitiv (+ evtl. weitere Glieder)
Kom
skal du
få
en
sukkerbit!
Ullmann, Før du sovner, S . 113)
‘Komm sollst du ein Zückerchen kriegen’
Hvis du kommer, (så) skal du få en sukkerbit
‘Wenn du kommst, (dann) sollst du ein Zückerchen kriegen’
(Linn
Der erste Teil der Formel in (1 .a) – der Imperativ – wird von Faarlund u .a . folgendermaßen beschrieben:
„Durch die Verwendung des Imperativs gebietet der Sprecher dem Hörer, eine gewisse Handlung auszuführen – oder nicht auszuführen . D .h ., es wird dem Hörer ein Direktiv auferlegt,
in einer gewissen Weise zu agieren, und die Modalität ist immer deontisch .“ (Faarlund u .a .
1997: 587, meine Übersetzung, KBH)
Um welche Subklasse der Direktive es sich in diesem Zusammenhang handeln
kann, ist schwer zu entscheiden . Mehrere Subklassen dürften in Frage kommen,
aber vielleicht vor allem BITTE und EMPFEHLUNG .
Die in diesem Zusammenhang zum Tragen kommende Bedeutung von skal
dürfte die folgende sein:
„Die intentionale Bedeutung von skal trägt dazu bei, dass das Verb auch in Äußerungen sehr
üblich ist, die als Versprechen und Versicherungen fungieren […] . Das Subjekt des Satzes
kann in der 1 ., 2 . oder 3 . Person sein, aber in diesen Äußerungen ist es immer der Sprecher,
der das Versprechen abgibt und der also die Quelle der Modalität ist […] . Ein Versprechen oder
1
Im Folgenden werden – wie in (1 .b) und (1 .c) – direkte und unidiomatische Übersetzungen
in einfachen Anführungszeichen gegeben, um die Bedeutung der norwegischen Belege an
die nicht Norwegisch verstehenden Leser zu vermitteln; norw . skulle wird der Einfachheit
halber durchgängig mit dt . sollen übersetzt .
Kjetil Berg Henjum
164
eine Versicherung kann in einigen Zusammenhängen auch als eine Warnung oder eine Drohung
fungieren .“ (Faarlund u . a . 1997: 605, meine Übersetzung, KBH)
skulle kann also ein VERSPRECHEN/eine VERSICHERUNG, aber auch eine
WARNUNG/DROHUNG ausdrücken .
Diese Konstruktion ist in unserem Zusammenhang (mindestens) in dreifacher
Hinsicht interessant:
Erstens enthält sie einen Imperativ, der eng mit einem weiteren Konstruktionsteil verbunden ist; zweitens enthält sie das Modalverb skulle, dessen Übersetzung ins Deutsche nicht selten Probleme bereitet; drittens ist sie syntaktisch
unvollständig und existiert parallel mit der vollständigen Variante mit dem konsekutiven Adverb så (‘dann’) .
Die syntaktisch vollständige Variante mit så (ggf . so/saa) – die zumindest in
der geschriebenen Sprache die üblichere sein dürfte – wird in (2 .a) auf eine Formel gebracht und in (2 .b-e) durch authentische Beispiele veranschaulicht; in diesen Beispielen nimmt så den Imperativ wieder auf, und eine Umschreibung mit
hvis , så (dt . wenn …, dann …) ist möglich .
(2 .)
a
b
c
d
e
Imperativ + så + skal + Pers.pron. + Infinitiv (+ eventuelle weitere
Glieder)
Set deg her, så
skal du
få
eit glas mjølk . (Vesaas,
„Den ville ridaren“ in Vindane, 40)
‘Setz dich hier, dann sollst du ein Glas Milch bekommen’
Venta fem Minuttar, Frue, saa skal De faa fint Fylgje! (smiler) . (Arne Garborg, Samlede virkir, Uforsonlige, første akt; Dokumentasjonsprosjektet)
‘Warten Sie fünf Minuten, meine Frau, dann sollen Sie feine Begleitung
bekommen’
„Drikk ut no“, sa Helge, „so skal du faa noko friskt; det smakar alltid best
med same det kjem or Tunna .“ (Arne Garborg, Samlede virkir, Fred, del 3;
Dokumentasjonsprosjektet)
‘Trink jetzt aus, dann sollst du was Frisches bekommen’
Kom inn, så skal du få kaffi . (Faarlund u . a . 1997: 818)
‘Komm herein, dann sollst du Kaffee bekommen’
2 Zielsetzung und Aufbau
Erstens ist die Konstruktion in Abschnitt 4 im Einzelnen zu beschreiben, und
zwar im Blick auf das Verb im Imperativ (s . 4 .1), das nach skal stehende Personalpronomen (s . 4 .2) und das/die nach skal stehende(n) Verb(en) im Infinitiv
(s . 4 .3) .2
2
Der Rahmen dieses Beitrags erlaubt nicht die Analyse weiterer Elemente im Imperativteil
und im Infinitivteil sowie der häufigen Kombination mit einer Anrede. – Eine genaue Beschreibung dieser Konstruktion steht noch aus, und sie findet meines Wissens auch keine
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
165
Zweitens sind in Abschnitt 5 die Übersetzungen im Hinblick auf die gerade
angesprochenen Faktoren zu beschreiben .
Drittens soll in Abschnitt 6 der Frage nachgegangen werden, ob oder vielleicht
eher inwieweit bei dieser Konstruktion von Textsortenabhängigkeit gesprochen
werden kann .
Viertens wird in Abschnitt 7 die Frage angeschnitten, ob und ggf . welchen Verwendungsbedingungen die Konstruktion unterliegt; hat sie eine besondere Pragmatik oder einen Mehrwert z .B . gegenüber der Konstruktion mit så?
Fünftens wird in Abschnitt 8 das Ergebnis einer COSMAS-Recherche dargestellt, die das Ziel hatte, Konstruktionen zu finden, die mit der fraglichen norwegischen vergleichbar sind .
3 Methode und Material
Der Untersuchung dieser Konstruktion hat eine schwierige Belegsituation, nicht
zuletzt im Blick auf Übersetzungsbelege, teilweise im Wege gestanden: Es konnten 63 Originalbelege und 14 Übersetzungsbelege zusammengetragen werden
(für Genaueres s . Tabelle 1) . Dabei handelt es sich um
– 53 Originalbelege, die durch gezielte Recherchen in elektronischen Korpora (s .
10 .1) gewonnen wurden,
– zehn Originalbelege, die durch vollständige manuelle Auswertung mehr oder weniger zufällig ausgewählter belletristischer Texte (s . 10 .2) gewonnen wurden,
– elf Übersetzungsbelege aus Märchen – genauer: sieben aus elektronischen Korpora (s . 10 .4) und vier aus nicht elektronisch verfügbaren Texten (s . 10 .3) und
– drei Übersetzungsbelege aus der neueren Belletristik (s . 10 .5) .3
4 Der Untersuchungsgegenstand im Einzelnen
4 .1 Verben im Imperativ (Prototyp: komme)
Tabelle 2 berücksichtigt die 63 Originalbelege und zeigt die Verteilung der im
Imperativ vorkommenden Verben. Das Verb, das mit Abstand am häufigsten vorkommt (n=39), ist komme (s . 3 .), und dass komme ein bei dieser Konstruktion sehr
geläufiges Verb ist, zeigen auch die Belege in (4.).
(3 .)
3
Adjunkten, […], gikk hen og tok studenten uten videre under armen: „Kom skal vi to
gå oss en tur i haven.“ (Kielland, En middag; OpenClass)
‚Komm sollen wir einen Spaziergang im Garten machen’
Erwähnung in norwegischen Grammatiken (siehe etwa Faarlund u .a . 1997 und Venås 1990)
und in der Forschungsliteratur (siehe etwa Eide 2005) .
Alle angeführten Korpora und Werke sind vollständig ausgewertet worden .
Kjetil Berg Henjum
166
(4 .)
a
b
c
d
Kom skal vi løpe! (Comic-Heft von Lars Fiske)
‘Komm sollen wir laufen’
Kom skal vi dikte ei grend og en gård . (Kinderbuch von Kirsti Birkeland)
‘Komm sollen wir einen Ort und einen Hof dichten’
Kom, skal vi synge . (Kinderliederbuch von Margrethe Munthe)
‘Komm sollen wir singen’
Kom skal vi klippe sauen i dag . (Kinderlied, Ursprung unbekannt)
‘Komm sollen wir heute das Schaf scheren’
Häufig geht komme einem Adverb – am häufigsten hit (auch: hid, dt . ‘(hier)her’;
s . 21 .a-c), seltener her (dt . ‘her’; s . 14 .), opp (dt . ‘herauf’; s . 5 .) und an (s . 15 .)
– voran, das die Bedeutung von komme deutlich konkreter macht als in den Beispielen in (4 .) .
(5.)
– Jo, for satan! raabte jeg saa; kom op skal du høre. (Hans Jæger, Fra KristianiaBohêmen II, XVII; Dokumentasjonsprosjektet)
‘Komm herauf sollst du hören’
Es treten sechs Imperativformen von Verben mit der Bedeutung ‘warten’ auf, drei
von vente wie in (6 .) (s . auch 11 .) und drei des altertümlichen bi (s . 12 . und 16 .) .
(6 .)
„Vent! skal du få se.“ (Hagemann, Duo med Scott, 58)
‛Warte! sollst du sehen dürfen’
Die Imperativform des Verbs be kommt in drei fast identischen Belegen vor (s .
24.), die in Abschnitt 6.2 im Hinblick auf die Textsortenspezifik dieser Konstruktion angesprochen werden . Mit jeweils zwei Belegen repräsentiert sind følge med
mit der konkreten Bedeutung ‘mitkommen/folgen’ (s . 8 .), gå (s . 7 .) und se/se seg
om (s . 17 .) . Vereinzelte Verben gehen aus Tabelle 2 hervor .4
4 .2 Personalpronomen nach skal (Prototyp: du)
Tabelle 2 zeigt im rechten Teil das Vorkommen der verschiedenen Pronomen nach
skal. Weitaus am häufigsten (n=27) ist das sing. Hörerpronomen du wie in (7 .)
(s . auch 5 . und 6 .) . Relativ viele Belege (jeweils 12) stellen auch das sing . Sprecherpronomen jeg, in (8.) in Hans Jægers Schreibweise jei, und das plur . Sprecherpronomen vi wie in (9 .) (s . auch 15 .)
4
Es sei auf eine ähnliche Konstruktion hingewiesen, die nicht zum Untersuchungsgegenstand gerechnet wird, weil der Teil vor skal keinen Imperativ enthält und allein aus einer
direktiven Adverbphrase mit untergeordneter Präpositionalphrase besteht, die die Funktion
der Aufforderung übernimmt .
„Hit med tannstikka di, skal du få se kast!“ (Asbjørnsen og Moe, Norske folkeeventyr, Rødrev og Askeladden; Dikt-forsiden)
‘Her mit deinem Zahnstocher, sollst du Wurf sehen dürfen’
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
(7.)
(8 .)
(9.)
167
Ingen andre fikk lov å røre fuglen hans. Han k1øv op for å snakke med den. Men fuglen
blev redd og fløi buret rundt. – Gå ned, Will, – skal du høre den synger for dig . (Valstad, Tilla, Teodora kommer hjem, im Kapitel „Teodora kommer hjem“; Høgskolen i
Vestfold – Nettbiblioteket)
‛Geh runter Will sollst du ihn für dich singen hören’
– Ikke si det! ikke si det! roper Vera til de andre – og jei blir sittende der noksaa fatti .
Men saa springer hun op og griper mei muntert i armen: – Føll me mei inn skal jei vise
Dem hva det var allikevel! sier hun og springer rask i forvejen bort til huse. (Hans Jæger, Bekjendelser, XL; Dokumentasjonsprosjektet)
‘Folgen Sie mir hinein, soll ich Ihnen trotzdem zeigen, was es war’
Nej, gå ikke op; – kom, skal vi prøve å spille lit firhændig! […] . (Bjørnson, Bjørnstjerne, Geografi og kærlighed in Samlede verker, Band 6; http://www .dokpro .uio .no/
litteratur/bjoernson/1bbbind6 .txt)
‘Komm, sollen wir versuchen, ein bisschen vierhändig zu spielen’
Recht selten sind mit jeweils vier Belegen das plur . Hörerpronomen . dere wie
in (10) (s . auch 19 .), das Distanzpronomen (De/Di/I; s . 11 .) und das sing . Verweispronomen hun (s . dazu 12 . sowie die drei fast identischen Belege in 24 .) .
(10 .)
(11 .)
(12.)
„Dere skal få noe,“ ropte han . „Slipp meg opp, skal dere få se hva jeg har .“ (Hagemann, Bror, Glemselens gate, 29)
‛Lasst mich hinauf, sollt ihr sehen dürfen, was ich habe’
Professor Polli Volli: (begeistret) Ja, selvfølgelig. Ikke sant? Vent skal De se . [ ] (T . Å .
Bringsværd, Bazar)
‘Warten Sie, sollen Sie sehen’
[ …] da kongsdatteren skulle se ut gjennom vinduet hva som var på ferde, og fikk se
dette taterfølget, satte hun i å le . Men Tyrihans, var ikke fornøyd med det . „Bi litt, skal
hun nok få latterdøra bedre opp!“ sa han og gjorde en vending bakom kongsgården
med følget sitt . (Asbjørnsen og Moe, Norske folkeeventyr, Tyrihans; Dikt-forsiden)
‘Warte etwas, soll sie wohl die Gelächtertür [den Mund] besser aufmachen’
4.3 Verben im Infinitiv (Prototyp: se)
Im Hinblick auf das Verb im Infinitiv sind zwei Fälle zu unterscheiden. Fall 1:
skal regiert den Infinitiv eines Verbs, das keinen weiteren Infinitiv regiert. Fall
2: skal regiert den Infinitiv eines Verbs, das wiederum einen Infinitiv regiert. Als
Verb, das von skal regiert wird und wiederum einen Infinitiv regiert, kommt in
meinem Material vor allem få vor, aber auch søge und prøve sind belegt .
Als prototypisches Verb bei dieser Konstruktion kann se gelten (Fall 1: n=14,
s. (11.) Fall 2: n=8). Als zweiter Infinitiv (Fall 2) tritt se ausschließlich zusammen
mit dem Modalverb få (in deontischer Lesart mit der Bedeutung ‛dürfen’) auf.
Es ist nicht überraschend, dass diese Verben ausschließlich mit Hörerpronomen
Kjetil Berg Henjum
168
kombiniert werden, Beispiele mit du sind (6 .), (17 .), (21 .a-c), ein Beispiel mit
dere ist (1 .) .
få als Modalverb mit der Bedeutung ‛dürfen’ ist relativ häufig (n=11) und wird
vor allem mit se (‘sehen’) kombiniert (n=8), aber Belege mit smake (s . 14 .) und
høre sind auch repräsentiert .
Als Vollverb mit der Bedeutung ‘bekommen’ tritt få in neun Belegen auf (s .
13.). Die Häufigkeit dieser beiden Typen von få unterstützt eine Interpretation der Konstruktion in Richtung der Sprechhandlung VERSPRECHEN oder
VERSICHERUNG .
Tabelle 3 ist zu entnehmen, dass auch die Infinitivverben søge und prøve (beide
mit der Bedeutung ‘versuchen’) mit einem zweiten Infinitiv kombiniert werden;
søge regiert den Infinitiv tyde, während prøve den Infinitiv spille regiert (s . 9 .) .5
5 Die Übersetzungen
Der Übersetzungsuntersuchung liegen lediglich 14 Belege zugrunde – drei aus
der Gegenwartsliteratur und elf aus den Volksmärchen von Asbjørnsen und Moe
(s . Tabelle 1) .
5 .1 Übersetzung des Verbs im Imperativ
Die Verben im Imperativ sind durchgehend „direkt“ übersetzt, d .h . mit dem deutschen Verb, das sich als Äquivalent anbietet .
Zwölf der übersetzten Belege enthalten das Verb komme im Imperativ und sind
mit kommen übersetzt . In den allermeisten Belegen hat komme eine konkrete Bedeutung der Bewegung (s. 13.), die häufig wie in (14.) durch die Kombination
mit einem direktiven Adverb verdeutlicht wird (s . auch 23 .a-c sowie 4 .1) . In (15 .)
liegt eine weniger konkrete Bedeutung von komme vor; in Kombination mit dem
Adverb an ergibt sich die Bedeutung ‘beveg deg’ (‘bewege dich’/‘mach mal’) .
(13 .)
(14 .)
5
N: [ ] hver gang Arvid ser en hest som går og gresser stikker han hodet ut av bilvinduet
og roper TOOORILD KOM SKAL DU FÅ EN SUKKERBIT . (Linn Ullmann, Før
du sovner, S . 113)
D: […], und immer, wenn Arvid ein grasendes Pferd sieht, streckt er den Kopf aus dem
Autofenster und ruft, Tooorild, komm, dann kriegst du ein Zückerchen! (Linn Ullmann, Die Lügnerin, S . 127)
N: „Kom her, skal du få smake noe godt!“ (Hagemann, Noen som Angela, 29)
D: „Komm her, ich hab hier was Gutes.“ (Hagemann, Auf der Suche nach Angela,
S . 39)
Tabelle 3 zeigt die weiteren vertretenen Verben; durch Beispiele veranschaulicht sind lyske
(s . 23 .), fortelle (s . 16 .), gå (s . 3 .), høre (s . 5 .), dikte (s . 4 .b), klippe (s . 4 .d), slåss (s . 15 .),
synge (s . 4 .c) und vise (s . 8 .) .
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
(15 .)
169
N: Pappa ville lekebokse . Kom an, sa han, skal vi slåss, kom an da tøffing. (Linn Ullmann, Før du sovner, S . 108)
D: Papa wollte mit mir boxen . Komm, sagte er, jetzt wird geboxt, na komm, du Mordskerls . (Linn Ullmann, Die Lügnerin, S . 121)
Die beiden Übersetzungsbelege ohne komme enthalten die Imperative Bi und Se
deg om . Auch hier bieten die Übersetzungen keine Überraschungen; es ist mit
Wart (s . 16 .) und Sieh dich um (s . 17 .) übersetzt worden .
(16 .)
(17 .)
N: Straks katta hørte ham, løp hun ut til porten . „Bi litt, skal jeg fortelle deg hvordan
bonden bærer seg at med vinterrugen,“ sa katta . (Asbjørnsen und Moe, Norske folkeeventyr, Herre Per; La Maison Forte)
D: Als die Katze das hörte, lief sie sogleich hinaus, trat an die Pforte und sprach: „Wart
einmal! Ich will Dir erzählen, wie der Bauer es mit dem Winterkorn macht“, [ ] .
(Asbjørnsen und Moe, Der Herr Peter; La Maison Forte)
N: „Se deg om, skal du få se den vakre, deilige jomfruen bak deg!“ sa katta til trollet .
(Quelle wie 16 .)
D: „Sieh Dich mal um, dann wirst Du hinter Dir die schöne herrliche Jungfrau
erblicken!“ sagte die Katze zum Trollen . (Quelle wie 16 .)
5.2 Übersetzung des Infinitivteils
5 .2 .1 Satztyp in der Übersetzung
Die Übersetzung des Konstruktionsteils nach dem Komma, des Infinitivteils,
verteilt sich auf zwei Konstruktionen, und zwar auf den Konstativ- und den Imperativsatz . Mit Konstativsatz sind elf Infinitivteile übersetzt, zehn mit einem
Konstativsatz im Aktiv und einer mit unpersönlichem Passiv (s . 15 .) . Fängt der
Konstativsatz mit einem Adverbial an, so kann es in diesen Fällen m .E . als hinzugefügt gelten, was heißt, dass es im Original keine explizite Vorlage gibt, die eine
solche Übersetzung auslösen würde . Seine Funktion liegt wahrscheinlich darin,
dass es die Beziehung zwischen den beiden Teilen verdeutlicht; es handelt sich
um die Adverbien dann (s . 13 . und 17 .), da (s . 19 .) und so (s . 20 .) .
(18 .)
N: Best det var, kom det en dur og en dirring, som vegger og tak skulle ramle sammen .
„Tvi, tvi! Her lukter kristenmanns blod og bein i mitt hus,“ sa trollet […] . „Kom her og
legg deg i fanget mitt, skal jeg lyske deg,“ sa prinsessen; „så blir det vel bra til du har
sovet .“ (Asbjørnsen og Moe, Norske folkeeventyr, De tre kongsdøtre i berget det blå;
Dikt-forsiden)
D: Mit einem Mal gab es ein Dröhnen und Beben, als wollten Wände und Dach einstürzen . „Pfui Teufel, hier in meinem Haus riecht es nach Menschenblut,“ sagte der Troll
[…] . „Komm her und leg dich in meinen Schoß, ich werde dich lausen,“ sagte die
Kjetil Berg Henjum
170
(19.)
(20 .)
Prinzessin; „bis du ausgeschlafen hast, ist es wohl besser geworden .“ (Asbjørnsen und
Moe, Die drei Königstöchter im blauen Berge)
N: „Dere er da noen stakkarer, som sitter her i denne fillehytta,“ sa gutten. „Kom og følg
meg opp på slottet mitt, skal dere se at jeg er en annen kar,“ sa han . (Asbjørnsen og
Moe, Norske folkeeventyr, Det blå båndet; Dikt-forsiden)
D: „Ihr seid ja jämmerlich daran hier in der armseligen Hütte, kommt mit mir auf mein
Schloß, da werdet ihr sehen, daß ich ein anderer Kerl bin“, sagte der Bursche . (Asbjørnsen und Moe, Norwegische Volksmärchen, Das blaue Band, S . 257)
N: [ohne Kontext, vgl . (18 .)] „Men kom nå, skal jeg lyske deg,“ sa prinsessen, […] . (Asbjørnsen og Moe, Norske folkeeventyr, De tre kongsdøtre i berget det blå; Dikt-forsiden)
D: „Doch komm her, so will ich dich lausen,“ sagte die Prinzessin, […] . (Asbjørnsen
und Moe, Die drei Königstöchter im blauen Berge)
Mit Imperativsatz sind lediglich drei Infinitivteile aus demselben Märchen übersetzt, wobei es sich um die Koordination von Imperativsätzen handelt; an den
ersten Imperativ schließt sich ein zweiter, der durch und verbunden wird, s . (21 .ac) . Die drei Belege stammen aus demselben Volksmärchen und werden auch im
Rahmen der Textsortenspezifik dieser Konstruktion angesprochen (s. 6.2). Es sei
des Weiteren an die sehr ähnlichen mit Konstativsatz übersetzten Belege mit lyske
in (18 .) und (20 .) erinnert .
(21.)
a
b
c
N: „Aa, det er vel ikke saa farlig, veed jeg,“ sagde Kjærringen; „vil de ikke bie,
til Rømmegrøden er kogt, kan de reise igjen . Nei kom hid, skal du faae see!
Saa deilig en Fyr har jeg aldrig seet for mine Øine før, som han, der staaer ude i
Gaarden . […] .“ (Asbjørnsen og Moe, Norske folkeeventyr, Det har ingen Nød
med den, som alle Kvindfolk er forlibt i; Dokumentasjonsprosjektet)
D: „Ach, das ist doch nicht so gefährlich; wenn sie nicht warten mögen, bis die Grütze gekocht ist, können sie ja wieder gehen“, gab die Frau zur Antwort . „Komm nur
hierher und schau einmal! Einen so schmucken Burschen wie den, der da draußen
steht, habe ich noch nie mit Augen gesehen . […] .“ (Asbjørnsen und Moe, Norwegische Volksmärchen, Dem fehlt nichts, in den alle Weiber verliebt sind, S . 88)
N: „[…] Men kom hid, skal du faae see En, som gaaer her ude Gaarden!
[…] .“ (Quelle wie a)
D: „[…] Aber komm mal her und schau, was für einer da im Hof spaziert!
[…] .“ (Quelle wie a, S . 86)
N: „[…] Men kom hid, du ogsaa, skal du faae see! […] .“ (Quelle wie a)
D: „[…] Komm nur einmal her und schau! […] .“ (Quelle wie a, S . 87)
5 .2 .2 Übersetzung der Verben und der Pronomina
In 5 .1 wurde festgehalten, dass alle Imperativverben mit dem „zu erwartenden“
deutschen Verb übersetzt worden sind . Im Folgenden handelt es sich darum, wie
die Verben im Infinitivteil übersetzt worden sind, d.h. das finite skal sowie der davon
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
171
regierte Infinitiv, und es zeigt sich, dass auch die meisten Übersetzungen der Verben
im Infinitivteil mehr oder weniger direkt dem Verb im Original entsprechen.
Die drei mit Imperativsatz übersetzten Belege in (21 .a-c) enthalten das Verb
schauen, was ziemlich genau der norwegischen Vorlage se entspricht .
Für die elf mit Konstativsatz übersetzten Belege sieht die Lage folgendermaßen aus: neun sind mit einem Nebenverb (Hilfsverb) übersetzt, und zwar fünf mit
wollen und vier mit werden.
Bei den fünf mit wollen übersetzten Belegen handelt es sich um AS-Belege mit jeg
als Subjekt, und in der Übersetzung ist ich Subjekt im Konstativsatz (auch der sechste Beleg mit jeg ist mit ich übersetzt worden) . Die von wollen regierten Infinitive
sind krauen (n=3; s . 23 .a-c), lausen (n=1; s . 20 .) und erzählen (n=1, s . 16 .) . krauen
(= kraulen; liebkosen) ist in allen drei Fällen die Übersetzung des norw . Verbs lyske
(‛plukke lus av’, ‛avluse’ = ‛entlausen’); die Übersetzung ist semantisch gesehen
nicht hundertprozentig gelungen . Demgegenüber dürfte in (20 .) lausen eine genaue
Übersetzung von lyske sein (anderes Märchen, andere Übersetzung) .
Bei den vier mit werden übersetzten Belegen handelt es sich in drei Fällen um
werden als Modalverb mit futurischer Bedeutung, und werden wird jeweils einmal mit den Infinitiven erblicken (17 .), sehen (19 .) und lausen (18 .) kombiniert .
Schon angesprochen wurde der eine Beleg, der mit werden und dem Partizip II
von boxen übersetzt wurde (s . 15 .) .
Zwei Konstativsätze haben finite Hauptverben, und zwar kriegen und haben; in
(13 .) entspricht dann kriegst du der Vorlage skal du få, und in (14 .) entspricht ich
hab’ hier was Gutes der Vorlage skal du få smake noe godt.
Die sechs Belege mit jeg wurden oben schon angesprochen; sie sind übersetzt
mit ich . Auch ein Beleg mit vi und einer mit dere sind mit den zu erwartenden
Pronomen wir bzw . ihr übersetzt worden . Bei sechs Belegen mit du sieht es etwas
anders aus; zwei sind mit du übersetzt (s . 13 . und 17 .), einer ist mit ich übersetzt
(s . 14 .), und die letzten drei sind wegen der Verwendung koordinierter Imperative
ohne Pronomen übersetzt (s . 21 .a-c) .
5 .3 Exkurs: Ein norwegischer Übersetzungsbeleg
Beispiel (22 .) zeigt einen norwegischen Übersetzungsbeleg (Kom, skal jeg hviske deg
det), der auch deshalb erwähnt wird, weil auch eine deutsche Übersetzung vorliegt .
Das englische Original enthält den Imperativ put und den komplexen konsekutiven
Subjunktor so that . In der deutschen Übersetzung dieser Textstelle begegnen der Imperativ rück näher und das konsekutive Adverb dann . Man merke, dass in meinem
Material ein dann in nur zwei Übersetzungen verwendet wird (s . 13 . und 17 .) .
(22.)
Put your head close so that I can whisper. (James, P.D., Devices and Desires; Oslo Multilingual Corpus, s . Fußnote 10)
Kom, skal jeg hviske deg det. (James, P.D., Intriger og begjær)
Rück näher, dann sag ich ‚s dir ins Ohr. (James, P.D., Vorsatz und Begierde)
Kjetil Berg Henjum
172
6 Textsortenspezifik der Konstruktion
6 .1 Gesprochene Sprache
In diesem Zusammenhang stellt sich nun die Frage, ob die schwierige Materiallage als Indiz dafür anzusehen ist, dass es sich hierbei um eine Konstruktion handelt, die nur begrenzten Eingang in die Schriftsprache gefunden hat; wahrscheinlich handelt es sich um ein Phänomen nähesprachlicher Konzeption im Sinne von
Koch und Osterreicher (1985), und vielleicht könnte ein Korpus rein gesprochener Sprache mehr Belege ergeben .
Eine detaillierte Internet-Recherche würde auch viele Belege mündlicher Prägung ergeben, nur erschwert sich eine solche Recherche wegen der begrenzten
Möglichkeit, mit vereinfachenden Suchkriterien zu operieren .
6 .2 Märchen
Das Volksmärchen ist ein Texttyp, in dem diese Konstruktion relativ häufig zu
sein scheint . Ich kann hier selbstverständlich keine genauen Zahlen liefern, aber
auf der Basis meiner Recherchen scheint mir eine solche Annahme berechtigt zu
sein . Ein Grund könnte darin gesehen werden, dass Märchen zumindest teilweise
auf mündlicher Überlieferung basieren .
In einigen Märchen taucht die Konstruktion gar nicht auf, in anderen ist sie so
häufig, dass sie als Teil der für die Märchen typische Wiederholungsstruktur (z.B.
drei zu lösende Aufgaben/Rätsel) angesehen werden kann . Dieser Eindruck wird
dadurch gestärkt, dass die Konstruktion nicht nur mehrmals begegnet; sie taucht
im jeweiligen Märchen dreimal in nahezu identischer Form auf: Fast identisch
sind die Belege in (21 .a-c), noch ähnlicher diejenigen in (23 .a-c) . Ganz konsequent durchgeführt ist dies allerdings nicht: In einem Märchen konnten nur zwei
Belege gefunden werden (s . 18 . und 20 .) .6
(23 .) a
b
6
N: Da han havde sprunget saaledes en Stund, kom ogsaa han til Bjergskorten; der
sad igjen den gamle Kjærring og spandt paa Haandteen sin og raabte til Askepot:
„kom hid, kom hid min smukke Søn, skal jeg lyske dig!“ sagde hun . (Asbjørnsen og Moe, Norske Folkeeventyr, De syv folerne; Dokumentasjonsprosjektet)
D: Als er ihnen eine gute Weile nachgelaufen war, kam er auch zu der Bergschlucht . Da saß wieder das alte Weib mit ihrer Spindel und rief Askeladden
zu: „Komm her, mein schmucker Bursch! Ich will dir den Kopf krauen!“
(Asbjørnsen und Moe, Die sieben Füllen)
N: „Kom hid, kom hid min smukke Søn, skal jeg lyske dig!“ (Quelle wie a)
D: „Komm her, mein schmucker Bursch! Ich will dir den Kopf krauen.“
(Quelle wie a)
Dass in den Märchen die Varianten mit und ohne så parallel existieren, zeigen die Bsp .
(25 .), (26 .) und (27 .) .
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
c
173
N: „Kom hid, kom hid, min smukke Søn, skal jeg lyske dig!“ sagde hun .
(Quelle wie a)
D: „Komm her, mein schmucker Bursch! Ich will dir den Kopf krauen“, rief
sie . (Quelle wie a)
(24 .) enthält drei Belege, die sich nur minimal unterscheiden und die Tatsache
veranschaulichen, dass in Märchen nicht nur Belege mit komme zu finden sind:
(24 .)
a
b
c
„Be henne ut å gå skal hun få et godt råd!“ sa bjørnen . (Asbjørnsen og Moe,
Norske folkeeventyr, Reve-Enka; Dikt-forsiden)
‘Lade sie zum Spaziergang ein, soll sie einen guten Ratschlag erhalten’
„Be henne ut å gå, skal hun få et godt råd,“ sa gråbeinen . (Quelle wie a)
„Å be henne ut å gå, skal hun få et godt råd,“ sa haren . (Quelle wie a)
7 Mehrwert gegenüber der Variante mit så?
Es gibt m .E . keine guten Gründe anzunehmen, dass eine Beschreibung der parallelen Konstruktion mit så große Unterschiede im Blick auf Pronomen, verwendbare
Verben oder weitere Glieder aufdecken würde . Bleibt also die Frage, ob und ggf .
wo überhaupt ein Unterschied zwischen den beiden Varianten gefunden werden
kann . Dabei können folgende Fragen gestellt werden:
• Unterscheiden sich die beiden Konstruktionen im Blick auf die Pragmatik?
Erfüllt die in Frage stehende Konstruktion irgendwelche Funktionen besser
als diejenige mit så? Wohnt der Konstruktion ohne så mehr Tempo/Nähe/
Unmittelbarkeit inne?
• Gibt es Konstellationen im Imperativteil (Verben + Partikeln + weitere
Glieder), die den Gebrauch der Konstruktion mit så oder die ohne så wenig
wahrscheinlich machen?
• Gibt es Konstellationen im Infinitivteil (Verben + Partikeln + weitere Glieder), die den Gebrauch der Konstruktion mit så oder die ohne så wenig
wahrscheinlich machen?
(25 .) enthält den Imperativ bi + så, und die Frage besteht hier darin, ob die Variante ohne så problemlos eingesetzt werden könnte . Es sei hier verwiesen auf die obigen Beispiele mit bi und vente ohne så: In (12 .) und (16 .) wird bi/vent mit einem
weiteren Wort kombiniert, und zwar no (‘jetzt’) und litt (‘etwas’, ‘ein bisschen’),
während in (25 .) bi alleine steht .
(25 .)
7
„Bi, så skal jeg vise deg hvordan du skal bære deg at, jeg,“ sa Smørbukk; […] . (Asbjørnsen og Moe, Norske folkeeventyr, Smørbukk; Dikt-forsiden)
‘Warte, dann soll ich dir zeigen, wie du dich benehmen sollst’7
→ Bi, skal jeg vise deg hvordan du skal bære deg at, jeg.
Übersetzung in Tieck (s .u .): „Wart, ich will dir’s zeigen, wie du es machen mußt,“ sagte
Schmierbock, „lege nur deinen Kopf auf die Bank, dann sollst du mal sehen .“ (S . 20)
Kjetil Berg Henjum
174
Im Hinblick auf (26 .) stellt sich die Frage, ob das så irgendwie vom vorangestellten Adverb bare ausgelöst wird ggf . ob das bare die Auslassung des så blockiert .
Es finden sich in meinem Material allerdings drei Belege mit bare im Imperativteil, aber in allen drei Fällen steht bare nach dem Imperativ (z .B . in Ja, kom bare
hid, skal I faa smage den, Pakket! Jølsen, Fernanda Mona, XII; Dokumentasjonsprosjektet), was eine Rolle spielen könnte .
(26 .)
„Bare be henne ut å gå, så skal hun få gode råd,“ sa reven . (Asbjørnsen og Moe,
Norske folkeeventyr, Reve-Enka; Dikt-forsiden)
‘Lade sie zum Spaziergang ein, dann soll sie einen guten Ratschlag erhalten’
→ Bare be henne ut å gå, skal hun få gode råd.
(27.) enthält im Infinitivteil das Pronomen jeg, den Infinitiv lyske und das pronominale Akkusativobjekt deg. Dieser Infinitivteil unterscheidet sich von dem der
anderen Belege mit lyske nur darin, dass hier auch das så vorhanden ist (es sei
verwiesen auf 20 . und 23 .a-c) .
Der größte Unterschied liegt im Imperativteil: An der Stelle, wo dieser Beleg
den Imperativ legg (‛lege’) enthält, liegt in den anderen Belegen komme im Imperativ vor . Dass dieser Unterschied eine Rolle spielen sollte, wird allerdings durch
(18 .) unwahrscheinlich gemacht, in dem sogar eine Koordination von zwei Imperativen vorliegt, und zwar von komme und legge .
(27 .)
Rett som det var, kom Askeladden og satte seg ned på bakken ved siden av kongsdatteren. Og hun ble glad, det kan en nok vite, da hun fikk se det var kristenfolk som torde
være hos henne enda. „Legg hodet i fanget mitt du, så skal jeg lyske deg,“ sa hun .
(Asbjørnsen og Moe, Norske folkeeventyr, Rødrev og Askeladden; Dikt-forsiden)
‘Leg deinen Kopf in meinen Schoss, soll ich dich entlausen’
→ Legg hodet i fanget mitt du, skal jeg lyske deg.
Es gibt auch sonst genug Beispiele dafür, dass man problemlos ein så streichen
oder auch hinzufügen kann, ohne dass Probleme entstehen würden . In (28 .a-d)
bildet jeweils eine authentische Variante mit så den Ausgangspunkt (vgl . 2 .b-e),
und nach dem Pfeil steht die konstruierte Variante ohne så: Nach meinem Sprachgefühl besteht der einzige Unterschied darin, dass sich die Variante ohne så gesprochensprachlicher anhört .
(28 .)
a
b
c
Set deg her, så skal du få eit glas mjølk .
→ Set deg her, skal du få eit glas mjølk.
– Venta fem Minuttar, Frue, saa skal De faa fint Fylgje!.
→ Venta fem Minuttar, Frue, skal De faa fint Fylgje!
«Drikk ut no,» sa Helge, «so skal du faa noko friskt; det smakar alltid best med
same det kjem or Tunna .»
→ "Drikk ut no," sa Helge, "skal du faa noko friskt; […]."
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
d
175
Kom inn, så skal du få kaffi.
→ Kom inn, skal du få kaffi.
8 Kleine COSMAS-Recherche: “Ähnliche” deutsche Konstruktionen im
Vergleich
COSMAS-Recherchen haben bestätigt, dass es im Deutschen keine direkte Entsprechung zu dieser Konstruktion gibt, d.h. es finden sich keine Belege für sollen
und ein Personalpronomen direkt nach einem Imperativ . Recherchen nach anderen möglichen Entsprechungen zum norwegischen Konstruktionstyp sind auch
durchgeführt worden, und zwar als eine Annäherung an die Frage, ob die Konstruktion anders übersetzt werden könnte als mit koordinierten Konstativ- oder
Imperativsätzen . Es versteht sich von selbst, dass es unmöglich ist, bei den Recherchen alle möglichen denkbaren Entsprechungen zu berücksichtigen . Ich habe
mich beschränkt auf den Imperativ von kommen (die direkte Übersetzung des prototypischen Verbs komme), die verschiedenen Pronomen und das Modalverb wollen (das häufigste Modalverb in den Übersetzungen mit Konstativsatz, s. 5.2.2),
sowie auf lassen (ein häufiges Verb in deutschen Adhortativen).
Es hat sich gezeigt, dass vornehmlich Belege mit der 1 . Person Plural (wir oder uns)
in ihrer Verwendungsweise mit der Konstruktion Kom skal … zu vergleichen sind;8
es handelt sich dabei um Belege, die als Entsprechungen von Kom skal vi … denkbar
sind und die eine Übersetzung ins Norwegische mit Kom skal vi … erlauben .9
Interessant ist hier, dass sich in (29 .) mehrere Belege aus den Märchen der Brüder Grimm finden, vgl. die Belege b-f. Unter den Belegen mit kommt lasst uns in
(30.) (n=16) finden sich viele aus der religiösen Sphäre, während die Belege mit
komm lass uns in (31 .) (n=8) wiederum privateren Charakters sind .
(29 .)
8
9
<komm wir wollen> (n=15, darunter 4+2+2 identische)
a
„Komm(,) wir wollen Freunde sein“ 4x / „Komm, wir wollen Sterne pflücken“
2x / „Komm, wir wollen uns wieder vertragen, Stinni!“ 2x / „Marina, komm wir
wollen tanzen“ / „Komm, wir wollen es hinter uns bringen!“
b
„komm, wir wollen uns eine Lust miteinander machen .“ (Das Lumpengesindel,
Grimms Märchen)
c
„[…] Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen .“ (Brüderchen und
Schwesterchen, Grimms Märchen)
Jeweils einen Treffer ergeben die Suchanfragen <komm und wir> („Komm und wir sind
frei“) und <komm lass mich> („Komm, lass mich auch einmal“) . <komm du> ergibt 53
Treffer, aber kaum einen einzigen, der etwa mit kom skal du zu vergleichen wäre . Keine
Treffer haben folgende Wortkombinationen ergeben: <komm wollen wir>, <komm und wir
wollen>, <komm ich>, <komm und ich>, <komm und du> .
Aus Platzgründen werden die folgenden Beispiele ohne Kontext und die meisten auch ohne
Quellenangabe wiedergegeben . Diejenigen, die einem Märchen entstammen, werden entsprechend (vereinfacht) gekennzeichnet . Alle Belege sind im COSMAS leicht abrufbar .
Kjetil Berg Henjum
176
d
(30 .)
(31 .)
„[…] komm, wir wollen nach Haus gehen .“ (Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein, Grimms Märchen)
e
„[…] komm, wir wollen heim gehen .“ (Quelle wie d)
f
„Lieber Hans,“ antwortete die Mutter, „komm, wir wollen gehen und ihn suchen, bis wir ihn finden.“ (Der starke Hans, Grimms Märchen)
<kommt lasst uns> (n=16, darunter 2+2+2+2 identische):
„Kommt, lasst uns an diesem Weltgebetstag miteinander verbunden sein mit Herz und
Geist!“ 2x / „Kommt, lasst uns gehen auf den Berg des Herrn!“ 2x / „Kommt(,) lasst uns
singen“ 2x / „Kommt lasst uns heute schaukeln im Wind . […] .“ 2x / „[…]: Kommt! Lasst
uns heute Sonntag den ewigen Gott in Gebet und Predigt aufsuchen; […]“ / „Kommt
lasst uns Christen ehren .“ / „Kommt lasst uns anbeten“ / „Kommt, lasst uns selber etwas unternehmen, […]“ / „[…] Kommt, lasst uns ein bisschen übers Leben plaudern“ /
„Kommt, lasst uns sehen“ / „[…] Kommt, lasst uns weiterspielen . […]“ / „[…] – kommt
lasst uns etwas Gutes tun und dabei sterben“
<komm lass uns> (n=8):
„[…] Komm, lass uns zusammen essen!“ / „Komm, lass uns hingegen zusammen Songs
schreiben“ / „Komm, lass uns doch auf die andere Straßenseite gehen“ / „[…] Komm,
lass uns ins Bett gehen!“ / „Komm, lass uns ausgehen!“ / „Komm, lass uns über was
anderes reden .“ / „Komm, lass uns twisten gehn wie damals Mama“ / „komm, lass uns
verschwinden . […]!“
9 Schluss mit Ausblick
Die Ergebnisse dieses Beitrags können folgendermaßen zusammengefasst
werden:
Der angesprochene Konstruktionstyp ist im Hinblick auf seine einzelnen Bestandteile beschrieben worden, was die prototypische Realisierung Kom skal du
(få) se ergeben hat .
Die Übersetzung des Konstruktionstyps ins Deutsche ist beschrieben worden,
allerdings bei spärlicher Belegmenge (n=14): Elf sind mit Konstativsatz übersetzt,
drei (aus einem Märchen) mit zwei koordinierten Imperativsätzen . Interessant ist
auch, dass sollen in den Übersetzungen nicht verwendet wird .
Eine erste Beantwortung der Frage, welcher Unterschied zwischen der Variante
mit und der Variante ohne så besteht, ist geliefert worden: Es dürfte sich vor allem
um stilistische und/oder medial-konzeptionelle Unterschiede handeln .
COSMAS-Recherchen haben gezeigt, dass sich vor allem für die 1 . Person
Plural deutsche Konstruktionen finden, die mit der hier in Frage norwegischen
stehenden vergleichbar sind .
Die weitere Erforschung dieser Konstruktion müsste eine systematische Auswertung von Internetbelegen mit einbeziehen (und mit den damit verbundenen
methodischen Problemen klarkommen) . Des Weiteren wäre es nützlich, Belege
aus gesprochener Sprache heranzuziehen .
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
177
Schließlich wäre natürlich ein größeres Übersetzungskorpus notwendig, um
dazu Stellung nehmen zu können, welche deutsche Konstruktion der norwegischen Konstruktion ‛direkt’ entspricht.
10 Quellenverzeichnis10
10 .1 Originalbelege: Im Internet verfügbare Märchen und belletristische Texte
Dikt-forsiden: http://dikt .org/Kategori:Eventyr Dort Belege aus den Märchen De tre kongsdøtre
i berget det blå, Det blå båndet, Reve-Enka, Rødrev og Askeladden, Smørbukk, Tobakksgutten, Tyrihans .
Dokumentasjonsprosjektet: http://www .dokpro .uio .no/litteratur (46 840 Textseiten) . Dort Belege von Bjørnstjerne Bjørnson, Arne Garborg, Ragnhild Jølsen und Jonas Lie sowie
aus den Märchen De syv folerne und Det har ingen Nød med den, som alle Kvindfolk er
forlibt i .
Høgskolen i Vestfold – Nettbiblioteket: http://www-bib .hive .no/tekster/ekstern/valstad Dort Belege von Tilla Valstad .
La Maison Forte: http://ourworld .compuserve .com/homepages/L_P_swepston/Eventyr .htm
Dort Belege aus den Märchen Herre Per und Reve-Enka .
OpenClass. Åpne ressurser – Interaktivitet – Lærerstøtte.
http://www .gmsys .net/teachers/norsk/litteratur/1850_1900/enmiddag .htm Dort ein Beleg
von Alexander L . Kielland .
10 .2 Originalbelege: Nicht elektronisch verfügbare Belletristik
Bjerke, André (1998/1942) De dødes tjern . Oslo: Aschehoug (= En Gigantbok fra Aschehoug;
De dødes tjern . Skjult mønster . Enhjørningen) .
Bringsværd, Tor Åge (1970) Bazar . Oslo: Gyldendal .
Hagemann, Bror (1989) Noen som Angela . Oslo: Gyldendal .
Hagemann, Bror (1994) Duo med Scott . Oslo: Gyldendal .
Hagemann, Bror (2005) Glemselens gate . Oslo: Gyldendal .
Kielland, Alexander L . (1999/1883) Gift . Oslo: Gyldendal (= Gyldendal Pocket) .
10 Die hier angeführten Quellen sind ein Hinweis darauf, welche Korpora und Werke in der
Suche nach Belegen recherchiert und vollständig ausgewertet worden sind . Einige der aufgeführten Märchen sind auch unter anderen Internetadressen abrufbar, manchmal in etwas
abgeänderter Form (einige sogar mit anderen Namen); die Einzelheiten werden aus Platzgründen hier nicht angegeben . Recherchiert wurden auch alle norwegischen Texte (Originale und Übersetzungen) in Oslo Multilingual Corpus (http://www .hf .uio .no/ilos/OMC/),
und zwar im Einzelnen Folgendes: No-En-Ge, No-Fr-Ge, No-En-Fr-Ge, Ge-No-Ge (in
Original, in Übersetzung), Ge-En-No, En-Ge-No, GNPC/Fiction (in Original, in Übersetzung), GNPC/Non-fiction (in Original, in Übersetzung), FNPC/Fiction (in Original, in
Übersetzung), FNPC/Non-fiction (in Original, in Übersetzung), ENPC/Fiction (in Original,
in Übersetzung), ENPC/Non-fiction (in Original, in Übersetzung).
Kjetil Berg Henjum
178
Sivle, Per (1887) Vossa-stubba. Kristiania: Samlaget .
Solstad, Dag (2002) 16.07.41 . Oslo: Oktober .
Ullmann, Linn (1998) Før du sovner . Oslo: Tiden .
Vesaas, Tarjei (1998/1952) Vindane . Noveller . Oslo: Gyldendal (= Pocketutgave) .
10 .3 Übersetzungsbelege: Nicht elektronisch verfügbare Märchen
Asbjørnsen, Peder Christen und Jørgen Moe (1973/1967) Dem fehlt nichts, in den alle Weiber
verliebt sind . In: Norwegische Volksmärchen. Herausgegeben und übertragen von Klara
Stroebe und Reider Th . Christiansen . Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag (= Die Märchen der Weltliteratur) .
Asbjørnsen, Peder Christen und Jørgen Moe (1973/1967) Das blaue Band . In: Norwegische
Volksmärchen. Herausgegeben und übertragen von Klara Stroebe und Reider Th . Christiansen . Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag (= Die Märchen der Weltliteratur) .
10 .4 Übersetzungsbelege: Im Internet verfügbare Märchen
Asbjørnsen, Peder Christen und Jørgen Moe: Die sieben Füllen . http://www .hekaya .de/anzeigen .phtml/maerchen/europa_100319
Asbjørnsen, Peder Christen und Jørgen Moe: Die drei Königstöchter im blauen Berge. Frei
übersetzt nach Asbjørnsen & Moe von Julia Jacob. http://www .etojm .com/Tysk/Nor-
wegen/Kultur/Maerchen/PrinzessinenBlauerBerg .htm
La Maison Forte: http://ourworld .compuserve .com/homepages/L_P_swepston/Eventyr .htm
Dort Belege von Der Herr Peter .
10 .5 Übersetzungsbelege: Nicht elektronisch verfügbare Belletristik
Hagemann, Bror (1996) Auf der Suche nach Angela . Roman (= dtv 12221). Deutsch von Günther Frauenlob . München: Deutscher Taschenbuch Verlag .
Ullmann, Linn (1999) Die Lügnerin . Roman . Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs .
München: Droemer .
11 Literatur
Eide, Kristin Melum (2005): Norwegian Modals (= Studies in Generative Grammar 74) . Berlin, New York: Mouton de Gruyter .
Faarlund, Jan Terje / Svein Lie / Kjell Ivar Vannebo (1997): Norsk Referansegrammatikk . Oslo:
Universitetsforlaget .
Koch, Peter / Wulf Oesterreicher (1985): „Sprache der Nähe – Sprache der Distanz . Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte“,
in: Romanistisches Jahrbuch 36, 15-43 .
Venås, Kjell (1990): Norsk Grammatikk. Nynorsk . Oslo: Universitetsforlaget .
Kom skal du (få) se: Zum norwegischen Konstruktionstyp…
179
12 Tabellen
Autor
AS-Werke und Belege
T . Valstad
Teodora, 6; Teodora kommer hjem, 1
H. Jæger
Fra Christiania-Bohêmen I, 1;
Fra Christiania-Bohêmen II, 1;
Syk kjærlihet, 1; Bekjendelser, 1;
Fængsel og fortvilelse, 1
R. Jølsen
Fernanda Mona, 2; Hollases Krønike, 1;
Efterladte Arbeider: Digerheim Herreborg, 1
B . Hagemann
Duo med Scott, 2; Glemselens gate, 1;
Noen som Angela, 1
J. Lie
Dyre Rein, 1; Faste forland, 1;
Jon Sunde, 1; Kommandørens døttre, 1
D . Zwilgmeyer
Syvstjernen, 2; Barndom, 1;
Morsomme dage, 1
A .L . Kielland
En middag, 1; Gift, 1
L . Ullmann
Før du sovner, 2
A . Bjerke
De dødes tjern, 1
B . Bjørnson
Geografi og kærlighed, 1
T. Bringsværd
Bazar, 1
C . Collett
Dagbøker og breve, bind 1, 1
P . Sivle
Vetle-Raurn, 1
D . Solstad
16.07.41, 1
P .Chr .
Asbjørnsen
und J. Moe
(Volksmärchen)
De syv folerne, 3; Det har ingen Nød med
den, som alle Kvindfolk er forlibt i, 3; Reveenka, 3; De tre kongsdøtre i berget det blå,
2; Herreper, 2; Det blå båndet, 1; Gutten
som ville bli handelskar, 1; Hjemmusa og
fjellmusa, 1; Planekjørerne, 1; Store-Per og
vesle-Per, 1; Tobakksgutten, 1; Tyrihans, 1
Restgruppe
Comic-Heft von L . Fiske, 1; Kinderliederbuch von M . Munthe, 1;
Kinderbuch von K . Birkeland, Kinderlied
unbekannten Ursprungs, 1
Insgesamt
63
Tabelle 1: Das Material im Einzelnen
ZS-Werke und Belege
Auf der Suche nach
Angela, 1
Die Lügnerin, 2
Die sieben Füllen, 3;
Dem fehlt nichts, in den
alle Weiber verliebt sind,
3;
Die drei Königstöchter
im blauen Berge, 2;
Der Herr Peter, 2;
Das blaue Band, 1
14
180
Kjetil Berg Henjum
Verben im Imperativ
n=
komme (‛kommen’)
bi/vente (‛warten’)
be (‛bitten’)
følge med (‛mitkommen’)
gå (‛gehen’)
se/se seg om (‛sehen/sich
umsehen’)
bli med (‛mitkommen’)
fløtte seg (‛sich bewegen’)
forsøke (‛versuchen’)
kjenne (‛spüren’)
sette seg (‛sich setzen’)
slippe opp (‛rauslassen’)
snakke (‛sprechen’)
spare (‛sparen’)
tie still (‛schweigen’)
Insgesamt
39
6
3
2
2
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1
63
Pronomen nach
skal
du (‘du’)
jeg (‘ich’)
vi (‘wir’)
De / I (‘Sie’)
dere (‘ihr’)
hun (‘sie Sg .’)
n=
27
12
12
4
4
4
Insgesamt
63
Tabelle 2: Verben im Imperativ und Pronomen nach skal
1) Ein Infinitiv nach skal (n=50)
se (‛sehen’)
få (‛bekommen’)
lyske (‛entlausen’)
fortelle (‛erzählen’)
gå (‛gehen’)
høre (‘hören’)
kjenne (‘spüren’)
danse (‘tanzen’)
dikte (‘dichten’)
få opp (‘aufmachen’)
klippe (‘scheren’)
lodde (‘loten’)
løpe (‘laufen’)
prøve (‘ausprobieren’)
ro (‘rudern’)
sette i (‘einnähen’)
skynde seg (‘sich beeilen’)
slåss (‘sich schlagen’)
synge (‘singen’)
ta (‘nehmen’)
vise (‘zeigen’)
Tabelle 3: Verben im Infinitiv
2) Zwei Infinitive nach skal (n=13)
Erster Infinitiv
14 få (‘dürfen’)
9
5
2 søge (‘versuchen’)
2 prøve (‘versuchen’)
2
2
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
1
11
1
1
Zweiter Infinitiv
+ se (‘sehen’)
+ smake (‘kosten’)
+ høre (‘hören’)
+ tyde (‘deuten’)
+ spille (‘spielen’)
8
2
1
1
1
III. Lexikalische Modalitätsmarker
Veronika Ehrich
Das modale Satzadverb vielleicht – Epistemische (und andere?)
Lesarten
1. Zur Polyfunktionalität der Modalausdrücke
Zu vielleicht gibt es in allen europäischen Sprachen ein lexikalisches Äquivalent .
Es ist das ‘einzige eurover-sale Satzadverb’ (Ramat / Ricca 1998) . In diesem Aufsatz beschränke ich mich auf vielleicht als Satz-adverb (vgl . Zifonun 1982), auf die
Funktion als Modalpartikel oder Gradpartikel gehe ich nicht ein . Den Ausgangspunkt
meiner Überlegungen bildet der Vergleich mit den Modalverben (MV) . Zu den breit
diskutierten Eigenschaften der Modalverben gehört ihre Polyfunktionalität, also das
Nebeneinander von zirkumstanziellen (dispositionellen, deontischen, bouletischen,
realistischen) und epistemischen (= inferenziellen und evidenziellen) Lesarten . Unter
(1–4) finden sich Beispiele für die Bedeutungsvarianten von müssen .
(1)
(2)
(3)
(4)
Deontisch
Bekanntlich ist gerade das Thema der deutsch-französischen Verständigung ein äußerst
zartes Pflänzchen, das gerade von der deutschen Presse besonders behutsam behandelt
werden muss. (LIM/LI .00250, M . G . Steinert‚ Hitlers Krieg und die Deutschen)
Bouletisch / Dispositionell
Ich bekomme jetzt zwar eine Einzelzelle, wie ich es mir gewünscht habe im geheimen,
man schiebt mir auch einen Blechnapf mit Wasser herein, und obwohl es zu schmutzig
und finster ist in der Zelle, denke ich nur an das Buch, ich bitte um Papier, ich trommle an
die Tür, um Papier, weil ich etwas schreiben muss . (I . Bachmann, Malina)
Realistisch
Schon am Vortag hatten Scott und Irwin dreißig Minuten früher in die Raumkapsel zurückkehren müssen, weil sich der Sauerstoffvorrat Scotts dem Ende zuneigte .
(LIM/LI .00347, Süddeutsche Zeitung, Jahrgang 27, Nr. 83,2)
Epistemisch
Findet man also in Gesteinen hexagonale Kristallformen, dann weiß man, dass bei der
Bildung dieses Gesteinskomplexes die Temperatur höher als 537 Grad gewesen sein
muss. (LIM /LI .00236, G . Strübel‚ Mineralogie und Kristallographie)1
In Anlehnung an Kratzer (1991) unterscheide ich drei Dimensionen der modalen Bedeutung: die Modale Kraft mit der Unterscheidung von Notwendigkeit
und Möglichkeit, die Modale Basis mit der Unterscheidung von epistemischen und zirkumstanziellen Redehinter-gründen und die Ordnungsquelle
(s . Tab . 1) .
1
Dieses Beispiel zeigt, dass MV entgegen verbreiteter Annahme auch in subordinierten Sätzen epistemische Lesarten annehmen können .
184
Veronika Ehrich
Modale Kraft
Modale Basis
Modalquelle (ordering source)
möglich notwendig
zirkumstanziell
deontisch bouletisch dispositionell realistisch
möglich notwendig epistemisch
inferentiell evidentiell
Tab . 1: Dimensionen der modalen Bedeutung
Epistemische Redehintergründe sind durch das dem Sprecher verfügbare Wissen
gegeben, zirkumstanzielle durch die in einer Welt gegebenen Umstände, also
durch die Fähigkeiten, Pflichten, Wünsche, oder Absichten, die das Handeln
eines Subjekts leiten, ebenso wie durch natürliche oder technische Gesetzmäßigkeiten . Formal gesehen ist die modale Basis eine Funktion, die einer gegebenen Welt w eine Menge von zugänglichen Welten w’ zuordnet, in denen
die jeweiligen Hintergrundannahmen wahr sind . Die Quelle der Modalisierung
(ordering source) legt eine Ordnungsrelation über dieser Menge fest: Je zugänglicher eine Welt w’ für die Ausgangswelt w ist, d .h . je ähnlicher sie der
Ausgangswelt ist, desto eher kommt sie als Redehintergrund für die Deutung
eines Modalausdrucks in Betracht . Im Folgenden ist von ‘Polyfunktionalität’
die Rede, wenn ein gegebener Modalausdruck sowohl auf einer zirkumstanziellen als auch auf einer epistemischen Modal-Basis deutbar ist . Polyfunktionalität ist mithin zwar ein Spezialfall von Polysemie, aber nicht einfach mit
Polysemie gleichzusetzen .
In der grammatischen Literatur wird nach dem formalen Korrelat semantischer
Polyfunktionalität gefragt . Dabei stehen sich die Anhebungshypothese, die Hypothese der Starken Kohärenz und die Auxiliarisierungshypothese gegenüber .
(i) Anhebungshypothese: Grundlage ist die Unterscheidung von Anhebung und
Kontrolle. In einer Kontrollkonstruktion (5) weisen das Infinitivverb und das Matrixverb ihrem jeweiligen Subjekt eine eigene Thetarolle zu . Das Subjekt des eingebetteten Verbs ist ein vom Subjekt (oder Objekt) des Matrixverbs kontrolliertes
und folglich mit ihm referenzidentisches, pro, das an der Satzoberfläche keine
phonetische Realisierung erfährt . In einer Anhebungskonstruktion (6) weist nur
das eingebettete Infinitivverb seinem Subjekt eine eigene Theta-Rolle zu. Das
an der Satzoberfläche erscheinende Matrix-Subjekt ist das aus dem eingebetteten
Satz angehobene Subjekt der Infinitiv-Prädikation (6).
(5)
(6)
, da [IPJonathani [CP PROi Paula zu überzeugen] versucht]
, da [__ [IP Jonathani Paula zu überzeugen] scheint à
da [Jonathan [IP ti Paula zu überzeugen] scheint
In ihrer klassischen Form (Ross 1969) besagt die Anhebungshypothese, dass MV
in deontischer Lesart als Kontrollverben konstruieren, in epistemischer Lesart
hingegen als Anhebungsverben . Radikalere Varianten der Anhebungshypothese
gehen davon aus, dass MV generell Anhebungsverben sind (Wurmbrand 1999) .
Wollen, welches in jeder seiner Lesarten ein Kontrollverb ist, kann unter dieser
Das modale Satzadverb vielleicht…
185
Annahme nicht als MV betrachtet werden, obwohl es die MV-typische Eigenschaft der Polyfunktionalität aufweist und sich nicht allein bouletisch (auf Wünsche bezogen), sondern auch quotativ-evidenziell (aus dem Hören-Sagen abgeleitet) deuten lässt (7)2 .
(7)
Das mit „den schlimmen Mafia-Methoden im Schalck-Untersuchungsausschuss“, den
Vergleich mit den Ausschussmitgliedern und den „Männern in den grauen Trabis“
(sprich: Stasi) will er so auch nicht gesagt haben . (MMM/101 .33184, Mannheimer Morgen, 21 .01 .99, Politik: Von Napf zu Napf)
(ii) Hypothese der Starken Kohärenz (Reis 2001): Die Hypothese basiert auf der
Tatsache, dass alle MV obligatorisch kohärent konstruieren, d .h . Modalverb und
Infinitivverb fusionieren zu einem unauflöslichen Verbalkomplex. Auch andere
Verben (z .B . scheinen, pflegen) sind obligatorisch kohärent, doch nur die MV regieren zusätzlich den reinen Infinitiv (1. Status). Statusrektion und obligatorische
Kohärenz zusammen genommen bilden das Merkmal der Starken Kohärenz und
sind der Hypothese zufolge sowohl notwendige als auch hinreichende Vorbedingungen für Polyfunktionalität . Modalausdrücke, denen diese Eigenschaften fehlt,
sollten der Hypothese zufolge nicht polyfunktional und also entweder epistemisch
oder zirkumstanziell zu deuten sein .
(iii) Auxiliarisierungshypothese (Diewald 1999): MV in zirkumstanzieller Lesart sind Vollverben, MV in epistemischer Lesart Auxiliarverben3; sie geben einer
sprecherrelativen Faktizitätsbewertung Ausdruck, insofern sind sie deiktisch zu
deuten . Die deiktische Orientierung teilen die epistemischen MV der Hypothese
zufolge mit Tempus und Verbmodus, die im Deutschen flexivisch oder mittels
Auxiliarisierung, in jedem Fall aber grammatisch (nicht-lexikalisch) realisiert
werden . Begründet wird die Auxiliarisierungshypothese u . a . damit, dass epistemische MV nicht unter zirkumstanziellen einbettbar sind .
Die unterschiedlichen Hypothesen zur Polyfunktionalität weisen durchaus
Überschneidungen auf . Die Hypothese der Starken Kohärenz und die Anhebungshypothese stimmen darin überein, dass Anhebung eine notwendige Bedingung
für die Zugänglichkeit epistemisch-inferenzieller Redehintergründe ist4 . Für die
Auxiliarisierungshypothese und die Hypothese der Starken Kohärenz lässt sich
2
3
4
Weitere Argumente gegen die Anhebungshypothese finden sich in Reis (2001); Axel (2001)
präsentiert zusätzlich diachrone Kontra-Evidenzen .
Die Auxiliarisierungsthese wird auch von Generativen Grammatikern vertreten (z .B . Hinterhölzl 1999, Abraham 2001), die zirkumstanzielle MV als lexikalische Köpfe von vP,
epistemische MV als funktionale Köpfe einer ModP analysieren . Eine kritische Diskussion
dieser Ansätze findet sich in Reis (2001).
Anhebung ist aber nicht zureichend für inferenzielle Epistemizität: sollen ist ein Anhebungsverb und polyfunktional, aber die neben dem deontischen Gebrauch möglichen nichtdeonischen Verwendungen lassen sich nicht inferenziell deuten, für sie kommt allein eine
quotativ-evidenzielle Interpretation in Frage (Ehrich 2001) .
186
Veronika Ehrich
als gemeinsames Merkmal anführen, dass Bondedness zwischen Modalverb und
Infinitivverb eine wesentliche Eigenschaft von MV-Konstruktionen bildet. Übereinstimmend gehen die Hypothesen (i-iii) davon aus, dass die jeweils als entscheidend angenommene grammatische Basis eine notwendige und hinreichende
Bedingung für Polyfunktionalität darstellt . Ist das grammatische Merkmal abwesend, gibt es, so lässt sich folgern, keine Polyfunktionalität .
Im Folgenden soll geklärt werden, wie es sich in dieser Hinsicht mit dem modalen Satzadverb vielleicht verhält: Sind modale Satzadverbien im Allgemeinen
und ist vielleicht im Besonderen auf eine einzige modale Basis beschränkt oder
sind vielleicht (und möglicherweise auch andere modale Satzadverbien) ebenfalls
polyfunktional, also sowohl zirkumstanziell als auch epistemisch verwendbar?
Vielleicht wird in den Grammatiken und z .B . auch in Ramat / Ricca (1998) als epistemisches Modal-Adverb klassifiziert; (8, 9) illustrieren den epistemischen Gebrauch von vielleicht . Allerdings ist vielleicht auch in Verwendungen belegt, die
eine zirkumstanzielle Deutung nahelegen (10, 11) . Vielleicht kann sich auf Handlungen beziehen, die für die Zukunft ins Auge gefasst werden, und zum Beispiel
in kommissiven (10) oder direktiven Sprechakten (11) eine modal einschränkende
Wirkung auslösen .
(8)
(9)
Doch war er überzeugt, die Legende eines mythischen Schatzes vor sich zu haben . Mit
seiner neuen Übersetzung will McCarter jetzt beweisen: Den Schatz hat es wirklich gegeben . Vielleicht liegt er noch heute im Jordantal und am Toten Meer begraben. (S93/
H01 .00075 Gold im Grab, S . 120)
Es sind die Bilder von ihr, die mehr über sie sagen als all die Nachrufe, die jetzt geschrieben werden – vielleicht hatte die Palucca sich deshalb vergeblich gewünscht, ihren Tod
nicht bekannt zu geben . (S93/H13 .01533 GESTORBEN, S . 280)
(10) Während Bär ihre sportliche Zukunft klar ins Auge gefaßt hat, will sie sich beruflich noch
nicht festlegen. Der „schlagkräftigen“ Juniorenmeisterin schwebt eine Tätigkeit im sozialen Bereich vor . „Vielleicht arbeite ich später mit Kindern oder Behinderten“, sagt das
„Tischtennis-As“. (R97/JAN.01031 Frankfurter Rundschau, 07 .01 .1997, S . 4) .
(11) Ja, gut, gucken wir mal, obwohl das Wetter natürlich im na, obwohl mit dem Wetter macht
es noch keinen Unterschied. Gucken wir mal im Januar. Ja, schlagen Sie vielleicht mal
was vor . (Verb Mobil, m085nxx0_002_REM_121050)
Insbesondere die Verwendung von vielleicht in Imperativsätzen wie (11) scheint
darauf hinzudeuten, dass auch modale Satzadverbien wie vielleicht semantisch polyfunktional sind . Dies würde die grammatischen Hypothesen zur Polyfunktionalität der MV deutlich schwächen: Anhebung / Kohärenz / Auxiliarisierung wären
nicht mehr als notwendige Bedingungen für Polyfunktionalität anzusehen, sondern
bestenfalls als hinreichende . Möglicherweise müsste man sogar annehmen, dass
es nur eine mehr oder minder arbiträre Korrelation zwischen den grammatischen
Das modale Satzadverb vielleicht…
187
und den semantischen Eigenschaften der MV gibt und dass Polyfunktionalität als
eine Eigenschaft von Modalität als einer semantischen Kategorie betrachtet werden muss .5 Im Folgenden soll jedoch gezeigt werden, dass vielleicht trotz der in
(8 – 11) demonstrierten Verwendungsvielfalt semantisch monofunktional ist und
in allen, auch den kommissiven und direktiven Vorkommen eine epistemische
Grundbedeutung hat .
2.
Zur Syntax und Semantik von vielleicht als Satzadverb
2 .1 Zur Bedeutung von vielleicht
Vielleicht hat neben seiner Funktion als Satzadverb bekanntlich auch Verwendungen als Modalpartikel und als Gradpartikel . Auf diese Verwendungen gehe ich im
Folgenden nicht näher ein6 . Stattdessen soll vielleicht im Vergleich zu anderen,
ebenfalls modalen Satzadverbien betrachtet werden (Tab . 2) .
Epistemisch
1 . bestimmt, sicher, wahrscheinlich
Präsumptiv
2 . vielleicht, möglicherweise, womöglich
vermutlich, voraussichtlich
Evindenziell offenkundig, offenbar, anscheinend
Quotativ
angeblich, vorgeblich
Volitiv
hoffentlich
Tab . 2: Modale Satzadverbien
Mit der Verwendung eines modalen Satzadverbs bringt ein Sprecher zum Ausdruck, dass er den modalisierten Sachverhalt nicht als faktisch ansieht . Er legt sich
aber auch nicht auf die Nicht-Faktizität von p fest . Darin unterscheiden sich die
5
6
Untersuchungen zu modalen Adjektiven (Kley 2001) und zum modalen Passiv (Holl 2006)
sprechen gegen diese Annahme . Für die modalen Adjektive zeigt Kley, dass sie zwar in
variablen Lesarten vorkommen, dass diese jedoch auf eine gegebene modale Basis beschränkt sind; ein Nebeneinander von zirkumstanziellen und epistemischen Lesarten gibt
es für die modalen Adjektive nicht . Auch modale Passive lassen, wie Holl demonstriert,
grundsätzlich nur zirkumstanzielle Basen zu und sind damit ebenfalls nicht polyfunktional . Für drohen und versprechen in Sätzen wie Es droht / verspricht zu regnen zeigt Reis
(2005), dass es sich dabei entgegen verbreiteter Annahme nicht um modale, sondern um
aspektuelle Verwendungen handelt; drohen und versprechen als Anhebungsverben sind danach Phasenoperatoren, die das nahe Bevorstehen eines (vom Sprecher positiv oder negativ
bewerteten) Ereignisses anzeigen .
Klar ist: als Modalpartikel ist vielleicht nicht vorfeldfähig, als Gradpartikel steht es unmittelbar vor oder nach seiner Bezugskonstituente: vielleicht [fünfzig Zuschauer] verfolgten
das Spektakel / [Fünfzig Zuschauer]vielleicht verfolgten das Spektakel.
188
Veronika Ehrich
modalen Satzadverbien von den faktiven und den konformativen Satzadverbien
wie leider, wirklich, tatsächlich, zweifelsohne, zweifellos .
Mit der Verwendung eines epistemischen Adverbs der ersten Reihe schreibt ein
Sprecher dem Sachverhalt p eine hohe Wahrscheinlichkeit zu, mit der Verwendung von Epistemika der zweiten Reihe lässt er p nicht als wahrscheinlich, aber
als möglich erscheinen . In dieser Hinsicht stimmen die Präsumptiva mit ihnen
überein . Allerdings sind die Epistemika der 2 . Reihe ‘tolerante Satzoperatoren’
im Sinne von Löbner (1987) und Horn (1989) . Dies bedeutet, dass ein Sprecher
(12) behaupten kann, ohne sich in einen logischen Widerspruch zu verwickeln .
Vielleicht, möglicherweise, womöglich teilen diese Eigenschaft miteinander, aber
weder mit den Präsumptiva vermutlich, voraussichtlich noch mit den epistemischen Adverbien der ersten Reihe wie sicher, bestimmt (13) .
(12) Vielleicht / möglicherweise gewinnt Tommy das Spiel, aber vielleicht / möglicherweise
gewinnt er es nicht .
(13) *Bestimmt / wahrscheinlich / vermutlich gewinnt Tommy das Spiel, aber bestimmt / wahrscheinlich / vermutlich gewinnt er es nicht .
(14) *Offenkundig / angeblich / hoffentlich hat Tommy das Spiel verloren, aber offenkundig /
angeblich / hoffentlich hat er es nicht verloren .
Die epistemischen Adverbien der 1 . Reihe sind hinsichtlich der modalen Kraft
zu stark, als dass sie neben p auch ¬p unter sich einbetten könnten . Mit den
präsumptiven Adverbien gibt ein Sprecher zu verstehen, dass er p vermutet /
voraussieht. Mit der Verwendung dieser Adverbien verpflichtet sich der Sprecher darauf, dass er Gründe für die Annahme, dass p, angeben kann . Es würde
die Konsistenz seiner Argumentation pro p unterlaufen, wenn er zugleich ¬p
vermuten / voraussehen würde. Im Unterschied dazu verpflichtet sich der Sprecher mit vielleicht / möglich nur darauf, dass er Hinweise sowohl für p als auch
für ¬p besitzt . Mit der Verwendung eines evidenziellen Adverbs wie offenkundig, offenbar bringt der Sprecher zum Ausdruck, dass p zwar nicht als faktisch
gelten kann, dass er sich aber aus eigenem Augenschein oder eigener Überlegung davon überzeugt hat, dass p zutrifft . Demgegenüber machen Quotativa
(angeblich, vorgeblich) deutlich, dass ein anderer als der Sprecher sich für die
Wahrheit von p verbürgt hat . Evidenzielle und quotative Satzadverbien sind
keine toleranten Operatoren, ebenso wenig wie volitives hoffentlich in (14) .
2 .2 Vorfeldfähigkeit und Erweiterbarkeit
Modale Satzadverbien können wie alle Adverbien (und im Unterschied zu den
Grad-, Modal- oder Intensivierungspartikeln) im Vorfeld stehen (Hetland 1992) .
Dies unterscheidet sie von Kommentar-Adverbien wie ehrlich, kurzum, welche
grundsätzlich nicht innerhalb des Satzrahmens stehen .
Das modale Satzadverb vielleicht…
189
(15) *Ehrlich / kurzum hat Deutschland die WM nicht gewonnen .
(16) Ehrlich (kurzum), Deutschland hat die WM nicht gewonnen .
Kommentierende Partizipialsätze sind dagegen im Vorfeld (17) ebenso wie außerhalb der Rahmenstruktur (18) möglich:
(17) Ehrlich gesagt (?kurz gesagt) hat Deutschland die WM nicht gewonnen .
(18) Ehrlich gesagt, Deutschland hat die WM nicht gewonnen .
Zu den Charakteristika der Satzadverbien wird die Nicht-Erweiterbarkeit gerechnet . Vielleicht als modales Satzadverb ist zwar ohne jede Erweiterung möglich und
damit im Sinne der X-bar-Theorie zugleich minimal und maximal, doch kann vielleicht auch durch Partikeln modifiziert werden. Vielleicht teilt diese Eigenschaft
mit bestimmt und sicher ebenso wie mit offenkundig, offensichtlich . Dabei sind die
Adverbien, die einem hohen Sicherheitsgrad Ausdruck geben durch ganz intensivierbar, die mit niedrigem Sicherheitsgrad lassen sich durch nur restringieren .
(19) Er kommt ganz bestimmt / nur vielleicht zu der Party .
(20) Ganz offensichtlich / ganz offenkundig liegt hier ein Betrugsversuch vor .
Die anderen Adverbien aus Tab . 2 sind nicht in dieser Weise erweiterbar:
(21) *Jonathan kommt ganz vermutlich.
(22) *Jonathan kommt nur hoffentlich.
2 .3 Einbettung
Epistemisches vielleicht ist in untergeordneten Sätzen möglich und unter faktive
wie nicht-faktive Verben der propositionalen Einstellung einbettbar .
(23) Ich weiß / es überrascht mich, dass Jonathan vielleicht befördert wird .
(24) Ich glaube / denke, dass Jonathan vielleicht befördert wird .
Einbettung unter faktive Matrixprädikate ist allerdings nur möglich bei Zukunftsbezug der eingebetteten Proposition . Referiert der eingebettete Satz auf die Vergangenheit, ist ein faktives Matrixverb nicht mit vielleicht verträglich .
(23’) *Ich weiß/ es überrascht mich, dass Jonathan vielleicht befördert worden ist .
(24’) Ich glaube / nehme an, dass Jonathan vielleicht befördert worden ist .
Hinsichtlich der Einbettung unter (nicht-)faktive Prädikate unterscheidet sich
vielleicht von den anderen modalen Satzadverbien . Nicht-tolerante Operatoren
190
Veronika Ehrich
lassen sich weder unter faktive, noch unter nicht-faktive Prädikate einbetten . Faktive und volitive Satzadverbien (leider, hoffentlich) sind in eingebetteten Sätzen
zwar marginal möglich, sie müssen dann jedoch als parenthetische Einschübe verstanden werden, mit denen der Sprecher einen Kommentar zur Proposition des
eingebetteten Satzes abgibt .
(25) Ich weiß / es überrascht mich, dass Jonatahn – leider / hoffentlich – kommt .
(26) Ich glaube / denke, dass Jonathan – leider / hoffentlich – kommt .
Diese Fakten deuten darauf hin, dass die nicht-toleranten Operatoren grundsätzlich weiten Skopus über den Gesamtsatz haben . Die toleranten Satzoperatoren verhalten sich auch in dieser Hinsicht toleranter, indem sie sowohl im
Matrix- als auch im eingebetteten Satz verwendbar sind . Dass dies so ist, gibt
zugleich einen Hinweis darauf, dass vielleicht nicht als Illokutionsindikator
analysierbar ist .
2 .4 Skopus-Probleme
Satzadverbien sind generell nicht negierbar, sie haben immer weiten Skopus über
der Negation .
(27) Der Schüler hat vielleicht nicht das Geld für
den Ausflug. Vielleicht (¬ p)
(28) Der Schüler hat bestimmt / offenbar / angeblich nicht das
Geld für den Schulausflug. S-ADV (¬ p)
Aus demselben Grunde bezieht sich die Zurückweisung einer Behauptung immer
auf den assertierten Sachverhalt, nie auf das Satzadverb (29) . In dieser Hinsicht
unterscheiden sich die modalen Satzadverbien deutlich von den modalen Adjektiven (30, 31) sowie von den Modalverben (32), die aufgrund ihrer kohärenten
Konstruktionsweise engen oder weiten Skopus der Negation (wenn auch nicht in
allen Lesarten) zulassen (Ehrich 2001) .
(29) A: Vielleicht kommt Hans morgen .
B: Nein .
(30) Es ist nicht notwendig / möglich, dass du die Einladung annimmst . ¬ Notw (p) / ¬ Mögl
(p)
(31) Es ist notwendig / möglich, dass du die Einladung nicht annimmst . Notw (¬ p) / Mögl
(¬ p)
In (30, 31) wird der Skopus der Negation durch die Stellung des Negators
angezeigt .
Das modale Satzadverb vielleicht…
191
(32) Du musst / darfst die Einladung nicht annehmen .
¬ muss (p), muss (¬p) / ¬ darf (p), darf ( ¬p)
(33) Du sollst /willst die Einladung nicht annehmen .
¬ soll (p), soll (¬p) / ¬ will (p), will (¬p)
Die Negation bei Modalverben in (32, 33) wird zwar vorzugsweise mit weitem
Skopus der Negation interpretiert, enger Skopus kann jedoch nicht ausgeschlosen
werden und ist bei sollen und wollen auch gänzlich unmarkiert . Hier ist es nun
interessant, dass vielleicht über einem epistemischen MV immer Skopus hat:
(34) Vielleicht muss der Gärtner Mörder gewesen sein .
vielleicht (muss (p)) / *muss (vielleicht (p))
(35) Vielleicht kann der Gärtner der Mörder gewesen sein .
vielleicht (kann (p))
Die Interpretation für (34), dass es möglicherweise (vielleicht) zwingend ist, anzunehmen, dass der Gärtner der Mörder ist, ist kein Widerspruch; (35) in der
Deutung, dass es möglicherweise denkbar ist, dass er der Mörder ist, ist nicht
redundant . Erwarten würde man solche Kombinationen in argumentativen Kontexten, in denen verschiedene Annahmen über den in Rede stehenden Sachverhalt
ausgetauscht werden:
(36) Es ist schon denkbar, dass der Gärtner der Mörder ist, ja vielleicht MUSS er sogar der
Mörder sein .
vielleicht (muss (p))
(37) Ja, du hast schon recht, vielleicht KANN der Gärtner der Mörder gewesen sein, aber ich
halte das nicht für sehr wahrscheinlich .
vielleicht (kann (p))
Während ein epistemisches Modalverb im Skopus eines adverbialen epistemischen Operators stehen kann, ist dies für mehrfach eingebettete Modalverben
nicht möglich:
(38) Der Gärtner mussepist die Türe geöffnet haben könnenzirk .
(38’) *Der Gärtner musszirk die Türe geöffnet haben könnenepist .
(39) Der Gärtner kannepist die Türe geöffnet haben müssenzirk .
(39’) *Der Gärtner kannzirk die Tür geöffnet haben müssenepist .
Diese Skopusasymmetrien zeigen, dass epistemisch gebrauchte Modalverben und
epistemische Satzadverbien unterschiedliche Funktionen erfüllen . Das modale
Satzadverb vielleicht gibt einer epistemischen Unsicherheit Ausdruck, die nicht
zwingend auf modalem Schließen beruht, epistemische MV sind hingegen grundsätzlich inferenziell, sie setzen immer eine Schlussprozedur voraus . Vielleicht
Veronika Ehrich
192
drückt eine epistemische Unsicherheit bezüglich einer im Diskurskontext virulenten Annahme aus, die von einem der Gesprächspartner explizit geäußert oder
von den Gesprächseteiligten implizit erwogen worden sein kann . Durch vielleicht
wird immer die kontextuell gegebene Gesamtproposition modal eingeschränkt,
und diese kann auch eine durch Modalverben bereits epistemisch modalisierte
Proposition sein .
2 .5 . Illokutionsbeschränkungen
Das modale Satzadverb vielleicht kommt in Feststellungen (V2-Deklarativsätzen)
und in Entscheidungsfragen (V1-Interrogativsätzen) vor .
(40) Vielleicht hat Jonathan heute eine Prüfung.
(41) Hat Jonathan vielleicht heute eine Prüfung?7
Dies entspricht seinem epistemischen Charakter: Feststellungen und Entscheidungsfragen stimmen in der Anpassungsrichtung (‘Wort auf Welt’) überein (vgl .
dazu Searle 1982) . Mit einer Assertion teilt man mit, dass nach Überzeugung
des Sprechers die Proposition den Gegebenheiten der außersprachlichen Welt
entspricht; mit Interrogativen versucht man in Erfahrung zu bringen, ob dies so
ist . BRRZ (1992) fassen diese deshalb als Darstellungshandlungen unter einem
gemeinsamen Sprechakttyp zusammen . Modalisierung mittels vielleicht schränkt
die Sicherheit ein, mit der man sich bei einer Feststellung darauf festlegt, dass die
Anpassungsvoraussetzung erfüllt ist . Mit einer epistemisch eingeschränkten Frage, gibt man zu erkennen, dass man eine affirmative Antwort für denkbar hält, aber
auch eine negative Antwort nicht ausschließt . Vielleicht ist dementsprechend auch
in interrogativ gebrauchten V2-Sätzen und in deliberativen ob-Fragen8 möglich .
(40’)
(41’)
Jonathan hat vielleicht heute eine Prüfung?
Ob Jonathan vielleicht heute eine Prüfung hat?
Hingegen lassen sich narrative V1-Deklarativsätze, die die Faktivität des Berichteten gerade nicht zur Disposition stellen, durch vielleicht nicht modal einschränken (42) . Auch W-Fragesätze sind aufgrund der von ihnen ausgelösten Präsuppositionen nicht mit der epistemischen Einschränkung durch vielleicht verträglich .
7
8
In (41) kann vielleicht aufgrund der gegebenen Stellungsmerkmale auch als Modalpartikel
aufgefasst werden im Sinne von Hat J. etwa heute eine Prüfung? Rückt man vielleicht in
die Spitzenstellung des Mittelfelds kommt nur noch die modal einschränkende Deutung in
Betracht: Hat vielleicht Jonathan heute eine Prüfung?
Truckenbrodt (2004) argumentiert, dass selbstständige V-Letzt-Fragen anders als V1Fragen nicht auf eine Antwort zielen . Dies unterstreicht den epistemischen Charakter
von vielleicht.
Das modale Satzadverb vielleicht…
193
(42) * Vielleicht klingelt da gestern einer an meiner Tür und
will mir einen Handyvertrag aufschwatzen,…
(43) *Warum hast du vielleicht meinen Schlüssel versteckt?
Allerdings ist vielleicht in W-Fragen möglich, bei denen das Zutreffen des Sachverhalts nicht präsupponiert ist . Diese Fragen sind trotz ihrer W-Form der Funktion nach Entscheidungsfragen:
(44) Wer hat vielleicht meine Autoschlüssel gefunden? ≈ Hat vielleicht (irgend)wer meine
Autoschlüssel gefunden?
Nicht alle Satzadverbien unterliegen denselben illokutionären Beschränkungen
wie vielleicht. Entscheidungsfragen sind möglich mit epistemischen und konfirmativen Adverbien (45, 46), mit präsumptiven Adverbien sind sie nur schwach
akzeptabel .
(45)
(46)
Hat Jonathan heute sicher / bestimmt / womöglich / vielleicht eine Prüfung?
Hat Jonathan heute wirklich / tatsächlich eine Prüfung?
Evidenzielle, quotative und volitive Satzadverbien sind in Entscheidungsfragen
nicht verwendbar (47, 48):
(47) * Hat Jonathan heute vermutlich / wahrscheinlich eine Prüfung?
(48) *Hat Jonathan heute offenbar / anscheinend / angeblich eine Prüfung?
Die Erklärung für das unterschiedliche Verhalten der Satzadverbien liegt auf der
Hand . Mit epistemischen Adverbien fragt der Sprecher seinen Adressaten, ob dieser
den in Rede stehenden Sachverhalt p für möglich hält, mit konfirmativen Satzadverbien fragt er nach einer Bestätigung für p . In diesem Fall muss die Annahme, dass p
der Fall ist, im Kontext virulent sein . Mit präsumptiven, evidenziellen und quotativen
Satzadverbien macht ein Sprecher dagegen deutlich, dass er bereits Evidenzen dafür
besitzt, dass p zutrifft . Daher kann er nicht zugleich fragen, ob p der Fall ist . Dasselbe gilt für faktive Satzadverbien: mit der Verwendung von leider gibt ein Sprecher
zu verstehen, dass er p für gegeben hält . Das volitive Adverb hoffentlich ist in Entscheidungsfragen nicht möglich (49) . Mit der Verwendung von hoffentlich drückt ein
Sprecher aus, dass er die Verwirklichung wünscht . Eine solche Einstellungsbekundung kann nicht zugleich mit einer Frage vollzogen werden . Daher ist hoffentlich in
(49) allenfalls dann akzeptabel, wenn man es als parenthetische Kommentierungen
zu der erfragten Proposition p deutet . Dasselbe gilt für faktive Satzadverbien wie
leider, das in (50) nur als Kommentierung zu dem erfragten Sachverhalt p ist .
(49) *Hat Jonathan heute hoffentlich eine Prüfung?
(50) Hat Jonathan heute – leider – eine Prüfung?
194
Veronika Ehrich
Vorkommen von vielleicht in Sprechakten, bei denen die Anpassungsrichtung
Wort auf Welt ist, sind grundsätzlich epistemisch zu deuten . Wir haben jedoch
oben gesehen, dass vielleicht auch in Imperativsätzen vorkommt .
(51) Ja, gut, gucken wir mal, obwohl das Wetter natürlich im na, obwohl mit dem Wetter
macht es noch keinen Unterschied, gucken wir mal im Januar. Ja, schlagen Sie vielleicht
mal was vor . (Verb Mobil, m085nxx0_002_REM_121050) (= 11 oben)
Vielleicht ist ferner möglich in Deklarativsätzen und Fragesätzen, die als Aufforderungen oder Vorschläge verwendet werden
(52) Das ist etwas schlecht bei mir, weil ich würde nämlich am sechsundzwanzigsten April
nach Zell fahren und dort zwei Tage verbringen. Könnten wir vielleicht einen andern
Termin vereinbaren? Wie wäre es im Mai, und zwar in der Zeit vom achten Mai bis einschließlich zwölften Mai? (Verb Mobil m301dxx0_003_BEE_121050)
(53) also, am besten nennen Sie vielleicht einen Termin, da ich ja ja, vielleicht machen Sie mal
einen Vorschlag . (Verb Mobil m056nxx0_017_HEK_051050)
Beispiele wie diese werfen zwei Fragen auf: (i) Gibt es überhaupt illokutionäre Beschränkungen für vielleicht, oder kann es in jedem Sprechakttyp verwendet werden? (ii) Hat vielleicht in direktiven Sprechakten eine deontische
oder volitive Lesart? In diesem Fall wäre es ebenso wie die Modalverben
polyfunktional .
Ad (i): Obwohl vielleicht auch in direktiven Sprechakten bzw . in Sprechakten
mit direktiver Funktion möglich ist, unterliegt es klaren Illokutionsbeschränkungen . So kann vielleicht nicht in Sprechakten vorkommen, für die keine Anpassungsrichtung definiert ist. Vielleicht ist weder in expressiven Sprechakten (54,
55) möglich, noch in Deklarationen (56, 57) .
(54)
(55)
(56)
(57)
*Vielleicht danke ich Ihnen für Ihr freundliches Angebot .
* Seien Sie vielleicht herzlich willkommen in Tübingen .
*Hiermit erkläre ich vielleicht das Buffet für eröffnet .
*Ich kündige hiermit vielleicht den Mietvertrag .
Expressive sind nicht für eine Anpassungsrichtung definiert. Deklarationen haben
eine doppelseitige Anpassungsrichtung, durch ihren Vollzug werden zugleich die
Worte der Welt und die Welt den Worten angepasst . Dies ist mit epistemischer
Unsicherheit nicht verträglich . Direktive Sprechakte (51-53) haben zwar auch die
Anpassungsrichtung Welt auf Wort, da die Realisierung jedoch in die Zukunft
verschoben ist, kann es eine epistemische Unsicherheit darüber geben, ob p tatsächlich zustande kommen wird . Die Beschränkung von vielleicht auf Sprechhandlungstypen mit einer definierten und einseitigen Anpassungsrichtung deutet
darauf hin, dass es eine epistemische Grundbedeutung hat .
Das modale Satzadverb vielleicht…
195
3. Vielleicht als epistemischer Operator
Ist vielleicht ein Illokutionsindikator?
3 .1
Die in der Überschrift 3 .1 gestellte Frage wurde ausführlich diskutiert in einer
Kontroverse zwischen Bartsch (1972) auf der einen und Lang / Steinitz (1978)
bzw . Lang (1983) auf der anderen Seite . Bartsch nahm an, dass Satzadverbien in
Feststellungen wie (58) und (59) „performativ“ gebraucht werden . Mit der Äußerung derartiger Sätze wird, so Bartsch (1972: 52), eine Vermutung / ein Bedauern „nicht konstatiert, sondern ausgedrückt“ . Satzadverbien unterscheiden sich
in diesem Punkt von den entsprechenden Einstellungsverben, (wobei jedoch zu
vielleicht keine Verb-Entsprechung existiert) .
(58) Peter kommt vermutlich / vielleicht . (K0-Adv .)
(59) Bedauerlicherweise / leider kommt Peter .
Der Unterschied zwischen den Satzadverbien und den Einstellungsverben besteht
darin, dass letztere neben einer performativen auch eine konstatierende Verwendung zulassen und daher negierbar sind, was – wie wir oben schon gesehen haben
– für die Satzadverbien nicht gilt .
(60) * Der Zug hat nicht vermutlich / bedauerlicherweise Verspätung . 9
(61) Ich vermute / bedauere nicht, dass der Zug Verspätung hat .
Den performative Charakter der Satzadverbien stellen Lang / Steinitz (1978) (ebenso Lang 1983) grundsätzlich in Frage . Allerdings sehen auch sie die Notwendigkeit zwischen der Beschreibung einer Einstellung und der Bezeugung (Kundgabe)
einer Einstellung zu trennen . Mit (62) kann eine Versicherung vollzogen werden,
mit (63) die Beschreibung einer Einstellung . Einstellungsbeschreibungen sind negierbar (63’) und lassen sich nicht in performative Formeln einbetten (64) . Das
spricht gegen die Performativitätshypothese von Bartsch .
(62)
(63)
(62’)
(63’)
(64)
Ich versichere dir (hiermit), dass Peter verunglückt ist; (*aber ich sage es niemandem) .
Ich bin mir (*hiermit) sicher, dass Peter verunglückt ist, (aber ich sage es niemandem) .
*Ich versichere dir (hiermit) nicht, dass Peter verunglückt ist .
Ich bin (*hiermit) nicht sicher, dass (ob) Peter verunglückt ist .
*Der Zug hat (*hiermit) vermutlich Verspätung .
Andererseits sind modale Satzadverbien (wie bereits oben ausgeführt) anders
als ihre adjektivischen Gegenstücke nicht negierbar (65) . Das spricht gegen die
9
Die Sätze (60, 61) sind allerdings dann akzeptabel, wenn man nicht als metalinguistische Negation auffasst wie in Der Zug hat nicht verMUTlich Verspätung, sondern ganz
sicher .
196
Veronika Ehrich
Annahme, dass sie Einstellungen beschreiben, statt sie zu bezeugen, und damit
für die Performativitätsannahme .
(65) *Der Zug hat nicht vermutlich / vielleicht Verspätung
Kombinierbarkeit mit hiermit ist ohnehin kein hinreichendes Kriterium für das
(Nicht-)Vorliegen von Performativität, denn es gibt auch andere, klar performative Äußerungen, die hiermit nicht zulassen (66, 67)
(66) A: „Möchtest du noch einen Kaffee?“ B: *„Ja, hiermit bitte.“
(67) „Tschüs *hiermit bis zum nächsten Mal .“
Mit (66) erklärt der Sprecher die Annahme eines Angebots, mit (67) erklärt er
seinen Abschied10 . Performativität ist hier fraglos gegeben, dennoch kann hiermit
nicht verwendet werden .
Einstellungsbekundungen wie Ich bin sicher /Ich freue mich / ich wünsche mir
etc . bilden nach BRRZ eine eigene – von den Handlungserklärungen zu unterscheidende – Klasse von Sprechakten (Tab . 3) . Einstellungsbekundungen unterscheiden sich, obwohl per default im Deklarativsatz-Modus erfolgend, sowohl
von den Assertionen als auch von den Ausdruckshandlungen: von den Assertionen durch das Fehlen eines Wahrheitsanspruchs, von den Ausdruckshandlungen
durch das Fehlen eines direkten Adressatenbezugs .
Handlungserklärungen
Einstellungsbekundungen
Deklaration (Taufe, Gerichtsurteil)
----
Ausdruckshandlung
Emotiv / Evaluativ: Ich freue
mich, dass… / Ich bedauere, dass…
Darstellungshandlung (Assertion, Frage) Epistemisch / Doxastisch: Ich weiß, dass / Ich
glaube, dass
Regulierungshandlung (Versprechen,
Volitiv / Intentional: Ich möchte, dass / Ich beabAufforderung)
sichtige zu…
Tab. 3: Sprechaktklassifikation nach BRRZ
Einstellungsbekundungen können indirekt zu Handlungserklärungen herangezogen werden . Mit (68) vollzieht ein Sprecher eine Bewillkommnung, mit (69) eine
Entschuldigung . Modalisierung durch vielleicht ist in dieser Verwendung ausgeschlossen (68’, 69’) .11
10 Anstelle von (67) ist allerdings „Und hiermit: Tschüs!“ möglich . In dieser Formulierung ist hiermit jedoch Bestandteil der Ankündigung, dass nun der Abschied erfolgen wird .
11 Vielleicht im Mittelfeld wäre in (68’, 69’) möglich: Ich freue mich vielleicht dich zu sehen .
Es tut mir vielleicht leid, dass ich zu spät gekommen bin . Doch wäre dies die ModalpartikelVerwendung .
Das modale Satzadverb vielleicht…
(68)
(69)
(68’)
(69’)
197
Ich freue mich (*hiermit), Sie zu sehen .
Es tut mir (*hiermit) leid, dass ich zu spät gekommen bin .
*Vielleicht freue ich mich, dich zu sehen .
*Vielleicht tut es mir leid, dass ich zu spät gekommen bin .
Ich schließe aus diesem Befund, dass vielleicht als Satzadverb grundsätzlich
nicht die Illokution einer Handlungserklärung modalisiert, sondern die Kundgabe einer Einstellung (70-72) oder die Proposition, auf die sich die Einstellung
bezieht (73-75) .
(70) Ich möchte vielleicht, dass du mir heute dein Auto leihst .
(71) Es ist mir vielleicht lieber, wenn du heute zu Hause bleibst, statt schon wieder in die Disko zu gehen .
(72) Ich habe vielleicht vor, heute in die Oper zu gehen .
(73) Ich möchte, dass du mir vielleicht heute dein Auto leihst .
(74) Es ist mir lieber, wenn du vielleicht heute zu Hause bleibst, statt schon wieder in die
Disko zu gehen .
(75) Ich habe vor, heute vielleicht in die Oper zu gehen .
In (70-72) wird die zum Ausdruck gebrachte Einstellung als noch nicht festgelegt
charakterisiert, in (73-75) wird eine definitive Einstellung zu einem hypothetischen
Sachverhalt ausgedrückt . Einstellungsbekundungen sind in solchen Fällen indirekt zur Realisierung einer Handlungserklärung verwendbar . Die Modalisierung
durch vielleicht, welche die Einstellung als noch nicht definitiv bzw. den propositionalen Gehalt als hypothetisch kennzeichnet, trägt sekundär zur Abschwächung
der Illokution bei: (71, 72) und (73, 74) sind als tentative Aufforderungen deutbar,
(73) und (75) als tentative Ankündigungen . Die Illokution wird auf diese Weise
aber nicht modalisiert, sondern moduliert . Damit komme ich zur Ausgangsfragestellung nach der Polyfunktionalität der modalen Satzadverbien zurück . Modale
Satzadverbien sind nicht wie die Modalverben polyfunktional, sondern in jeder
ihrer Gebrauchsweisen epistemisch . Die epistemische Modalisierung kann aber
entweder eine Proposition oder die Einstellung zu einer Proposition betreffen . In
diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass vielleicht grundsätzlich nur mit
Sprechakten vereinbar ist, bei denen eine einseitige Anpassungsrichtung (‘Wort
auf Welt’ oder ‘Welt auf Wort’) gegeben ist, so dass eine Faktizitätsbewertung
grundsätzlich in Frage kommt . Direktive und Kommissive unterscheiden sich in
dieser Hinsicht von Assertiven und Fragen nur dadurch, dass die Faktizitätsbewertung (ob die Welt an die Worte angepasst wurde) in die Zukunft verschoben ist .
Hinsichtlich der durch vielleicht bewirkten Modulierung der Illokution in Aufforderungen ist zu bemerken, dass vielleicht in direktiver Funktion vor allem Bitten,
Empfehlungen und Vorschläge anzeigt . Diese unterliegen adressatenseitigen Ratifikationsbedingungen, d.h. der Adressat hat es in der Hand, die Bitte, die Empfehlung, den Vorschlag anzunehmen oder nicht . Mit vielleicht kann ein Sprecher
198
Veronika Ehrich
daher auch eine epistemische Unsicherheit darüber zum Ausdruck bringen, ob die
adressatenseitigen Voraussetzungen für die Ratifikation erfüllt sind.
3 .2 Modalisierung vs . Modulierung
Es ist bekannt, dass die Modalverben in Entscheidungsfragen wie (76) zur indirekten Übermittlung von Aufforderungen dienen (Ehlich / Rehbein 1972, Ehrich /
Saile 1972, Searle 1971) . Die Frage ist, warum vielleicht in Fällen wie (76) nicht
einfach doppelt gemoppelt ist, sondern die indirekte Aufforderung zu einer höflichen Bitte moduliert .
(76) „Können Sie mir vielleicht einen Termin nennen?“
Primärer Akt (Bitte, indirekt)
Sekundärer Akt (Frage, direkt)
Der Punkt scheint zu sein: Das Modalverb ist hier in zirkumstanzieller Lesart verwendet . Es nimmt Bezug auf eine der Einleitungsbedingungen für Aufforderungen, nämlich dass A in der Lage ist die fragliche Handlung zu verwirklichen . Mit vielleicht gibt ein Sprecher zu erkennen, dass er hinsichtlich
dieser adressatenseitigen Bedingung unsicher ist . Damit lässt er dem Adressaten die Option, das Vorliegen dieser Bedingung zu bestreiten und so die Bitte
zurückzuweisen .
In ähnlicher Weise lässt sich auch die Interpretation von Aufforderungen in Imperativsätzen wie (77) rekonstruieren Zwar wird in direkten Aufforderung nicht
auf die adressatenseitigen Einleitungsbedingungen Bezug genommen, doch auch
hier lässt sich die durch vielleicht bewirkte Abschwächung der Aufforderung zur
Bitte auf der Basis der epistemischen Bedeutung von vielleicht per Implikatur ableiten . Die dafür grundlegende Implikaturentheorie kann hier nicht im Einzelnen
erläutert werden . Es sei lediglich darauf verwiesen, dass vielleicht (p) in einer
Aufforderung auf den ersten Blick als flagrante Verletzung der 3. Modalitätsmaxime (‘Vermeide Weitschweifigkeit’) erscheint. Da die Befolgung des Kooperationsprinzips unterstellt wird, löst jedoch vielleicht entsprechend seiner epistemischen Bedeutung eine klausale Implikatur des Typs Möglich (p) und Möglich
(¬ p) aus, auf deren Basis die Aufforderung, einen Termin zu nennen, als zu einer
Bitte abgeschwächt gedeutet weden kann .
(77) Nennen Sie mir vielleicht einen Termin .
Rekonstruktion der Implikatur
(i) S fordert mich auf, ihm ‘vielleicht’ einen Termin zu nennen .
(ii) Der Zweck einer Aufforderung ist es, den Adressaten dazu zu bringen, definitiv p zu realisieren .
(iii) Also liegt es nicht in der Absicht von S, dass ich p nur vielleicht realisiere .
Das modale Satzadverb vielleicht…
199
(iv) Damit verstößt die Aufforderung gegen die Modalitätsmaxime (Fasse dich kurz) .
(v) Ich gehe aber davon aus, dass S das Kooperationsprinzip einhält .
(vi) Also kann ich schließen (klausale Implikatur): S will mit dem Gesagten deutlich machen,
dass er es für möglich hält, dass ich einen Termin nenne (Möglich (p)), dass er aber auch
nicht ausschließt, dass ich es nicht tue (Möglich (¬ p)).
(vii) S besteht also nicht auf p und überlässt mir die Entscheidung, ob ich p realisiere oder
nicht .
(viii) Allerdings verlangt es der Zweck unseres Gesprächs, dass wir eine Terminabsprache
treffen .
(ix) Also verstehe ich die Aufforderung als Bitte, p zu realisieren .
4. Zusammenfassung
Das epistemische Satzadverb vielleicht kommt vor in Deklarativ-, Interrogativund in Imperativsätzen . Es ist in Sprechakten verwendbar, bei denen eine einseitige Welt-/Wortausrichtung verlangt ist, also in Feststellungen und Fragen, aber
auch in Aufforderungen, Ratschlägen, Vorschlägen oder Versprechen . Nicht zulässig ist vielleicht in Sprechakten, in denen die Welt/Wort-Ausrichtung keine Rolle
spielt (Expressiva) oder bei denen durch den Sprechakt eine doppelseitige WeltWort-Ausrichtung zustande kommt (Deklarationen) . Vielleicht hat in allen seinen
Vorkommen epistemische Bedeutung, d .h . es kennzeichnet eine Proposition oder
die Einstellung zu einer Proposition als hypothetisch . Vielleicht hat also auch in
direktiven Sprechakten keine deontische Lesart; es ist weder ein Illokutionsindikator (für die Bitte), noch modalisiert es die Illokution . Die Abschwächung der
illokutionären Kraft von der Aufforderung zur Bitte ist allein der epistemische
Modalisierung der Proposition geschuldet. Diese bewirkt sekundär eine Modulierung der Illokution (Abtönung i .S .v . Weydt 1977), die man mit der Modalisierung
nicht verwechseln darf .
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Monika Schönherr
Korpusgestützte Analyse der nicht-morphologischen
Kodierungsformen der epistemischen Modalität
in Otfrids Evangelienbuch
Die lange Forschungsgeschichte der sprachlichen Kategorie der Modalität ist
durch die Vielfalt der unterschiedlichen theoretischen und methodischen Ansätze
gekennzeichnet . Auf diesem so intensiv beackerten sprachlichen Boden wuchsen
nach und nach neue Anstöße zur Konzipierung neuer Ansätze zur Deskription
dieses sprachlichen Phänomens heran . Der Modus und die Modalität entziehen
sich jedoch weitgehend einer klaren und adäquaten Beschreibung, was u . a . Harald Weinrich zur folgenden Bemerkung veranlasst hat: „Der Modusbegriff ist
unbrauchbar, ärgerlich und irreführend“ (Weinrich 1964: 277 zit . nach Fritz 2000:
91) . Allerdings sollen uns derartige Schwierigkeiten vor der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung mit diesem Phänomen nicht abschrecken . Die Bewältigung
der Modalitätsproblematik ist weitgehend möglich, und zwar auf dem Wege der
korpusgestützten Analyse .
Im Folgenden wollen wir die epistemische Modalität, die wir als sprecherbasierte Qualifizierung der Mitteilungsinhalte verstehen (vgl. Köller 1995: 39
f .), an einem historischen Korpus untersuchen . Die der Untersuchung zugrunde
liegende Korpusbasis bildet das von Otfrid von Weißenburg um 860 verfasste
Evangelienbuch .
Die durchgeführte Korpusanalyse ergab zunächst, dass neben den proto- typischen morphologischen Formen des Konjunktivs Präteritum und Konjunktivs
Präsens auch zahlreiche nicht-morphologische Mittel zur Kodierung der Modalität verwendet werden . Die Letzteren sind ausdrucksseitig sehr heterogen und stellen ein äußerst interessantes Wechselspiel bei der Kodierung der Epistemik dar .
Es sei darauf hingewiesen, dass die nicht-morphologischen Kodierungsmittel mit
den 560 vorgefundenen Belegen die höchste Frequenz im Feld der Ausdrucksmittel der epistemischen Modalität aufweisen . Die Tabelle im Anhang möge diesen
Belegbestand veranschaulichen .
Die quantitative Auswertung des Belegmaterials, die hier zum Zwecke der Objektivierung der Ergebnisse durchgeführt wurde, legt den Schluss nahe, dass die
Kodierung der Epistemik in Otfrids Evangelienbuch primär nicht-morphologisch
vor sich ging, obwohl das Feld der Formen zum Ausdruck der Epistemik morphologisch zentriert bleibt . Dies verweist darauf, dass sich weder ein systematisiertes, noch völlig grammatikalisiertes Repertoire an modalen Ausdrucksmitteln
feststellen lässt, die die Gesamtheit aller modal-semantischen Nuancen adäquat
auszudrücken vermögen . Zur Kodierung der vom Konjunktiv nicht abdeckbaren
semantischen Bereiche muss deswegen auf nicht-morphologische Sprachmittelkomplexe zurückgegriffen werden . Die funktionale Bedeutung derselben besteht
Monika Schönherr
204
vornehmlich in der Bekräftigung des Standpunktes bzw . in der Beteuerung der
Gewissheit des Sprechers über das Eintreten eines Sachverhalts . Vergleichen wir
einige nicht-morphologische Mittel zur Kodierung der Epistemik und gehen wir
anschließend auf ihre signifikanten syntaktischen und textuellen Funktionen ein:
(1)
thoh sluag er imo in wara
thana thaz zesua ora. (O. 4 17, 6)
[doch er schlug ihm in der Tat das rechte Ohr ab]
(2)
Thiu muater horta thaz tho thar;
si wessa thoh in alawar,
thaz iru thiu sin guati
nirzigi thes siu bati. (O. 2 8, 23)
[Die Mutter hörte das; sie wusste doch ganz sicher,
dass seine Güte ihr nichts verweigern würde, worum sie bitten würde]
Es fällt auf, dass die Ausdrücke in wara bzw . in alawar jeweils ein syntaktisches
Supplement, eine Hyperproposition darstellen (vgl . Wolf 2007: 279), die dem jeweiligen Restsatz frei zugeschlagen ist . Deswegen sind sie, syntaktisch gesehen,
als Angaben zu klassifizieren, d.h. das jeweilige Verb sieht sie in seinem syntaktischen Plan nicht vor . Die Funktion derartiger freier syntaktischer Aktanten
beruht bekanntlich darauf, „einen Sachverhalt zeitlich oder räumlich zu situieren oder in einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang zu stellen“ (vgl . Wolf 2007:
279) . Es leuchtet aber ein, dass die aufgeführten Angaben diese Aufgaben explizit
nicht wahrnehmen . Welche Stellung nehmen sie also im Satz ein? Sie liefern eine
bekräftigende Stellungnahme des Sprechers zu der geäußerten Proposition und
sind auf Grund dessen als Angaben mit modalisierender Funktion, oder wie Wolf
(2007) vorschlägt, als Modalitätsangaben anzusehen . Es ist wohl nicht anzunehmen, dass derartige Modalitätsangaben in den aufgeführten Belegen nur wegen
des Reimzwangs gesetzt werden, obwohl vieles mitunter dafür spricht . Otfrid hätte sich ja andererseits auch modal unmarkierter Mittel bedienen können, um den
Gleichklang zu erzielen . Er verfolgt aber ein anderes Ziel . Er will nämlich das
Sprecher-Ich in den Vordergrund treten lassen, das die Rolle eines glaubwürdigen,
auktorialen, allwissenden Erzählers übernimmt und über zuverlässige Informationen bezüglich der beschriebenen Geschehnisse verfügt . Konsequent nutzt Otfrid dafür jede „sprachliche Gelegenheit“, ganz gleich, ob das die Bildung eines
Reims bzw . einer Assonanz zur Folge hat . Die primäre Aufgabe des Erzählers bei
Otfrid beruht jedoch nicht darauf, einen Bericht zu erstatten . Das Sprecher-Ich in
Otfrids Evangelienbuch ist nicht nur eine kommunikative ‘Vermittlungsinstanz’
(vgl . Michel 2001: 110), die erzählt . Durch reichlich genutzte Beteuerungsformen
bemüht sich das Sprecher-Ich vielmehr, ein Verstehen der wichtigen Glaubensinhalte sicherzustellen, grundlegende Dogmen des Glaubens als glaubwürdig vorzulegen sowie von der Wahrhaftigkeit der Tatsachen zu überzeugen . Diese Wahrhaftigkeit „besiegelt“ er mit zwei sicheren Evidenzen: mit seinem eigenen Wissen
und Glauben . Hierzu ein paar Beispiele:
(3)
Ih weiz er thes ouh farta,
thes houbites ramta (O. 4 17, 3)
Korpusgestützte Analyse der nicht-morphologischen…
(4)
205
[Ich weiß, dass er es im Sinn hatte, dessen Haupt zu treffen]
Sar gab stal, thaz ist war,
mer zi rinnanne thar
brunno thes bluates;
so fualta sat thes guates. (O. 3 14, 27)
[Plötzlich hörte die Quelle des Blutes auf zu fließen, das ist wahr;
Genesung spürte sie sogleich.]
Bemerkenswert ist, dass die Konstruktion thaz ist war immer am Versende steht,
in 72% der Fälle immer am Ende des ersten Halbverses . Dies ist ein Beweis dafür,
dass die Formen der Hervorhebung der Inhalte in die Eindrucksstellung schon im
Ahd . zu Tage kamen .
Kehren wir aber noch kurz zu den Modalitätsangaben zurück . Die die Überzeugtheit des Sprechers akzentuierenden Modalitätsangaben kommen im untersuchten Korpus nur selten einzeln vor . Vielmehr lässt sich die Tendenz zur
doppelten modalen Markierung beobachten, was von der bereits erwähnten
Eigentümlichkeit der Feldkonstituenten zeugt, sich bei der Kodierung der epistemischen Modalität wechselseitig beeinflussen bzw. ergänzen zu können.
Von dieser Tendenz ist insbesondere die Figurensprache betroffen . Vergleichen wir:
(5)
Giwisso, ih sagen iu in alawar (O. 2 18, 5)
[Gewiß sage ich euch wahrhaftig]
(6)
Ni drinku ih rehto in wara
thes rebekunnes mera (O. 4 10, 5)
[Ich werde wahrhaftig nicht mehr den Wein trinken]
Es fällt sofort auf, dass der Sprecher sich jeweils in die Origo einer Figur hinein
begibt und sie zu Wort kommen lässt . Dies führt zu der Verschiebung der deiktischen Elemente: zum Wechsel der Personalpronomen und des Tempus . Dies hat
zur Folge, dass keine Erzählung in zeitlicher Sukzession mehr vorliegt, sondern
eine Sprechsituation kreiert wird . Der Erzähler will die Figur selbst sprechen lassen und sie durch ihren Sprachstil direkt charakterisieren .
Die sprachlichen Mittel für die Kodierung einer ausdrücklichen Kontingenz,
Mirativität bzw . distanzierenden Sprechereinstellung sind im untersuchten Korpus selten belegt . Selbst das Verbum sentiendi wânen, das so viel wie ‘ahnen’,
‘vermuten’ (nach Schützeichel 1995: 308) bedeutet, kann mitunter in Begleitung
einer bekräftigenden Modalitätsangabe seine Semantik modifizieren und eher als
‘meinen’ bzw . ‘glauben’ gelesen werden (vgl . ebenda):
(7)
giwisso wân ih nu thes,
thaz thu hiar bita ouh suaches. O. 2 14, 58
[gewiß glaube ich nun, dass du hier eine Stätte des Gebets suchst]
Monika Schönherr
206
Wir würden nicht annehmen, es handle sich hier um den Ausdruck einer Vermutung: „*Ich vermute gewiss/sicher“, sondern vielmehr einer Gewissheit: „Ich
glaube gewiss/sicher“ . Für diese Bedeutung spricht in erster Linie das ontologische Argument: Glauben schließt Gewissheit nicht aus, wohl aber das Vermuten,
das ja aus Ungewissheit resultiert .
Relativieren kann der Erzähler in erster Linie mit dem Modalverb mugan, wobei die damit kodierte Abschwächung der Geltung eines Sachverhalts hauptsächlich bei den Zeitangaben vorgenommen wird, d .h . an den Stellen, die in der Bibel
nicht näher bestimmt sind (vgl . Krause 1997: 100):
(8)
Ward after thiu irscritan sar,
so moht es sin, ein halb jar (O. 1 5, 1)
[Danach mag soeben ein halbes Jahr vergangen sein]
Derartiger Gebrauch der Modalverben ist in Otfrids Evangelienbuch selten belegt .
Die Modalverben haben im untersuchten Korpus keine ausschließlich relativierende bzw . abschwächende Funktion . Sie stehen in den meisten Fällen im Skopus
einer bekräftigenden Modalitätsangabe, etwa in war und modifizieren weitgehend
ihren funktional-semantischen Gehalt . Mit anderen Worten: Sie kodieren nicht die
kontingente Vermutung, sondern eine Optionalität:
(9)
After thiu in war min so mohtun thri daga sin (O. 2 8, 1)
[Danach mögen in der Tat drei Tage vergangen sein]
(10) Thaz mohta sin in wari thuruh sina ziari, (O. 3 22, 7)
[Das mag um seiner Zierde willen fürwahr geschehen sein,]
Im Rahmen meines Beitrags konnten nicht alle Aspekte der epistemischen Modalität in Otfrids Evangelienbuch gleichermaßen erörtert werden . Nicht aufgeschlüsselt wurden z .B . das Modalverb sculan oder die Interferenz von verbalen und morphologischen Mitteln, etwa die Kombination: Modalverb und
Konjunktiv . Ein solcher kombinierter Typ ist hier übrigens ein hochfrequentes
Ausdrucksmittel der Epistemik . Die durchgeführte Analyse hat ergeben, dass
die Kodierung der epistemischen Modalität in Otfrids Evangelienbuch mittels
der nicht-morphologischen Formen als gängiges Verfahren anzusehen ist . Diejenigen Belege, die Otfrids eigene Einstellung wiedergeben, haben vorwiegend
bekräftigende Funktion . Eine deutliche epistemische Relativierung wird in erster Linie durch das Modalverb mugan ausgedrückt . Das bisher Gesagte legt
den Schluss nahe, dass das ahd . System der zwei synthetisch gebildeten Konjunktive in Hinblick auf die Kodierung der extrem weit gefächerten Epistemik
nicht ausreichend ist . Zwar weist der Konjunktiv Präteritum – um hier nur ein
Beispiel herauszugreifen – die höchste funktionale Belastung auf, jedoch ist
er auf Grund seines inhärenten „tiefensemantische[n] Prädikats der Negation“
Korpusgestützte Analyse der nicht-morphologischen…
207
(vgl . Schrodt 2004: 131 f .) vor allem auf die Kodierung der negierten Sachverhalte beschränkt .
Es mag die Frage aufkommen: Warum spielen die modalisierenden Beteuerungsformen in diesem frühmittelalterlichen Text eine so wichtige Rolle? Wodurch lässt sich das reiche Inventar an Modalisierungsformen erklären? Die Antwort kann wegen ihrer Komplexität nur skizzenhaft dargestellt werden . Otfrids
Evangelienbuch gilt in kodikologischer Hinsicht als besonderes Werk des deutschen Schrifttums . Nicht mal deswegen, dass seine 7106 Langzeilen es zu dem
längsten Text der ahd . Schriftperiode machen . Auch nicht aus dem Grunde, dass
es sich dabei um „das umfangreichste Dichtwerk der Karolingerzeit überhaupt“
handelt (vgl . Kartschoke 2000: 154) . Wohl aber deswegen, dass dieser Text einen
Bericht über das Leben Jesu in der fränkisch-deutschen Volkssprache darstellt .
Ein ahd . Bibeltext hatte im abendländischen Mittelalter bekanntlich kaum einen
Anspruch auf selbstständiges Bestehen, mehr noch – er durfte es nicht haben,
da das Althochdeutsche nicht als lingua sacra, nicht als kirchlich verbindliche
Bibelsprache galt (vgl . Masser 1991: 99) . In Otfrids Unternehmen, die dogmata veritatis in der fränkisch-deutschen Volkssprache zu verfassen, schlägt
sich ein kühner Anspruch nieder, diese mit dem Lateinischen gleichzusetzen,
sie im Sinne der renovatio imperii aufzuwerten und die Franken als thie gotes
liuti darzustellen (vgl . Wolf 1981: 69) . Es leuchtet aber ein, dass Otfrids Ambitionen, das Fränkische als gleichberechtigte Bibelsprache gelten zu lassen,
teilweise zum Scheitern verurteilt waren, da die tiefe Kluft zwischen dem Lateinischen als der „Amts-, Kirchen- und Wissenschaftssprache“ (vgl . Manguel
1998: 87) und der sich erst herausbildenden deutschen Sprache einfach nicht zu
leugnen war . Den mittelalterlichen Bibelübersetzern, zu denen Otfrid gehörte,
blieb also nichts anderes übrig, als sich ein zuverlässiges Werkzeug zu eigen
zu machen, das das rechte Verständnis des Schriftwortes in der Volkssprache
gewährleisten kann, dem Autor sowie seiner Übersetzung Authentizität verleiht
und ihm das Vertrauen seiner Zuhörer verschafft . Außer den Lateinkenntnissen
und dem theologischen Wissen war es das sprachliche Gestaltungsvermögen
(vgl . Kirchert 1987/1988: 13), das in Otfrids Evangelienbuch größtenteils, wie
wir es gesehen haben, durch die Modalisierungsmittel zu Stande kam . Das alles
will sagen, dass die Kodierungsformen der epistemischen Modalität in Otfrids
Evangelienbuch die Mittel der biblischen Exegese und Interpretation darstellen
und das autonome Bestehen dieses in frenkisga zungun verfassten Textes unterstützen und rechtfertigen .
Literatur
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Korpusgestützte Analyse der nicht-morphologischen…
Anhang
types
tokens
(1) nonverbale Mittel
(in) alawar
in alawari
zi alaware
in alawara
giwisso
giwis
in giwis
(in) giwissi
giwaro
in war/in war min
in wara
zi/in ware
zi/in/mit waru
ana wan
in wan
in wani
ana zwival/theheinig zwival
ana wanc
ana wang
ana wank
ana wanka
ana baga
wânen
mugan
sculan
42
17
3
2
92
8
1
17
29
88
72
33
30
13
3
2
7
3
1
16
1
5
(2) verbale Mittel
13
42
20
209
Irina A. Šipova
Epistemische Modalität im Deutschen und Russischen
in kontrastiver Sicht
Die Notwendigkeit der Sprachbehandlung aus kontrastiver Sicht bedarf gegenwärtig keiner speziellen Begründung . Es geht dabei um den Vergleich von Teilsystemen, Kategorien und Elementen . Zunehmend setzt sich die Meinung durch,
dass auch Texte in verschiedenen Sprachen verglichen werden sollten, was eine
echte Herausforderung für den Sprachforscher darstellen würde (vgl . Bilut-Homplewicz 2008: 81) . Aktiv betrieben werden monothematische Untersuchungen,
was erlaubt, Sprachsysteme und Sprachgebrauch kontrastiv zu behandeln und auf
konkrete linguistische Fragen zu antworten .
Nach den Worten von Baudouin de Courtenay (1963: 371) über typologische Forschungen kann man Sprachen absolut unabhängig von ihrer Verwandtschaft und ohne historischen Zusammenhang zwischen ihnen vergleichen . Man
findet aber ständig vergleichbare historische Prozesse und Umwandlungen in
den Sprachen, die einander sowohl geschichtlich als auch geografisch fremd
sind . Dabei wird man unumgänglich mit Fragen nach den Ursachen der Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Sprachbau und im Evolutionsprozess
konfrontiert .
Viele Sprachwissenschaftler, die sich mit kontrastiver Linguistik beschäftigt
haben, zählen zu ihren Zielen Folgendes:
• Gleichheiten im Sprachbau von verschiedenen Sprachen festzustellen;
• Ihre Eigenarten und Gesetzmäßigkeiten zu bestimmen
• Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen zu offenbaren
(vgl . Anochina/Kostrova 2006: 10) .
Der kontrastive Vergleich des Deutschen und Russischen hat eine langjährige Tradition . Trotz deutlicher Unterschiede lassen sich in beiden Sprachen Gemeinsamkeiten erkennen: Deutsch und Russisch besitzen gewisse Züge der strukturellen
Ähnlichkeit, die sowohl in der formal-grammatischen als auch in der lexischsemantischen Sphäre in Erscheinung treten . Das realisiert sich in Analogien in
der Wortartenklassifikation, in der Polarität der syntaktischen substantivischen
und Verbalgruppen, im parataktischen und hypotaktischen Satzbau . Im Bereich
des lexikalischen Bestandes findet man Ähnlichkeit in der Wortbildung sowie im
vorherrschend flexiblen Charakter des Sprachbaus. Die beiden Sprachen gehören
zu den synthetischen Sprachen und weisen deutliche analytische Tendenzen auf .
Deutsch ist dabei wesentlich analytischer als Russisch, obwohl Russisch auch
deutlich zum Analytismus neigt .
Durch die systematische Gegenüberstellung von beiden Sprachen ergibt sich
eine Reihe von Oppositionen, die die Unterschiede zwischen Deutsch und Russisch anschaulich darstellen:
212
Irina A. Šipova
• im Deutschen sieht man eine starke Neigung zur fixierten Wortfolge, während
sie im Russischen relativ frei ist;
• das Deutsche besitzt ein System der grammatikalisierten Ausdrucksmittel der
zeitlichen Relation, welches im Russischen fehlt;
• das Deutsche gehört zu den so genannten „Nicht-Aspektsprachen“, wogegen
das Russische als eine klassische Aspektsprache gilt, d .h . grammatikalisierte
Ausdrucksmittel des Aspekts besitzt;
• im Deutschen sind morphologische Mittel zum Ausdruck der Bestimmtheit/
Unbestimmtheit (Artikel) vorhanden, die das Russische nicht hat;
• grammatischer Homonymie von Adjektiven und Adverbien im Deutschen steht
deren deutliche Unterscheidung im Russischen gegenüber;
• syntaktische Gruppen im Deutschen sind relativ fest in ihrer Anordnung im
Satz, im Russischen hingegen ist diese Anordnung relativ flexibel (vgl. Anochina/Kostrova 2006: 194) .
Einer der wichtigsten Aspekte der Linguistik, der das Interesse der Sprachwissenschaftler im Laufe von vielen Jahren immer wieder hervorruft, ist die Modalität,
die Fähigkeit mit verschiedenen sprachlichen Mitteln das Verhältnis des Sprechers
zur Handlung oder zu seiner Aussage auszudrücken . Es wird behauptet, dass die
Modalität eine universale Kategorie und mindestens allen europäischen Sprachen
eigen ist . So sind Deutsch und Russisch keine Ausnahmen .
Von den Arten der Modalität, die in der modernen Modallogik differenziert
werden, wird hier auf die epistemische Lesart eingegangen, die eine Beschreibungsperspektive darstellt, in welcher sich der Sprecher/Schreiber zu dem in der
Äußerung bezeichneten Vorgang verhält . Sie beinhaltet den Ausdruck der Vermutung, der Einschränkung des Inhalts der Aussage, der Befriedigung, des Bedauerns, des vorsichtigen bis starken Zweifels, der Distanzierung des Sprechers von
der Aussage, der Einräumung u . a . (vgl . Buscha/Heinrich/Zoch 1989: 14) .
Die epistemische Modalität wird in den beiden Sprachen jedoch oft mit unterschiedlichen formalen Mitteln realisiert .
Im Deutschen dienen zur Bezeichnung verschiedener Grade der epistemischen
Modalität Modaladjektive und Modaladverbiale (vgl . Vater 2004: 10) . Außerdem
bilden Modalverben eine Unterklasse von Verben, die sowohl deontische als auch
epistemische Modalität bezeichnen, weil sie nach Reis (2001) die einzige „polyfunktionale“ Gruppe modaler Ausdrucksmittel sind .
Da die modale Komponente ein universelles Merkmal der gesamten Zukunftssphäre ist (vgl . Kotin 1995: 15), wird das Verb werden in Verbindung mit dem
Infinitiv I und II manchmal als ein epistemisches Modalverb betrachtet. Es drückt
eine mehr oder weniger sichere Annahme des Sprechers über gegenwärtige, zukünftige oder auch vergangene Ereignisse aus (vgl . z .B . Vater 2007: 68) .
Im Russischen sind in erster Linie Modalwörter wie Adverbien, Interjektionen, Schaltwörter und Modalpartikeln Träger der epistemischen Lesart, ebenso
besondere Wortfolgen, Wortwiederholungen und Phraseologismen . Wie im zweiten Band der „Russischen Grammatik“ zu lesen ist, sind Kombinationen all dieser
Epistemische Modalität im Deutschen und Russischen…
213
Mittel möglich (Russkaja grammatika 1980: 215) . Der Begriff „Modalwort“ geht auf
die russische Tradition der Wortartenlehre zurück (Gulyga/Natanson 1957, Admoni
1986 u . a .) . Im Deutschen bezeichnet man sie als Modaladverbien/Modaladverbiale
(vgl . Vater 2004: 13) . Modalwörter fungieren im Satz nicht wie Adverbien, also wie
Satzglieder, sondern sie sind Schaltwörter (Parenthetika), die sich auf den ganzen Satz
beziehen und ihn hinsichtlich der Modalität prägen (vgl . Moskalskaja 1971: 51) .
Die einfachsten Entsprechungen im Falle der epistemischen Lesart Deutsch –
Russisch sind Modalwörter aller Art, für die in der jeweiligen Sprache meistens
ein Äquivalent zu finden ist. Die typologische Ähnlichkeit zwischen Deutsch und
Russisch ergibt sich in fast völliger Entsprechung in der Bedeutung und Funktion
von vielleicht – возможно, vermutlich – предположительно, begreiflicherweise
– разумеется; bestimmt – определенно; gewiss – непременно u . a .
Dafür sollen zwei Beispiele aus dem Roman von P . Süskind “Das Parfum” mit
der Übersetzung von E . Vengerov herhalten:
(1)
(2)
(3)
(4)
Wahrscheinlich hätte er nirgendwo anders überleben können. –
Вероятно, нигде больше он бы не выжил.
Es ist zwar nicht recht, was ich tue, aber Gott wird ein Auge zudrücken, bestimmt wird Er
es tun! –
Вообще-то я поступаю дурно, но Господь посмотрит на это сквозь пальцы,
конечно, Он так и сделает! (Süskind)
Dass im russischen Text die Modalwörter sogar abgesondert werden, ist ein Beleg
dafür, dass Modalität nicht Bestandteil desjenigen Sachverhaltes ist, der in einem
Satz beschrieben wird, sondern etwas zusätzlich zu diesem Sachverhalt Ausgedrücktes (vgl . Vater 1975: 104) .
Gewisse Schwierigkeiten entstehen, wenn man im Russischen nach den Äquivalenten der Modalverben mit Infinitiv I und II zum Ausdruck der epistemischen
Modalität sucht . Dies hängt damit zusammen, dass die Modalverben im Russischen in der epistemischen Lesart relativ selten vorkommen:
(5)
(6)
(7)
(8)
Он сейчас должен прийти. –
Jetzt kommt er bestimmt/muss er gleich kommen.
Это мог сделать только хороший мастер. –
Das kann nur ein guter Meister gemacht haben.
Im Deutschen besitzen die Modalverben die Fähigkeit, Deontik/Grundmodalität
zu bezeichnen und Epistemiklesarten zu führen, was im Russischen nicht der Fall
ist. Außerdem ist der Infinitiv II als morphologische Form im Russischen nicht
vorhanden, deswegen kann nur ein semantisches Äquivalent den Sinn eines Satzes
mit deutschen Modalverbfügungen im Russischen wiedergeben . Dies erschwert
einem Nicht-Muttersprachler den Prozess der Aufschlüsselung der Semantik solcher sprachlichen Ausdrücke sogar im Kontext .
214
Irina A. Šipova
Bei den Verben müssen, dürfen (im Konjunktiv Präteritum), mögen, können,
werden mit Infinitiv I oder II geht es um die Bezeichnung von einem Wahrscheinlichkeitsgrad in Bezug auf das Eintreten einer Situation, wobei nach Vater (2004:
13) müssen einen hohen, werden und dürfen einen mittleren, mögen und können
einen schwächeren Wahrscheinlichkeitsgrad ausdrücken .
Um möglichst genau diese Bedeutungsnuancen im Russischen wiederzugeben,
sollte man die Kenntnisse über die zu beschreibenden Situationen einbeziehen
und nach Entsprechungen suchen, die die russische Sprache zum Ausdruck der
epistemischen Modalität bietet . Dabei ist jedoch zu erwähnen, dass die mögliche
semantische Entsprechung bzw . eine korrekte Übersetzung in erster Linie durch
die subjektive Wahrnehmung des deutschen Textes unter Berücksichtigung der
Situation und des Gesamtkontextes bedingt ist .
Um das zu illustrieren, wird hier eine Reihe von Beispielen aus bekannten
Werken der deutschen schönen Literatur angeboten, die mit den allgemein bekannten literarischen Übersetzungen versehen sind und die zum Teil die epistemische Lesart mancher Sätze ignorieren, zum Teil jedoch eine fast ideale
Entsprechung dafür enthalten .
Zuerst einige Beispiele aus dem Roman von F . Kafka „Der Prozess“ in der
Übersetzung von Rita Reit-Kovalëva:
(9)
(10)
(11)
(12)
(13)
(14)
(15)
(16)
Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte,
wurde er eines Morgens verhaftet. –
Кто-то, по-видимому, оклеветал Йозефа К., потому что, не сделав ничего дурного,
он попал под арест.
… nein, sie dürfte aber in der Küche sein und dem Advokaten eine Suppe kochen. –
Да нет же, она, наверное, на кухне, варит суп для адвоката.
Sie werden bemerkt haben, dass ich zwar eine große Kanzlei habe, aber keine Hilfskräfte
beschäftige. –
Вы, наверно, заметили, что при весьма обширной канцелярии у меня нет никаких
помощников.
Ich mag im Allgemeinen nicht verlockend sein, für ihn bin ich es aber. –
Может быть, для других я ничуть не привлекательна, а для него – очень.
Die folgenden Beispiele sind dem Roman von Th. Fontane „Effi Briest“ sowie
seiner Übersetzung von Ju. Svetlanov und G. Jegerman entnommen:
(17) Da wird wohl schon mehr drin stehen; die wissen immer alles. –
(18) Уж там, наверное, напишут побольше, они там знают все.
(19) Das kann doch nur so zusammenhängen, dass sie noch nicht recht weiß, was sie an ihm
hat. –
(20) Это объяснимо разве тем, что она еще до конца не осознает, что он собой
представляет.
Epistemische Modalität im Deutschen und Russischen…
215
Die Strukturen Modalverb + Infinitiv I oder II zum Ausdruck der epistemischen
Modalität sind also durch solche Mittel wie Modaladverbien по-видимому,
наверное, разве ins Russische übersetzbar . Es ist auch der Modalausdruck может быть möglich .
In den Beispielen 10, 12, 14, 16, 18, 20 entspricht der russische Text semantisch
dem deutschen (Beispielsätze 9, 11, 13, 15, 17, 19) . Doch verschwindet dabei die
im Deutschen vorhandene Note des persönlichen Engagements des Sprechers,
weil von ihm nicht nur die Äußerung formuliert, sondern auch die Verantwortung
für die Annahme übernommen wird (vgl . Fritz 2000) .
Es lässt sich feststellen, dass epistemische Adverbien nur die Einschätzung des
Wahrheitsgehaltes durch den Sprecher signalisieren, wobei die deutschen epistemischen Modalverben nicht nur den beurteilenden Sprecher, sondern zusätzlich
die Quelle seines Urteils lokalisieren .
Obwohl die deutschen Beispielsätze mit Modalverbfügungen nicht so zahlreich
sind, fällt auf, dass verschiedene Ausdrücke ins Russische oft mittels derselben lexikalischen Morpheme übersetzt werden . Man könnte daraus folgern, dass die Bedeutungsnuancen der epistemischen Lesart manchmal so fein sind, dass sie in einer
Fremdsprache schwer differenzierbar erscheinen. Außerdem sind Beispiele zu finden,
wo die epistemische Lesart ignoriert wird . Das könnte bedeuten, dass eine epistemische Erweiterung des Sachverhaltes in bestimmten Kontexten nach der Meinung der
Übersetzer nicht relevant ist . In dem folgenden Beispiel scheint das der Fall zu sein:
(21) Das Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aber niemals dem Bilde auch nur ähnlich
gewesen sein, denn er ist fast winzig klein. –
(22) Эту картину с него писали в молодости, но он и тогда был ничуть не похож, ведь
он совсем крошечного роста. (Kafka)
Es gibt aber Varianten, wo die Übersetzung eher nicht überzeugt, was im Weiteren
belegt wird .
Die epistemische Lesart der Modalverben im Deutschen kann obendrein durch
den Konjunktiv Präteritum überlagert werden . Das bedeutet, dass die Modalverben in Übereinstimmung mit ihrer Grundbedeutung verstärkend oder abweichend wirken können . Im Russischen ist diese Bedeutungsschattierung manchmal
schwer wiederzugeben:
(23) Das könnte sehr wohl möglich sein! –
(24) Это весьма и весьма возможно! (Süskind)
Der Beispielsatz (23) enthält das Modalverb können im Konjunktiv, was seine
epistemische Bedeutung des schwächeren Wahrscheinlichkeitsgrads im Kontext
verstärkt . Der russische Satz (24) ignoriert die Epistemizität des Verbs und enthält
nur die Wiederholung des Modalworts весьма, das die Aufgabe des epistemischen modalen Ausdrucks erfüllt .
216
Irina A. Šipova
In semantischer Sicht zerfallen die deutschen epistemisch verwendeten Modalverben in solche mit Vermutungsbedeutung und solche mit Bedeutung einer
Fremdbehauptung (Evidentialität) . Die letztere Funktion können die beiden Modalverben wollen und sollen erfüllen . Die evidentielle Lesart wird in diesem Fall
teilweise durch die epistemische überdeckt . Es handelt sich um eine vom Sprecher
gewöhnlich distanziert gesehene Rede einer fremden Person . Bei sollen ist es die
Rede einer im aktualen Satz nicht genannten Personengruppe über das syntaktische Subjekt (vgl . Buscha/Heinrich/Zoch 1989: 22, 23) .
Bei der Übersetzung eines Satzes mit sollen ins Russische bedient man sich
Verben, die die Wiedergabe einer fremden Aussage einführen wie утверждают,
говорят, wobei diese Schaltwörter bzw . Schaltsätze im Russischen die modale
Bedeutung eines vorsichtigen Zweifels haben:
(25)
(26)
(27)
(28)
„Solche Freisprüche,“ antwortete der Maler, „soll es allerdings gegeben haben“–
Говорят, что такие случаи оправдания бывали – сказал художник. (Kafka)
Es soll ein sehr schönes Mädchen sein. –
Говорят, она очень красивая девочка. (Fontane)
Bei wollen ist es die Rede des syntaktischen Subjekts über sich selbst (die Form
der 1 . Person Sg ./Pl . ist nicht möglich) . Die modale Intention des Verbs wollen ist
eine gewisse kritische Konnotation von der Seite des Informators . Im Russischen
wird sie mit Hilfe der Modalpartikeln якобы, вроде бы wiedergegeben, die die
Distanzierung von der Aussage des Subjekts des Satzes ausdrücken .
(29) Manche behaupteten, um vier Uhr noch zu Hause oder anderswo beschäftigt gewesen zu
sein, und keiner wollte etwas bemerkt haben. (30) Некоторые утверждали, что в четыре часа были заняты дома или где-то ещё,
и будто бы никто ничего не видел. (Droste–Hülshoff, Übersetzung I . Šipova)
Beispiele (29) und (30) zeigen, dass der Sprecher im deutschen und im russischen
Satz der fremden Behauptung mit deutlicher Skepsis gegenübersteht .
Unter den anderen verbalen Ausdrücken für die epistemische Lesart sind in
erster Linie noch die Modalitätsverben scheinen und glauben zu erwähnen . Wenn
die anderen Modalitätsverben eine deontische Lesart erlauben, sind diese beiden
primär für die epistemische bestimmt . Die unterschiedliche Betrachtungsperspektive lässt einen Nicht-Muttersprachler nach möglichen Äquivalenten suchen, weil
das intensionale Verb scheinen die äußere Modalität – die Vermutung des Sprechers – bezeichnet und glauben die innere Modalität, also die Vermutung des
Subjekts (vgl . Schendels 1979: 98) . Im Russischen ist dieser Unterschied daran
zu merken, dass man sich bei der Übersetzung des Verbs scheinen der Einfügung
казалось/кажется bedient, und bei glauben erscheint ein unpersönlicher Satz
mit dem Verb по/казаться in der 3 . Pers . Sg ./Pl ., das mit dem Dativ der Person
verbunden ist, welche die entsprechende Handlung vollzieht .
Epistemische Modalität im Deutschen und Russischen…
217
(31) Die junge Frau schien sofort einen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. –
(32) Казалось, молодая женщина сразу произвела на него большое впечатление.
(Fontane)
(33) Er glaubte auf einem Schiff zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. –
(34) Ему казалось, что он на корабле в сильнейшую качку. (Kafka)
(35) K. glaubte in eine Versammlung einzutreten. –
(36) К. сначала показалось, что он попал на собрание. (Kafka)
Das Ignorieren von epistemischer Bedeutung, die diese Verben einer Äußerung
verleihen, kann man manchmal auch in einer russischen Übersetzung beobachten,
was aber im folgenden Beispiel nicht gerechtfertigt zu sein scheint .
(37) Innstetten, unbefangen und heiter, schien sich seines häuslichen Glücks zu freuen und
beschäftigte sich viel mit dem Kinde. –
(38) Инштеттен, довольный и веселый, радовался своему домашнему счастью и очень
много занимался ребенком. (Fontane)
Eine wichtige Rolle beim Ausdruck der epistemischen Modalität spielen in beiden Sprachen Modalpartikeln. Nach Liefländer-Koistinen (2004: 550) sind sie
unflektierbare Wörter, die die Einstellung des Sprechers hinsichtlich der vom Hörer erwarteten situationsbezogenen Haltung, dessen Vorwissen und Reaktionen
signalisieren . Sie sind nicht Satzglieder, dienen aber pauschal zum Ausdruck besonderer zusätzlicher Bedeutungen einiger Satzglieder (vgl . Moskalskaja 1971:
49) . Wie Engel (2006: 205) behauptet, gehören die Modalpartikeln in erster Linie
der gesprochenen Sprache an, was sowohl für Deutsch als auch für Russisch gilt .
Auch sie drücken das Verhältnis des Sprechers zum Gesagten aus .
Zu betonen ist, dass ein eindeutiges Zusammenfallen der lexikalischen Bedeutungen von Modalpartikeln in beiden Sprachen kaum möglich ist, zum Teil weil
es für die meisten der Partikeln mehrere Verwendungsmöglichkeiten gibt (vgl .
Engel 2006: 205) . Wenn man dieselbe deutsche Partikel im gleichen Satz, aber in
verschiedenen Kontexten ins Russische übersetzt, so bekommt man in jedem Fall
eine neue Variante der Übersetzung .
Als Beispiel wird der Satz
(39) ‘Was machst du denn da?’
in verschiedenen Situationen angeboten . Wenn man z .B . gestört wird, so würde
dieser Satz voll Empörung auf Russisch klingen:
(40) Ты-то что тут делаешь?
Wenn man aber einem Bekannten begegnet, wo man es nicht erwartet, würde der
Satz heißen:
218
Irina A. Šipova
(41) А ты что тут делаешь?
Wenn man über eine neue Arbeitsstelle mit Interesse fragt, so lautet der Satz:
(42) И что же ты тут дeлаешь?
Es ist einsichtig, dass für die richtige Interpretation des Satzes der pragmatische
Aspekt entscheidend ist, also, welche illokutive Situation die Verwendung der
einzelnen Partikel voraussetzt . Das Gleiche gilt auch für die deutsche Sprache,
was man an einem russischen Beispiel beobachten kann .
Der Satz (43) kann unterschiedlich interpretiert und übersetzt werden:
(43) Съешь еще кусочек торта, ведь он такой вкусный!
(44) Iss noch ein Stückchen Torte, sie schmeckt doch so gut!
Die Modalpartikel doch prognostiziert eine negative Antwort, und die Variante:
(45) Iss noch ein Stückchen Torte, sie schmeckt ja so gut!
sieht eine positive Reaktion vor . In beiden Fällen ist die Situation (der Kontext)
der Schlüssel zur Lösung der Frage, welchen Partikeln welche Äquivalente in der
anderen Sprache entsprechen . Die Partikeln können unter anderem kombiniert
werden, wodurch ihre genaue Definition erschwert wird. So könnte man vorschlagen, die Sentenz von F . Kafka ins Russische übersetzen zu lassen:
(46) „Aber denn doch wohl nicht gar so sehr...“
Oder ein Zitat aus V . Šukšin:
(47) Тот невесело как-то, но и не так чтобы уж совсем печально усмехнулся. (Шукшин)
–
(48) Derjenige lächelte ja nicht irgendwie lustig, aber auch doch nicht so ganz traurig.
(Übersetzung I . Šipova)
Wie schon erwähnt, ist die Kombination von verschiedenen Ausdrucksmitteln der
epistemischen Lesart möglich .
(49) Denn von „Fährlichkeiten“ – … – wird sich in diesem Falle wohl sprechen lassen. –
(50) … об «опасностях», – … – можно в данном случае много говорить. (Fontane)
(51) Mit diesem Worte wird er wohl recht haben, aber er sollte es lieber nicht gebrauchen, …
–
(52) В этом он совершенно прав, но лучше бы ему не говорить так, … (Fontane)
Epistemische Modalität im Deutschen und Russischen…
219
Beispielsätze (49), (51) zeigen, dass werden in seiner epistemischen Lesart mit
anderen Ausdrucksmitteln der epistemischen Modalität kombiniert wird, was seine temporale Bedeutung völlig aufheben kann . – Die russische Übersetzung (50),
(52) scheint das zu bestätigen .
Durch den komplexen Gebrauch von Ausdrucksmitteln der epistemischen Lesart kann eine höhere Stufe der Emotivität produziert werden . Dafür ein Beispiel:
(53) Er war‘s, unzweifelhaft! Und doch – er war es auch nicht, er konnte es nicht sein, er
konnte kein Mörder sein.
(54) Это был он, несомненно он! И все-таки не он, не мог он им быть, не мог он быть
убийцей. (Süskind)
Modalwort, Modalpartikel, epistemisches Modalverb sowie seine Wiederholung
im Beispiel (54) schaffen eine affektive, deutlich emotional gefärbte Aussage .
Dazu trägt auch die emphatische Intonation des ersten Satzes bei, was die Worte
von Vinogradov bestätigt, dass auch die Intonation ein wichtiges Ausdrucksmittel
ist, das Verhältnis zur Aussage wiederzugeben (vgl . Vinogradov 1972: 17) . Dies
gilt für beide Sprachen, ist aber ein spezifisches Forschungsgebiet mit eigenen
Methoden und Belegen und kann hier nicht abgehandelt werden .
Zusammenfassung
Der Vergleich der Ausdrucksmittel der epistemischen Modalität im Deutschen
und im Russischen erlaubt folgende Schlussfolgerungen:
1 . Der Begriff der Modalität wird in beiden Sprachen grundsätzlich gleich
definiert.
2 . In den meisten Fällen haben die grammatisch-lexikalischen Strukturen zum
Ausdruck der epistemischen modalen Bedeutung ihre Äquivalente in der anderen Sprache, obwohl einige Nuancen doch verloren gehen können .
3 . Das deutsche Sprachsystem verfügt über mehr grammatische Ausdrucksmittel
der Modalität als das russische; z .B . ist das System der Modal- und Modalitätsverben im Deutschen vielfältiger als im Russischen . Dadurch ist es möglich, die feinsten modalen Schattierungen auszudrücken .
4 . Im Russischen ist der Anteil der lexikalischen Ausdrucksmittel der Modalität
höher als der der grammatischen .
Abschließend lässt sich sagen, dass jede kontrastive Untersuchung auf diesem
Gebiet insbesondere unter didaktischem Aspekt wichtig und daher von großem
praktischem Wert ist .
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Anna V. Averina
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen
im Vergleich zum Russischen und Besonderheiten ihres
Funktionierens in der Rede
Mein Beitrag ist der Analyse der Semantik der epistemischen Modalität auf der
Satzebene im Deutschen im Vergleich zum Russischen gewidmet . Das Ziel der
vorliegenden Arbeit besteht darin, zu zeigen, dass einem bestimmten strukturellen
Satzmodell das semantische Modell und ein konkreter Situationstyp entspricht .
Demnach werden in dem Beitrag die Aufgaben gestellt:
1 . die Mittel zum Ausdruck der Vermutung im Deutschen und im Russischen in
Satzmodellen zu behandeln;
2 . die semantischen Besonderheiten der strukturellen Satzmodelle und
3 . ihre Rolle in der Textgestaltung zu zeigen .
Die Behandlung der genannten Probleme gibt die Möglichkeit, die syntaktischen Besonderheiten der Sätze mit der Semantik der Vermutung im Deutschen
und im Russischen zu vergleichen, die Auswahl der funktionalen Synonyme zu
erklären und ihr stilistisches Potenzial aufzudecken . Außerdem kann das helfen,
bei der Übersetzung Äquivalente nicht auf der Satzebene, sondern auf der Textebene zu finden.
Die Semantik der Vermutung wird im Rahmen der epistemischen Modalität
behandelt . Ich stimme mit Vater (1975: 104) überein, wenn er schreibt: „Modalität ist nicht Bestandteil des in einem Satz beschriebenen Sachverhalts, sondern etwas, was zusätzlich zu diesem Sachverhalt ausgedrückt wird“ . Unter der
Vermutung verstehe ich die Einschätzung der Gewissheit des Sachverhalts durch
den Sprecher . In der Sprachwissenschaft wird die epistemische Modalität verschieden untergliedert . So unterscheiden die Autoren der „Grammatik in Feldern“
drei Wahrscheinlichkeitsgrade: Sicherheit, Unsicherheit und Zweifel (vgl . Buscha
u . a . 2006) . Anders wird die epistemische Modalität von Fritz (2000a) skaliert . Er
spricht von den modal merkmallosen und merkmalhaften Sätzen:
„Tatsächlich führt der einfache Aussagesatz aber zur uneingeschränkten epistemischen Geltung der Äußerung . Ein modal-epistemischer Wert kommt aus dieser Perspektive allen geäußerten Sätzen zu, da jede Äußerung eine hörerseitige Einschätzung des Sprecherglaubens
erwartet .“ (Fritz 2000a: 85)
Strukturelle Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen
Die Frage nach der Rolle der epistemischen Elemente in einem Satz wird in der
Sprachwissenschaft aktiv diskutiert . Thomas A . Fritz stellt Folgendes fest:
224
Anna V. Averina
„Für alle modalen Elemente gilt grundsätzlich, dass sie andere Zeichen modifizieren: sie wirken in
der Regel als Zeichen über propositionale Zeichen und können deshalb als Meta-Zeichen betrachtet werden . . . Der Basis-Proposition sind sie stets hierarchisch übergeordnet .“ (Fritz 2000b: 91)
John Lyons spricht von „a factive predicator“ in Sätzen der Art It is amazing that they survived, wo das Wort amazing als „predicator“ auftritt (vgl . Lyons
1977: 795) .
Von den überordnenden Prädikaten schreibt auch Valentin Bogdanov . Zu den
Prädikaten solcher Art zählt er Phasen-, Modal- und Kausativverben (vgl . Bogdanov 1977) . Die modalen Prädikate sind von der Proposition abhängig und können
nicht einen selbständig Satz bilden .
Auf jeden Fall nehmen die Sätze mit epistemischen Elementen einen besonderen Platz in der Aussage ein . So ist der Satz
„Peter glaubt, dass Melbourne in Australien liegt genau dann wahr, wenn es tatsächlich so
ist, dass Peter das glaubt, ganz unabhängig davon, ob das, was er glaubt, wahr oder falsch
ist .“ (Tugendhat/Wolf 1983: 122, zitiert nach Fritz 2000b: 89)
Den Modusbegriff kritisiert Weinrich (1964) folgendermaßen:
„Der Modusbegriff ist unbrauchbar, ärgerlich und irreführend, weil er mitten durch alle
Sprachstrukturen schneidet .“ (ebd . 277, zitiert nach Fritz 2000b: 91)
Ich meine, dass man je nach der Art des Ausdrucks der epistemischen Bedeutung
bestimmte Situationstypen absondern kann . Um sie zu charakterisieren, gehe ich
auf die Struktur des Satzes ein . Nach der Meinung von Vladimir Gak kann sie auf
folgenden drei Ebenen betrachtet werden:
– auf der logisch-semantischen (auf dieser Ebene unterscheidet man das semantische Subjekt und Prädikat);
– auf der logisch-kommunikativen (man spricht in dieser Hinsicht von der Thema-Rhema Gliederung);
– auf der strukturell-syntaktischen (man unterscheidet das grammatische Subjekt
und Prädikat) (vgl . Gak 1998: 125) .
Die Aussage mit der Semantik der Vermutung besteht aus zwei Teilen: aus dem
propositionalen Teil (Sachverhalt selbst) und der epistemischen Darstellung des
Sachverhalts, d .h . aus der Einstellung des Sprechers zum Tatbestand . Vom logisch-semantischen Standpunkt aus hat jeder Teil sein semantisches Subjekt und
Prädikat (Ich bezeichne sie als propositionales Subjekt und propositionales Prädikat . Sie bilden ein Ganzes und treten als Objekt des epistemischen Prädikats
auf) sowie epistemisches Subjekt und epistemisches Prädikat . Dabei werden das
epistemische Subjekt und das epistemische Prädikat nicht immer als grammatisches Subjekt / Prädikat ausgedrückt – der epistemische Teil der Aussage kann
eliminiert werden:
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen…
225
z .B .: Ich glaube, er ist krank — semantische Subjekte und Prädikate stimmen
mit den grammatischen überein .
Er muss krank gewesen sein — das epistemische Subjekt wird nicht genannt,
aber wir wissen, dass die Meinung des Sprechers ausgedrückt wird . Das semantische Subjekt stimmt mit dem grammatischen überein . Die Vermutung gilt dem
Sachverhalt in der Vergangenheit und wird von dem Sprecher im gegenwärtigen
Geschehen geäußert .
Wahrscheinlich war er krank – das epistemische Subjekt wird nicht genannt .
Vom logisch-semantischen Standpunkt aus erfüllt das Modalwort wahrscheinlich
die Rolle des epistemischen Prädikats . Wir wissen auch nicht, in welchem Verhältnis zum Redemoment der Sachverhalt steht, weil das grammatische Prädikat
auf der strukturell-syntaktischen Ebene des Satzes, das auf das Zeitverhältnis hinweist, fehlt . Man kann entweder von der ontologischen Möglichkeit (Potentialität) oder der Epistemizität sprechen:
(1)
(2)
„Wer weiß das?“ sage ich vorsichtig, um sie nicht weiter zu erregen . „Vielleicht hat der
Tod einen ganz falschen Namen . Wir sehen ihn immer nur von einer Seite . Vielleicht
ist er die vollkommene Liebe zwischen Gott und uns“ . (E .M . Remarque . Der schwarze
Obelisk)
Wahrscheinlich haben wir alle etwas Angst vor großen Worten . Es ist so entsetzlich viel
damit gelogen worden . Vielleicht haben wir auch Angst vor unsern Gefühlen . (E .M . Remarque . Der schwarze Obelisk)
Im Auszug (1) geht es um die Beschaffenheit des Todes; in (2) äußert der Sprecher
seine Überlegungen über den inneren Zustand seiner Umgebung . In den angeführten Aussagen handelt es sich um die Eigenschaften der Objekte ohne Zeitbezug .
(3)
(4)
Vielleicht ist es auch die elektrische Zündung . Schauen Sie doch mal unsern Motor nach .
(E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
Er schwieg . Er dachte wahrscheinlich an letzte Worte, an eine letzte Liebesbeteuerung,
an etwas, was er hätte mitnehmen können in seine Einsamkeit . (E .M . Remarque . Die
Nacht von Lissabon)
In Beleg (3) geht es um die Vermutung, die den Sachverhalt in einem bestimmten
Zeitraum angeht . Der Sprecher macht seine Schlussfolgerung über die Ursache
der Störung . Im Auszug (4) ist die Rede von dem möglichen Gedankengang einer
der Figuren des Romans; die Vermutung hat einen bestimmten Zeitbezug .
Die Besonderheit des epistemischen Teils der Aussage besteht auch darin, dass
er inhaltlich und grammatisch immer von dem propositionalen Teil abhängig ist
– die Vermutung existiert nicht an und für sich und hat ohne propositionalen Teil
keinen Sinn .
Nach der Ausdrucksform des epistemischen Teils der Aussage habe ich 5 Satzmodelle aufgestellt .
Anna V. Averina
226
Modell 1: S(e) + P(e) + S(p) + P(p)
Sätze mit einem explizit ausgedrückten epistemischen Subjekt und Prädikat .
S(e) ist epistemisches Subjekt, P(e) – epistemisches Prädikat, S(p) – propositionales Subjekt und P(p) – propositionales Prädikat .
Diesem Modell entsprechen:
•
(5)
•
(6)
Satzgefüge mit einem Objektsatz:
„Möchtest du in sie zurück?“ fragte sie . „Ich glaube nicht, dass ich es könnte . Mein Vaterland hat mich wider meinen Willen zum Weltbürger gemacht . Nun muss ich es bleiben .
Zurück kann man nie .“ (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
Satzreihe:
Ich werde, so glaube ich, Mönch werden, Priester werden, Subprior und vielleicht Abt
werden . (H . Hesse . Narziss und Goldmund)
Modell 2: Man + P(e) + S(p) + P(p)
Der zusammengesetzte Satz mit einem epistemischen Prädikat und einem explizit
ausgedrückten unbestimmten epistemischen Subjekt .
(7)
Meines . Eines, das nirgendwo bleiben kann; das sich nie ansiedeln darf; immer im Rollen
bleiben muss . Das Dasein des Emigranten . Das Dasein des indischen Bettelmönches . Das
Dasein des modernen Menschen . Es gibt übrigens mehr Emigranten, als man glaubt . Auch
solche, die sich nie vom Fleck gerührt haben . (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
Modell 3: S (p) + P (e + p)
Sätze mit einem impliziten epistemischen Subjekt und einem Prädikat mit der epistemischen und propositionalen Bedeutung . Diesem Modell entsprechen folgende
Satzstrukturen:
Modell 3a: S(p) + Modalverb in der finiten Form+Infinitiv I (II)
Das Prädikat (finites Modalverb mit dem Infinitiv I (II) des Vollverbs) drückt sowohl die Handlung als auch die Vermutung aus, deshalb kann man solche Sätze
als Sätze mit einer doppelten Prädikation betrachten . Die Zeitform des Prädikats
deutet darauf hin, dass die Handlung im Verhältnis zum Redemoment gleichzeitig
oder vorzeitig geschieht:
(8)
Nicht ein einziges Möbel; die Besitzer mussten es ausgeräumt haben, um zu flüchten.
(E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen…
227
Modell 3b: S(p) + werden im Präsens in der finiten Form+Infinitiv I (II)
Es handelt sich um den einfachen Satz mit einem impliziten epistemischen Subjekt (also den Satz mit der doppelten Prädikation) . Die Zeitform des Prädikats
deutet darauf hin, dass die Vermutung in der Gegenwart geäußert wird und den
Sachverhalt der Gegenwart oder der Vergangenheit betrifft:
(9)
„Lass uns still sein und warten“, sagte Helen . „Es wird irgendein Bekannter sein . Wenn
ich nicht antworte, geht er weg .“ (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
Modell 4: Vfin + S(p) + nicht (kein) + Objekt + Infinitiv I + (?)
Sätze mit einem impliziten epistemischen Teil der Aussage . Entscheidungsfragen
mit dem Negationswort nicht oder kein:
(10) „Tut sie dir gar nicht leid, die Kleine?“
Er sah sie an .
„Ob sie mir nicht leid tut, fragst du? Darauf sage ich: heute nicht mehr“ . (S . Zweig .
Angst)
Modell 5: S(p) + P(p) + Modalwort (Modalpartikel)
Sätze mit einem impliziten epistemischen Subjekt und Prädikat, der Sprecherglaube ist aber mit einem Modalwort markiert .
(11) Mir ist nicht ganz wohl zumute . Vielleicht hat eine der Schwestern spioniert und die
Oberin will mir sagen, ich solle nur mit Kranken über sechzig sprechen, oder sie will mir
sogar kündigen, obschon der Oberarzt erklärt hat, es sei gut, wenn Isabelle Gesellschaft
habe . (E .M . Remarque . Der schwarze Obelisk)
Die von mir vorgeschlagenen Satzmodelle sind nicht identisch – jedes hat seinen
situativen Kontext, in dem es steht . Modelle 1 und 2, in denen das grammatische
Subjekt mit dem semantischen übereinstimmt, spiegeln eine alternative Situation wider, in der auf die Person, die ihre Vermutung ausdrückt, hingewiesen
wird . In diesem Fall spreche ich von dem stilistischen Potential des epistemischen Subjekts . Modelle 3, 4 und 5 charakterisieren eine andere Situation (ich
bezeichne sie als eine nicht alternative Situation), weil aus dem Kontext klar
sein muss, wem die angeführte Meinung gehört . Das epistemische Prädikat des
3 . Modells stimmt mit dem propositionalen überein – ich spreche dann von
dem stilistischen Potential der Sätze mit der doppelten Prädikation . Modalwörter und Modalpartikeln mit epistemischer Bedeutung (Modell 5) erfüllen die
Rolle des epistemischen Prädikats – auf die situativen Besonderheiten ihres
Gebrauchs gehe ich weiter unten ein .
228
Anna V. Averina
Der situationsbezogene Gebrauch der Satzmodelle mit der Semantik der
Vermutung und ihr stilistisches Potenzial
Ich möchte jetzt die semantische und die situationsbezogene Charakteristik der
Satzmodelle geben und ihre Rolle in der Textgestaltung zeigen . Als Forschungsmaterial habe ich Romane von E .M . Remarque und H . Fallada benutzt .
Modell 1: S(e) + P(e) + S(p) + P(p).
Der Sprecherglaube ist markiert .
Solche Satzarten stehen gewöhnlich am Anfang eines Mikrothemas im Ganztext und führen den Gedankengang der Figuren, also die direkte Rede ein:
(12) Georg tut einen langen Zug aus seiner Meerschaumspitze.
„Ich glaube, das weiß heute keiner mehr von sich in Deutschland . Nicht einmal der göttliche Stinnes . Die Sparer sind natürlich alle pleite . Die Arbeiter und Gehaltsempfänger
auch . Von den kleinen Geschäftsleuten die meisten, ohne es zu wissen . Wirklich glänzend
geht es nur den Leuten mit Devisen, Aktien oder großen Sachwerten“ . (E .M . Remarque .
Der schwarze Obelisk)
So ein Satzschema ist gesprächstypisch und wirkt in einem Dialog neutral:
(13) „Ich danke dir, dass du sie angezogen hast“, sagte ich . „Ich bin sicher, dass ich morgen
abend wieder hier sein kann [ . . .] .“ (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
In einem Monolog hat diese Form eine andere Wirkung: Sie führt die Erörterung
der Situation von den Figuren ein, die sich mit den Gedanken des Autors verflicht.
In einem Text erfüllt sie die Rolle der Kohäsion (des Zusammenhalts), indem sie
Mikrotexte verbindet (Mikrotext ist eine Satzfolge mit dem gemeinsamen Themabezug seiner Komponente) (vgl . Moskalskaja 2004) . Das können wir am Beispiel des folgenden Auszugs sehen:
(14) „Ich hatte Butterbrote bei mir“, sagte Schwarz, „und ich fand einen Bach mit Wasser .
Mittags wanderte ich weiter . Mein Ziel war der Ort Feldkirch, von dem ich wusste, dass
er im Sommer von Ferienreisenden besucht wurde . Ich erwartete, da nicht so aufzufallen .
Auch Züge hielten dort . Ich erreichte ihn . Mit dem nächsten Zug fuhr ich von der Grenze
weg, um aus der gefährlichsten Zone herauszukommen . Als ich in das Abteil trat, saßen
dort zwei SA-Männer in Uniform .
Ich glaube, dass mein Training mit der Polizei Europas mir in diesem Augenblick zu Hilfe kam, sonst wäre ich wohl zurückgesprungen . So stieg ich ein und setzte mich in eine
Ecke neben einen Mann in Lodentracht, der ein Gewehr bei sich hatte“ . (E .M . Remarque .
Die Nacht von Lissabon)
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen…
229
In dem angeführten Fragment des Romans führt der Satz Ich glaube, dass .. . die
Erinnerungen der Hauptperson ein und enthält einfach die Abbildung der Vergangenheit im Bewusstsein des Sprechers . Er tritt auch als Mittel der Retrospektion
(des Rückblicks) auf .
Im folgenden Auszug hebt die Struktur ich glaube den Hauptgedanken hervor:
(15) Heute würden wir in der Landschaft unserer Jugend umher gehen wie Reisende. Wir sind
verbrannt von Tatsachen, wir kennen Unterschiede wie Händler und Notwendigkeiten
wie Schlächter . Wir sind nicht mehr unbekümmert – wir sind fürchterlich gleichgültig .
Wir würden da sein; aber würden wir leben? Wir sind verlassen wie Kinder und erfahren
wie alte Leute, wir sind roh und traurig und oberflächlich – ich glaube, wir sind verloren .
(E .M . Remarque . Im Westen nichts Neues)
Der Satz ich glaube, wir sind verloren verallgemeinert das Gesagte .
Das Personalpronomen ich in Verbindung mit dem Verb des Meinens dient auch
der Absonderung der Tatsache:
(16) Wilke hatte seitdem, ohne dass er es wollte, eine gewisse Abneigung gegen Wüllmann,
die dieser später auch nicht dadurch aus der Welt schaffen konnte, dass er sich wie ein
vernünftiger Arzt benahm und die Hinterbliebenen seiner Fälle zu Wilke schickte . Für
Wilke war der Sarg des Riesen eine ständige Mahnung, nicht zu leichtgläubig zu sein, und
ich glaube, das war auch der Grund, warum er mit der Zwillingsmutter in ihre Wohnung
gegangen ist — er wollte sich selbst davon überzeugen, dass die Toten inzwischen nicht
schon wieder auf Holzpferden herum ritten . (E .M . Remarque . Der schwarze Obelisk)
Wenn das epistemische Subjekt in Form des Personalpronomens du oder er auftritt, dann wird betont, dass die Meinung des Sprechers im Gegensatz zur Meinung des Gesprächspartners steht:
(17) „Ich wohne im „Walhalla“, oben unter dem Dachstuhl, und ich arbeite im „Walhalla“ . Ich
bin nicht mehr so jung, wie du glaubst; ich muss sehen, dass ich etwas Festes habe, bevor
ich keine Engagements mehr finde“. (E.M. Remarque. Der schwarze Obelisk)
(18) Brünner war bekannt gewesen für seine guten Korrekturen . Er hatte manchem geholfen,
besaß aber selbst keinen Ausweis, als er gefasst wurde, weil er abergläubisch war; er
glaubte, er sei ehrlich und ein Wohltäter und ihm würde nichts passieren, solange er seine Kunst nicht für sich selbst benützte . (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon) . (=er
glaubt, dass er ehrlich ist, aber das ist nicht so)
(19) „Wozu ist er überhaupt gekommen?“ Helen lächelte . Es war ein merkwürdiges Lächeln .
„Er glaubt, ich gehöre ihm . Ich müsse tun, was er wolle“ . (E .M . Remarque . Die Nacht
von Lissabon) .(=er glaubt, dass ich ihm gehöre, aber das ist nicht so)
Th .A . Fritz deutet auf eine Gesetzmäßigkeit hin: je ausführlicher der Sprecherglaube merkmalhaft zur Sprache kommt, desto mehr verkehrt sich die
230
Anna V. Averina
festlegungsbezogene Wirkung in das Gegenteil . Dieses Phänomen bezeichnet er
als „Markierungsparadoxon“ der epistemischen Modalität:
„Die Leistung des pragmatischen Deutungsprozesses, der Merkmallosigkeit mit „Sprechersicherheit“ verbindet, kann über den Versuch, den Sprecherglauben merkmalhaft zu kommunizieren, nicht in gleicher Weise erreicht werden . Die Bedeutung schlägt dann in das Kontradiktorium um. Gelegentlich nutzen Journalisten dieses Phänomen bewusst, um Zweifel an
der Glaubwürdigkeit eines Sprechers zu wecken: Die Deutsche Terminbörse (DTB) ist sich
„ganz sicher“, dass sie ihren britischen Widersacher Liffe bis zum Jahresende in einem heiß
umkämpften Marktsegment schlägt .“ (Fritz 2000a: 101)
Modell 2: Man + P(e) + S(p) + P(p)
Sätze mit dem explizit ausgedrückten unbestimmten epistemischen Subjekt .
Das Modell 2 führt die Überlegungen des Autors ein und dient oft als eines der
Merkmale der erlebten Rede:
(20) Ich tat es nicht . Meine linke Hand hielt in meiner Tasche den Pass des toten Schwarz
umklammert, als könne mir Kraft daraus zufließen. Ich sagte mir vor, dass es jetzt gleich
sei, ob ich mich länger in der Nähe der Grenze aufhielte oder nicht, und dass ich sicherer
sei, je weiter ich ins Land hineinführe . Ich beschloss auch, die Nacht durch zu fahren . Im
Zuge fragte man weniger nach Papieren als in einem Hotel .
Es ist typisch, dass man glaubt, wenn man sich der Panik überlässt, überall seien Scheinwerfer auf einen gerichtet und die Welt habe nichts anderes zu tun, als einen zu suchen . Man hat
das Gefühl, alle Zellen des Körpers wollten sich selbständig machen, die Beine wollten ein
zuckendes Bein-Reich errichten, die Arme nichts als Abwehr und Schlagen sein, und sogar
Lippen und Mund könnten nur noch zitternd den ungeformten Schrei zurückhalten .
Ich schloss die Augen . Die Versuchung, der Panik nachzugeben, war größer, weil ich
allein im Abteil war . (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
Das Pronomen man besitzt ein reiches Referenzpotenzial, dementsprechend hat
der Ausdruck man glaubt, dass..., man vermutet, dass ... eine Reihe von Referenzeigenschaften . Diese Struktur kann mit der 1 ., 2 . oder der 3 . Person Singular oder
Plural identisch sein, z .B .:
(21) Mein Kopf brummt und dröhnt in der Gasmaske, er ist nahe am Platzen . Die Lungen
sind angestrengt, sie haben nur immer wieder denselben heißen, verbrauchten Atem, die
Schläfenadern schwellen, man glaubt zu ersticken – Graues Licht sickert zu uns herein .
Wind fegt über den Friedhof . (E .M . Remarque . Im Westen nichts Neues)
In dem angeführten Fragment verwendet der Autor das unpersönliche Pronomen
man, um zu zeigen, dass die Hauptperson sich selbst als vernichtet fühlt und nichts
mehr wahrnehmen kann. Es tritt als Stilmittel der Depersonifizierung auf.
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen…
231
Modell 3: S (p) + P (e + p)
Sätze mit dem impliziten epistemischen Subjekt und dem Prädikat, das sowohl
die propositionale als auch die epistemische Bedeutung ausdrückt .
Modell 3a: S(p) + Modalverb in der finiten Form +Infinitiv I (II)
Diese Struktur erscheint oft am Ende des Mikrothemas und übernimmt die Funktion der Zusammenfassung:
(22) Wir gingen langsam hindurch . Niemand antwortete auf unsere Rufe . Ich suchte nach
elektrischen Schaltern . Es waren keine da . Das Schlösschen hatte noch keine Elektrizität; es
war geblieben, wie es erbaut war . Ein kleines Speisezimmer war da in Gold und Weiß – ein
Schlafzimmer in hellem Grün und Gold . Nicht ein einziges Möbel; die Besitzer mussten es
ausgeräumt haben, um zu flüchten. (E.M. Remarque. Die Nacht von Lissabon)
Die Vermutung beruht in diesem Fall auf dem logischen Schluss, weil die Modalverben einen bestimmten Wahrscheinlichkeitsgrad ausdrücken . Die Meinung hat
Begründung, stützt sich auf reale Tatsachen und schließt die Überlegungen des
Sprechers ab:
(23) Der Tag schien kein Ende zu nehmen . Als ich zum hundertsten Male an den Stacheldrähten vorbei strich, sah ich plötzlich, etwa zwanzig Schritte davon entfernt, auf meiner Seite, ein Paket, das in eine Zeitung gewickelt war . Es enthielt ein Stück Brot und zwei Äpfel
und einen Zettel ohne Unterschrift: „heute abend“, Helen musste es hinüber geworfen
haben, als ich nicht da war . (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
(24) Zehn Minuten später tauchte, wie aus der Erde gewachsen, ein Zollbeamter neben mir
auf . „Halt! Stehen bleiben! Was machen Sie hier?“
Er musste im Dunkeln seit langem gelauert haben . Meine Erklärung, dass ich ein harmloser Spaziergänger sei, beachtete er nicht . (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
Modell 3b: S(p) + werden im Präsens in der finiten Form +Infinitiv I (II)
Diese Struktur hat die Bedeutung der Vermutung in den Fällen, wenn sich das
Verb werden mit dem Infinitiv I (II) der Zustandsverben verbindet. Nach meinen
Beobachtungen wird diese Form in Dialogen gebraucht, weil Präsens die typische
Zeitform des Dialogs ist:
(25) „Das meine ich nicht . . .“
„Was denn, Herrgott? “
„Es ist derselbe . . . derselbe Geruch . . .“
„Du lieber Himmel, es wird Äther sein“, sagte Ravic, dem es auf einmal einfiel (E.M. Remarque . Arc de Triomphe) .
232
Anna V. Averina
(26) „In einem kleinen Bistro in der Nähe des Arc . Man musste ein paar Stufen hinuntergehen .
Es waren Chauffeure da und ein paar Mädchen . Der Kellner hatte eine Frau auf seinem
Arm tätowiert . “
„Ah, ich weiß . Es wird Calvados gewesen sein . Apfelschnaps aus der Normandie“ . (E .M .
Remarque . Arc de Triomphe)
Die Struktur werden + Infinitiv I (II) hat in dem Dialog eine Nebenbedeutung: der
Sprecher will seinen Gesprächspartner beschwichtigen:
(27) „Haben Sie gesehen, was aus dem Mädchen geworden ist, mit dem ich zusammen war?“
fragte Kern .
„Das Mädchen?“ Der Blonde dachte nach . „Es wird ihr nichts passiert sein . Was soll ihr
schon geschehen? Mädchen lässt man doch in Ruhe bei einer Prügelei“ . (E .M . Remarque .
Liebe Deinen Nächsten)
Wenn aber eine solche Satzform in einer Erzählung verwendet wird, dann führt sie die Erinnerungen des Autors
ein und bringt sie dem Leser näher, als ob das momentan passierte:
(28) Aber einmal habe ich doch herzhafte Prügel von meinem alten Herrn bezogen, und dieses
einmalige Erlebnis hat einen so tiefen Eindruck auf mich gemacht, dass ich mich seiner
in allen Einzeilheiten heute noch erinnere .
Ich werde damals zehn oder elf Jahre alt gewesen sein, und mein Busenfreund war zu
der Zeit Hans Fötsh, der Sohn unseres Hausarztes . (H . Fallada . Damals bei uns daheim:
Erlebtes, Erfahrenes und Erfundenes)
Die Struktur werden + Infinitiv I(II) ist für alle Wahrscheinlichkeitsgrade offen.
Man darf nicht sagen *Er muss wahrscheinlich zu Hause gewesen sein, möglich
ist aber der Satz Er wird wahrscheinlich zu Hause gewesen sein.
Das zeugt davon, dass das Modell 3b in erster Linie die Subjektivität der Meinung des Sprechers betont .
Modell 4: Vfin + S(p) + nicht (kein) + Objekt + Infinitiv I + (?)
Sätze mit einem impliziten epistemischen Subjekt und Prädikat – der epistemische Teil der Aussage ist unmarkiert .
Die Semantik der Vermutung wird zwischen einzelnen Lexemen und Grammemen verteilt. Man bringt höflich zum Ausdruck, dass man gerne eine bestimmte
Antwort des Adressaten hören möchte, ohne dass man den Adressaten direkt darum bittet . Diese Satzstruktur ist für einen Dialog typisch:
(29) „Ich habe es nie gekannt“, sagte ich . „Aber will das nicht jeder? Halten, was nicht zu
halten ist? Und verlassen, was einen nicht verlassen will?“ (E .M . Remarque . Die Nacht
von Lissabon).
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen…
233
(30) „Vielleicht“, sagte ich . „Aber soll man immerfort auf das Unmögliche starren und
sagen: es ist unmöglich? Ist es nicht besser, es zu verkleinern und damit einen Streifen
von Hoffnung hereinzulassen?“ . (E .M . Remarque . Die Nacht von Lissabon)
In einem Monolog wird diese Form selten gebraucht – sie dient dazu, den Leser
in die Überlegungen der Figuren einzubeziehen und tritt als Merkmal der erlebten Rede auf:
(31) „Dann kam mir eines Nachts der Gedanke, der mich danach nicht mehr losließ . Konnte
ich nicht mit diesem Pass nach Deutschland reisen? Er war fast gültig, und warum
sollte jemand Verdacht an der Grenze schöpfen? Ich konnte dann meine Frau wiedersehen . Ich konnte die Angst um sie zum Schweigen bringen. Ich konnte...“ (E.M. Remarque.
Die Nacht von Lissabon)
Modell 5: S(p) + P(p) + Modalwort (Modalpartikel)
Sätze mit einem impliziten epistemischen Subjekt und Prädikat – die Epistemizität der Aussage wird mit einem Modalwort markiert .
Wenn die Partikel wohl zum Ausdruck der Vermutung verwendet wird, dann
wird in der Aussage in der Regel die mögliche Folge oder der Grund der Handlungen / Zustände angegeben:
(32) Das Wunder ist an mir vorüber gegangen, es hat mich berührt, aber nicht verändert, ich
habe noch denselben Namen und weiß, dass ich ihn wohl bis ans Ende meiner Tage mit
mir herumschleppen werde, ich bin kein Phönix, die Neugeburt ist nicht für mich, ich
habe zu fliegen versucht, doch nun taumele ich wie ein geblendetes schwerfälliges Huhn
wieder zur Erde, zwischen die Stacheldrähte zurück . (E .M . Remarque . Der schwarze
Obelisk)
(33) Aber er weint nur, den Kopf zur Seite gewandt . Er spricht nicht von seiner Mutter und
seinen Geschwistern, er sagt nichts, es liegt wohl schon hinter ihm; – er ist jetzt allein mit
seinem kleinen neunzehnjährigen Leben und weint, weil es ihn verlässt . (E .M . Remarque .
Im Westen nichts Neues)
Auf den Grund einer Überzeugung weist auch das Modalwort angeblich hin:
(34) Die Frau hatte am Morgen mein unaufgedecktes Bett entdeckt und geglaubt, ich sei
ermordet worden . Angeblich triebe sich jemand in der Gegend herum, der schon
ein paar Raubüberfälle auf dem Gewissen hatte (E .M . Remarque . Die Nacht von
Lissabon).
In den angeführten Aussagen wird die Vermutung ohne genaue Zeitangabe geäußert, sie gründet sowohl auf dem logischen Schluss als auch auf der Intuition des
Sprechers und gilt nicht dem Mikrotext, sondern einem Satz .
Anna V. Averina
234
Die situationsbezogene Charakteristik der Satzmodelle mit der Semantik der
Vermutung im Deutschen wird in Tabelle 1 zusammengefasst .
Strukturelle Satzmodelle
Situationsbezogene Charakteristik
der Satzmodelle und die Rolle der
Strukturen in der Textgestaltung
Semantische
Satzmodelle
Modell 1 . Sätze mit einem
explizit ausgedrückten
epistemischen Subjekt:
S(e)+P(e)+S(p)+P(p) .
Hervorhebung des
Hauptgedanken . Entgegensetzung
der Meinung des Sprechers und
der Person, von der die Rede ist .
Einführung des Mikrothemas
volle (komplexe)
Struktur mit
einem bestimmten
epistemischen Subjekt
Modell 2 . Sätze mit einem
explizit ausgedrückten
unbestimmten epistemischen
Subjekt:
Man +P(e)+S(p)+P(p)
Einführung der erlebten Rede .
Stilmittel der Depersonifikation
volle (komplexe)
Struktur mit einem
unbestimmten
epistemischen Subjekt
Modell 3 . Sätze mit einem
impliziten epistemischen Subjekt
und einem Prädikat, dessen
propositionale Bedeutung mit der
epistemischen verschmolzen ist:
3a) S(p)+Modalverb in der finiten Logischer Schluss . Tritt am Ende reduzierte Struktur
Form +Infinitiv I (II)
der thematischen Einheit auf .
3b) S(p)+ werden im Präsens in
der finiten Form +Infinitiv I (II)
Die subjektive Einstellung des
Sprechers zum Sachverhalt .
Typische Form zum Ausdruck
der Vermutung in einem Dialog .
In einem Monolog werden die
Erlebnisse dem Leser näher
gebracht .
Modell 4 . Sätze mit einem
unmarkierten epistemischen Teil
der Aussage:
Vfin +S(p)+ nicht (kein) + Objekt
+ Infinitiv I (?)
Höfliche Vermutung hinsichtlich reduzierte Struktur
der Meinung des Adressanten .
Kennzeichen der erlebten Rede in
einem Monolog .
Modell 5 .
S(p)+Modalwort
(Modalpartikel)+ P(p))
Angaben über den Grund oder die
Folge der Handlungen oder Zustände .
Tabelle 1
Einschätzung der Handlungen .
Beiläufige Bemerkung.
reduzierte Struktur
reduzierte Struktur
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen…
235
Satzmodelle 1 und 2 (mit dem expliziten epistemischen Subjekt) sind für alternative Situationen charakteristisch, wenn der Sprecherglaube zum Ausdruck
gebracht und betont werden muss; andere Satzmodelle sind für eindeutige, nicht
alternative Situationen typisch .
Strukturell-semantische Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung
im Russischen
Die russische Sprache kennt keine analytischen Mittel zum Ausdruck der Vermutung . Das Modell 3 der deutschen Sprache fehlt im Russischen . Ins Russische werden diese Strukturen mit Hilfe von Modalwörtern oder Modalpartikeln
übersetzt:
(35) Irgendeines meiner Worte muss ihn getroffen haben und in das Dunkel gedrungen sein,
gegen das ich schon so lange kämpfe (Hesse H . Narziss und Goldmund) .
Kakoje-to iz moich slov, dolžno byt’, zadelo ego i proniklo v to tëmnoe, protiv čego ja
davno borjus’ . (übersetzt von G .V . Baryšnikovoj)
Modalwörter und Modalpartikeln des Russischen drücken sowohl den logischen
Schluss als auch die subjektive Einschätzung des Sachverhalts aus .
Satzgefüge mit einem Objektsatz oder eine Satzreihe werden selten verwendet:
(36) Ja očen’ rad, čto našël v vas porjadočnogo čeloveka, džentlmena, sposobnogo ponimat’
s poluslova . I ja dumaju, čto my dogovorimsja srazu. (Kuprin A.I. Granatovyj braslet)
Ich freue mich, in Ihnen einen ordentlichen Menschen, einen gentleman, gefunden zu
haben, dem bereits eine Andeutung genügt . Ich glaube, wir werden uns sofort einigen .
(übersetzt von Charlotte Cossuth)
Spezifisch für die russische Sprache ist der Gebrauch der Formen des vollendeten
Aspekts zum Ausdruck der Sicherheit:
(37) Stanet ona s toboj razgovarivat’!
Auch die Infinitivkonstruktionen können zum Ausdruck der Vermutung verwendet werden:
(38) Tebe étogo ne ponjat’. S tvoim umom da (čtoby) ne ponjat’? (Beispiel von Belajeva
1990: 161)
Die Bedeutung der Vermutung wird durch die Wortfolge ausgedrückt .
Die situationsbezogene Charakteristik der Satzmodelle mit der Semantik der
Vermutung im Russischen stellt Tabelle 2 dar .
Anna V. Averina
236
Strukturelle Satzmodelle
Situationsbezogene Charakteristik
der Satzmodelle und die Rolle der
Strukturen in der Textgestaltung
Semantische
Satzmodelle
Hervorhebung des
Hauptgedanken . Entgegensetzung
der Meinung des Sprechers und
der Person, von der die Rede ist .
Einführung des Mikrothemas .
volle (komplexe)
Struktur mit
einem bestimmten
epistemischen Subjekt
2a) S(p)+Modalwort + P(p))
Logischer Schluss. Beiläufige
Bemerkungen .
reduzierte Struktur
2b) Vfin + S(p) + Infinitiv
Beiläufige Bemerkungen.
reduzierte Struktur
Modell 1 . Sätze mit einem
explizit ausgedrückten
epistemischen Subjekt:
S(e)+P(e)+S(p)+P(p) .
Modelle 2 . Sätze mit einem
impliziten epistemischen Subjekt
Tabelle 2
Das Sprachmaterial, das ich analysiert habe, lässt folgende Schlussfolgerungen zu:
1 . Sätze mit einem explizit ausgedrückten epistemischen Subjekt sind für den
Dialog typisch . In einem Monolog dienen sie dazu, den Gedanken des Sprechers hervorzuheben oder eine Tatsache abzusondern . Sätze nach dem Modell
1 können auch ein neues Thema einführen . Die Verbindung des epistemischen
Prädikats mit dem Personalpronomen du oder er zeigt, dass sich die Meinung
des Sprechers von der Meinung der Person, von der die Rede ist, wesentlich
unterscheidet .
2 . Sätze mit einem explizit ausgedrückten unbestimmten epistemischen Subjekt
können als Stilmittel der Depersonifizierung verwendet werden. Oft treten sie
als Merkmal der erlebten Rede auf .
3 . Sätze mit der Struktur Modalverb+Infinitiv I(II) kommentieren gewöhnlich die
Aussage und schließen ein Mikrothema in einem bestimmten Text . Man kann
sie auch als Strukturen der Textebene bezeichnen .
4 . Die Fügung werden + Infinitiv I(II) ist für den Dialog typisch und tritt als subjektive Einschätzung der Aussage auf . In einem Monolog führt diese Struktur
eine Erzählung ein . Sätze nach dem Modell 4 können auch in einem Monolog
auftreten – sie beziehen dann den Leser in die Überlegungen der Figuren ein .
5 . Sätze mit der Modalpartikel wohl drücken oft einen logischen Schluss aus: Sie
enthalten in der Regel die Angaben über den Grund oder die Folge bestimmter
Handlungen oder Zustände .
6 . Für die russische Sprache ist der Gebrauch der Strukturen mit einem impliziten
epistemischen Subjekt charakteristisch . Modalwörter und Modalpartikeln haben vielfältige Funktionen: Sie können sowohl in eine neue Situation einführen
als auch einen logischen Schluss markieren .
Satzmodelle mit der Semantik der Vermutung im Deutschen…
237
7 . Der Hauptunterschied zwischen der deutschen und der russischen Sprache in
der Ausdrucksweise der Vermutung besteht darin, dass das Verb im Deutschen
als ein semantisches Zentrum des epistemischen und des propositionalen Teils
der Aussage auftritt (Sätze mit der doppelten Prädikation), während Modalwörter und Modalpartikeln im Russischen vom logisch-semantischen Standpunkt
aus die Rolle des epistemischen Prädikats spielen .
Literatur
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Anna Socka
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
1. Zur Definition der reportativen Evidentialität
Bei der reportativen Bedeutung handelt es sich um eine Subdomäne der Evidentialität, die in Aikhenvald (2006:1) definiert wird als „stating the existence of
a source of evidence for some information; that includes stating that there is some
evidence, and also specifying what type of evidence there is“. Je nach der Art
der ausgedrückten Informationsquelle unterscheidet man gewöhnlich zwischen
der direkten und der indirekten Evidentialität, die wiederum in die inferentielle
(die Information wird vom Sprecher aus Prämissen erschlossen) und die reportative1 (die Information wird dem Sprecher von anderen Personen mitgeteilt) zerfällt
(vgl . z .B . de Haan 2005: 379) .
Zu den reportativen Ausdrücken gehören im Deutschen u . a . die Partikeln angeblich und vorgeblich sowie die Modalverbkonstruktionen wollen/sollen + Infinitiv
und der sog . Referatskonjunktiv . Im Polnischen sind es die Partikeln podobno, niby,
jakoby, rzekomo und die Modalverbkonstruktion mieć + Infinitiv. Die in Tabelle 1
vorläufig behaupteten Äquivalenzen reflektieren die Angaben in Engel u.a. (2000:
105, 681, 1200 f .) . Ihrer Überprüfung in Bezug auf die polnischen Partikeln diente
eine Korpusuntersuchung, deren Ergebnisse in Abschnitt 5 dargestellt werden .
Polnisch
Deutsch
Podobno jest bardzo ładna.
RP ist sehr schön:F *
Sie soll sehr schön sein.
Jest jakoby/rzekomo/niby chory.
ist RP krank:M .
Niby nic o tym nie wiedział.
RP nichts über das nicht wusste:M
Er ist angeblich/vorgeblich krank.
Ma być bardzo ładna.
hat sein sehr schön:F
Sie soll sehr schön sein.
Były szef dyplomacji powiedział, że to dobra
praktyka, że ważne decyzje zatwierdza naród.
bestätigt (Ind .)
Der ehemalige Leiter des diplomatischen
Dienstes erklärte, es sei ein gutes Verfahren,
dass das Volk wichtige Entscheidungen
bestätige.
Er will nichts davon gewusst haben.
* F – Femininum, M – Maskulinum, RP – reportative Partikel . Hervorhebungen durch
Fettdruck stammen im gesamten Aufsatz von der Verfasserin .
Tabelle 1
1
Den zuweilen ebenfalls gebrauchten Terminus quotativ reserviere ich hier, Wiemer (2008b: 8)
folgend, für „indicators of the (at least presumed) literal reproduction of utterances“, die manchmal als eine Untermenge der reportativen Ausdrücke aufgefasst werden (vgl . Anderson 1986) .
240
Anna Socka
2. Zur Wortklasse reportative Partikel
In den Anfängen der Evidentialitätsforschung bezog man den Terminus Evidentialität nur auf grammatische Ausdrücke (etwa obligatorische Markierung am Verb in
einigen Indianersprachen; vgl . Diewald 2004: 235)2. Seit den 90er Jahren gibt es
jedoch eine wachsende Gruppe von Linguisten, die explizit von „lexikalische[n]
evidentielle[n] Markierungen“ (Wiemer 2008a: 11) sprechen und dazu u .a . Partikeln zählen .3 Dieser Betrachtungsweise schließe ich mich im Folgenden an .
Die Wortklasse, zu der die Einheiten angeblich und vorgeblich gehören, ist in
der germanistischen Linguistik Gegenstand zahlreicher Kontroversen .4 In Zifonun
u .a . (1997) wird angeblich (wie auch z .B . anscheinend, vermutlich, mutmaßlich)
zu den Adjektiven gerechnet, da es attributiv, d.h. als Nomenmodifikator verwendet werden kann (vgl . ebd . 1003 f ., 1131 f .) . Die adverbiale Funktion kommt zwar
auch „wohl alle[n] Adjektivphrasen“ zu (ebd . 1004), jedoch fungieren einige von
ihnen als Verbgruppen-, andere – wie die uns hier interessierenden Lexeme – als
Satzadverbialia. Ausdrücke mit satzadverbialer Funktion, die nichtflektierbar und
nicht attributiv verwendbar sind (z .B . leider, vielleicht, evidentermaßen), werden
dagegen als Modalpartikeln klassifiziert (vgl. ebd. 987). Durch den Hinweis darauf, dass Ausdrücke „der Basiskategorie Satzadverbiale“ jedoch auch zu „Modifikatoren attributiv verwendeter Adjektive“ umkategorisiert werden können, wird
der Tatsache Rechnung getragen, dass sie neben dem Satzskopus viel kleinere
Skopi, insbesondere den über ein attributives Adjektiv, haben können:
„As far as I am able to judge, the absolutely predominant number of sentential particles
demonstrates variable scope, ranging from sentence level down to parts of NPs . […]
[ . . .] Angeblich kam er gestern erst um fünf mit seiner kleinen Tochter.
[ . . .] Er kam gestern erst um fünf mit seiner angeblich kleinen Tochter .“ (Wiemer 2008b: 20)
Eisenberg (2006) subsumiert die Ausdrücke dagegen unter die Kategorie Adverb,
die er gerade durch „die Vielfalt der Bezugsmöglichkeiten“ (ebd. 210) definiert:
„In einem ersten Schritt wäre das Adverb also zu charakterisieren als nichtflektierbare, einfache Einheit mit lexikalischer Bedeutung, die nicht oder nicht nur auf Substantive und die
prototypisch auf Sätze beziehbar ist .“ (ebd . 208)
2
3
4
Vgl . auch Aikhenvald (2006: 6), Faller (2007: 224) .
Vgl . auch de Haan (2001: 194), Hassler (2002: 143), Wiemer (2005: 107), Smirnova (2006:
61), sowie – für eine eingehende Diskussion – Wiemer (2009) .
Eisenberg (2006: 218) fasst sie folgendermaßen zusammen: „Die Grundzüge (687 f .) sprechen von Modalwörtern als Teilklasse der Adverbien, Helbig/Buscha (1998: 500 f .) von
Modalwörtern, die ausdrücklich keine Adverbien seien . Lang (1979) nennt sie Satzadverbiale, Clément/Thümmel (1975: 48 ff .) und die IDS-Grammatik (58) entscheiden sich für
Modalpartikeln, und der Duden (1998: 369 f .) zählt den größten Teil von ihnen zu den Modaladverbien . Der Versuch einer terminologischen Klärung [ . . .] kann nur im Rahmen einer
Gesamtanalyse des Bereichs der Partikeln und Adverbien erfolgen“ .
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
241
Die meisten der sog . epistemischen modalen Ausdrücke, zu denen Eisenberg
(2006: 218) z .B . vielleicht, sicherlich, wirklich sowie die uns interessierenden
evidentiellen Lexeme zählt, sind auch attributiv verwendbar (der angebliche
Student) . In diesem Falle spricht er jedoch von Adjektiven als Konversionsprodukten aus den betreffenden Adverbien (vgl . ebd .) . Ein Nachteil des Ansatzes
von Eisenberg (2006) besteht also darin, dass für eine umfangreiche Klasse von
Adverbien homonyme Adjektive angenommen werden müssen . Im Ansatz von
Zifonun u . a . (1997) zerfallen dagegen sog . modale Satzadverbialia in Adjektive
und Modalpartikeln, je nachdem, ob es sich um flektierbare oder unflektierbare
Einheiten handelt . Ballweg (2007), dessen Darstellung ausdrücklich an Zifonun
u .a . (1997) angelehnt ist, dehnt dagegen den Terminus Modalpartikel auch auf die
flektierbaren Einheiten im unflektierten Gebrauch aus (vgl. 547); folglich wären
für diesen Teil der Modalpartikeln homonyme Adjektive anzunehmen . Für die
Aussonderung der Modalpartikeln aus der Klasse der Adverbien führt er u .a .
folgende Argumente an: (a) „In Kombination mit einem Responsiv [ . . .] oder
allein können sie auf eine Entscheidungsfrage antworten, während Adverbien
als Antwort auf eine Ergänzungsfrage dienen können“ (ebd .); (b) „Anders als
Adverbien sind Modalpartikeln nicht phrasenbildend und nur beschränkt koordinierbar“ (ebd .); (c) „Modale Satzadverbialia können im Mittelfeld des deutschen Satzes die Grenze zwischen Hintergrund und (gewichtetem) Vordergrund
markieren“ (ebd .) . Weitere Argumente können zahlreichen älteren Arbeiten entnommen werden, in denen meistens der Terminus Modalwort gebraucht wird5
(für eine Übersicht vgl . insbesondere Helbig/Helbig 1990: 12-29, Hetland 1992:
17-25): Sie sind in der Regel nicht negierbar, nicht durch Proformen ersetzbar
(Er kommt angeblich > *Er kommt so), lassen sich in übergeordnete Sätze transformieren (Angeblich p. > Jemand gibt an, dass p), die meisten von ihnen sind in
Fragesätzen, Imperati sätzen und irrealen Wunschsätzen nicht möglich (*Kommt
er angeblich?, *Komm angeblich!, *Käme er doch angeblich!) .
Die „Deutsch-polnische kontrastive Grammatik“ (Engel u. a. 2000) definiert Modalpartikeln als „unveränderliche Wörter, die als Antwort auf Ja-/Nein-Fragen gebraucht werden können“ (ebd . 1127) . Neben dem dort expressis verbis erwähnten
inferentiellen Ausdruck anscheinend (ebd . 1128) erfüllen die reportativen angeblich
und vorgeblich dieses Definitionskriterium. Ihre polnischen Äquivalente podobno,
ponoć, rzekomo, jakoby, niby werden dagegen ausdrücklich zu den Abtönungspartikeln gezählt (vgl . ebd . 1200-2, 1204), die folgendermaßen charakterisiert werden:
„Hier handelt es sich um Partikeln, die
– nicht erfragt werden können
– nicht als Antwort auf irgendwelche Fragen dienen können
– nicht negierbar sind .“ (ebd . 1181)
5
Neben den in Fußnote 6 erwähnten „Grundzügen“ (Heidolph u . a . 1981) und „Deutscher
Grammatik“ (Helbig / Buscha 1998 u .ö .) zählen dazu z .B . Admoni (1972), Bartsch (1972),
Lang (1979), Helbig / Helbig (1990) .
242
Anna Socka
Da wohl auch die Modalpartikeln (anders als Adverbien) weder erfragbar noch negierbar sind, bleibt nur die Fähigkeit, (eventuell mit einem Responsiv) Entscheidungsfragen zu beantworten, als das einzige Unterscheidungskriterium zwischen
Modal- und Abtönungspartikeln .6 Die folgenden Beispiele zeigen, dass zumindest
auch podobno und rzekomo diese Fähigkeit besitzen .
(1) – Joasiu? Obudziłam cię? Przepraszam! Słuchaj, podobno na teatrze jest napisane w jednym zdaniu [„Krystyna Janda jako Maria Callas, Joanna Szczepkowska jako Goła Baba”].
Co ty na to? – Tam jest słowo „jako”? – Podobno. – To zabawne. (PWN, Bożena Janicka /
Krystyna Janda, Gwiazdy mają czerwone pazury, 1998)
‘Joasia? Habe ich dich geweckt? Entschuldigung! Pass auf, angeblich steht am Theater in
einem Satz: „Krystyna Janda als Maria Callas, Joanna Szczepkowska als Nacktes Weib“.
Was sagst du dazu? – Steht da das Wort „als“? – Angeblich . – Das ist lustig .’7
(2) […] trzeba być uczciwym, by zostać politykiem? Rzekomo tak . (http://www .andegrand .pl/
forum/index .php?a=topic&t=2280&min=90&num=15&sessionid=1fea4c9f .)
‘Muss man ehrlich sein, um Politiker zu werden? Angeblich ja .’
In der polnischen linguistischen Literatur werden sie als modulanty (Jodłowski
1976, Laskowska 1992: 51 f .), modalizatory (Laskowski 1984, 1998) oder
partykuły (Grochowski 1986, 1997, 2003, Maldijeva 1995) klassifiziert. Zaron
(1993) zieht offensichtlich nur den satzadverbialen Gebrauch in Betracht, indem
sie Lexeme wie podobno, chyba ‛wohl’, niestety ‛leider’, wcale ‛gar nicht’ als
Adverbien behandelt, die in syntaktischer Hinsicht nicht konnotiert8 und in semantischer Prädikate mit einem propositionalen Argument sind .
Laskowski (1998) zählt sie zur Klasse der Modalisatoren (modalizatory), d .h .
nichtflektierbarer, autosyntagmatischer (d.h. primär als Äußerungsbestandteile,
die syntaktische Abhängigkeitsrelationen eingehen, fungierender) Ausdrücke, die
von einem beliebigen Bestandteil des Satzes syntaktisch abhängen können und
hinsichtlich der Stellung im Satz keinen Einschränkungen unterliegen . Die uns
hier interessierenden Lexeme gehören zu einer Subklasse der Modalisatoren, die
6
7
8
Im Deutschen unterscheiden sich die beiden Klassen zusätzlich durch die Vorfeldfähigkeit:
Nur die Modalpartikeln, nicht aber die Abtönungspartikeln können im deutschen Konstativsatz das Vorfeld besetzen . In Bezug auf das Polnische heißt es aber in Engel u . a . (2000):
„Im Polnischen gibt es keine generellen Stellungsrestriktionen für die Abtönungspartikeln“
(ebd . 1181) .
Die in polnischen Belegen auftretenden reportativen Partikeln werden von mir im Folgenden meistens mit angeblich ins Deutsche übersetzt, um dem Leser eine mit der polnischen
annähernd isomorphe Konstruktion zu bieten . Die Übersetzungen sollen also nicht als Aussagen über das beste deutsche Äquivalent verstanden werden .
Gemeint ist Konnotation im Sinne von Bühler (1982: 173), dass nämlich „die Wörter einer
bestimmten Wortklasse eine oder mehrere Leerstellen um sich eröffnen, die durch Wörter bestimmter anderer Wortklassen ausgefüllt werden müssen“ . In diesem Sinne eröffnet
z .B . ein Adjektiv eine Leerstelle für ein Substantiv, ein Adverb dagegen für ein Adjektiv
oder ein Verb (vgl. Polański 1994: 166).
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
243
zudem als Satzadverbiale fungieren und die Einstellung des Sprechers zur Proposition ausdrücken können .
Grochowski (2003: 220 f .) kritisiert Laskowskis Begriff der autosyntagmatischen Lexeme als unklar . Er selbst versteht darunter Lexeme, die von anderen
Ausdrucksklassen eröffnete Leerstellen ausfüllen, unter synsyntagmatischen dagegen solche, die selber Leerstellen eröffnen können . Die letzteren werden im
Hinblick auf die Wortfolge klassifiziert. Die uns interessierenden Lexeme fallen
dabei in die Klasse der sog . echten Partikeln (partykuły właściwe), die sich durch
eine variable Position im Satz und das Eingehen von syntaktischen Relationen
mit dem jeweils nachfolgenden Ausdruck auszeichnen . So könnte podobno vor
jedem der Wörter in (3) stehen, wobei sich das betreffende Wort dann im Skopus
der Partikel befände .
(3) Dostała trzy piękne naszyjniki. (vgl. Grochowski 2003: 223)
bekam:F drei schöne Halsketten
Das unterscheidet Partikeln von Adverbien, die sich lediglich auf Adjektive (in
Präposition: Dostała trzy niespodziewanie piękne naszyjniki) und verbale Prädikative (unabhängig von der Stellung: Niespodziewanie dostała trzy piękne naszyjniki, Dostała niespodziewanie trzy piękne naszyjniki, Dostała trzy piękne naszyjniki
niespodziewanie), nicht aber auf nicht-deverbale Substantive beziehen können
(*niespodziewanie naszyjniki, vgl . Grochowski 1997: 24 f .) . Werden die PartikelLexeme dagegen als Antworten auf Entscheidungsfragen gebraucht, so zählen sie
die beiden Autoren zu einer getrennten Klasse der dopowiedzenia (‘Hinzufügungen’), die sich durch diese „asyntagmatische“ Verwendung auszeichnet (vgl . ebd .
16, Laskowski 1998: 58) .
Unter diskurspragmatischem Gesichtspunkt sieht Tutak (2003: 73) die Lexeme
als diskursivnye slova (‘Diskurswörter’) im Sinne von Kiseleva/Paillard (1998)
und charakterisiert sie als Einheiten, die den sprachlichen Kommunikationsprozess gleichsam steuern, indem sie ausdrücken, wie der Sender den kommunizierten Sachbestand im Hinblick auf Wichtigkeit, Wahrscheinlichkeit, Glaubwürdigkeit u .ä . einschätzt . Extensional deckt sich die Klasse mit keiner der traditionell
unterschiedenen Wortarten . Ähnlich beschreibt Czapiga (2006: 97) operatory
metatekstowe (‘metatextuelle Operatoren’) als Ausdrücke, die einen auktorialen
Kommentar darstellen und, obwohl sie mitten in Sätzen stehen, suprasententiale
Funktionen haben .
Die Verhältnisse im Deutschen und Polnischen, die in dieser kurzen und notwendigerweise unvollständigen Übersicht skizziert wurden, fügen sich in das folgende, aus einer weiteren, typologischen Perspektive entworfene Bild:
„[…] on the basis of the existing literature, I have found myself unable to figure out any
crucial difference (either functional or structural) between sentential adverbs and (modal)
particles, I will treat them here in one rubric, leaving out for future investigations whether
244
Anna Socka
there is any tenable functional difference that can be generalized over languages . I will refer
to the relevant units as ‘particles’, although in various descriptions some of them might have
been named ‘adverbs’ or else […]; terminology varies considerably also due to national linguistic traditions .
The medley bag of words called ‘particles’ which we are concerned with here are sentential modifiers (as opposed to focus particles and particles that function as signals of turntaking or attention-regulating devices in dialogue) . […] As far as I can see, no water-tight
and cross-linguistically applicable criteria have been formulated of what should count as
particle; often particles are “defined” in negative terms: they are uninflected; neither are
they part of the clause’s constituent structure, nor do they have to occupy fixed positions;
they are highly heterogeneous in terms both of syllable structure, cliticizability and morphological provenance, etc . Ultimately the only valid criteria appear to be located on the
level of pragmatic functions […] .
Since structurally particles are not integrated into the syntax of the clause which they
modify, their scopal behaviour can vary, and since among all reportive markers they
display probably the widest array of semantic-pragmatic diversification […].“ (Wiemer
2009: 21)
Für die so charakterisierte Wortklasse bleibe ich in diesem Aufsatz bei der Bezeichnung Partikel.
3. Reportative Ausdrücke im Polnischen
3 .1 . Partikeln
Wiemer hat (2006) eine eingehende Untersuchung der polnischen evidentiellen
Partikeln vorgelegt . Das Format der Bedeutungsexplikationen folgt der von Anna
Wierzbicka entwickelten sog . Natural Semantic Metalanguage (vgl . z .B . Wierzbicka 2006: 247-261) . Bei den meisten reportativen Partikeln konnte Wiemer sowohl evidentielle als auch epistemische Bedeutungsbestandteile feststellen, wobei
die letzteren verschieden stark sind und sich auf einer Skala einordnen lassen (vgl .
Wiemer 2006: 50) . In Wiemers Bedeutungsexplikationen (vgl . (4), (9), (13), (22))
werden die verschiedenen Grade des Misstrauens, mit dem der wiedergebende
Sprecher der wiedergegebenen Information begegnet, mithilfe verschiedener Modalverben (mit oder ohne Negation) paraphrasiert .
An zahlreichen Belegen konnte Wiemer zeigen, dass podobno keinerlei Zweifel
des Sprechers an der Wahrhaftigkeit der Originaläußerung mit ausdrücken muss .
Die Bedeutungsexplikation (4) enthält als epistemische Komponente (c) lediglich
eine agnostische Einstellung (d .h . der Sprecher übernimmt keine Verantwortung
für die Wahrheit der Aussage) . So zweifelt der Sprecher in (5) keineswegs daran,
dass er angerufen worden ist, vielmehr überlegt er, aus welchem Grund der Anrufer nicht durchkam .
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
(4)
(5)
245
Podobno P.
(a) I want to say what someone else says . (= reportive component)
(b) I say: P .
(c) I don’t say I know that P . (= epistemic component, ‘agnostic’ stance)
(d) I think that other people can think the same .
(c) leads to the implicature (e):
(e) I think that P might be not true . (epistemic, cancellable) (ebd . 24)
[...] Ten, dzisiaj też mam po dwudziestej pierwszej dzwonić do faceta, bo podobno wczoraj do mnie dzwonił, no ale nie mógł się dodzwonić. Nie wiem, dlaczego. Słuchawka
może była źle odłożona. […] Może coś, bo tak przy fotelu stoi i ten, i za sznur może ktoś
pociągnął i ten ... (PWN, zit. nach Wiemer 2006: 24 f.)
‘Also, heute muss ich auch nach 21 Uhr einen anrufen, denn er soll mich gestern angerufen haben, aber er kam nicht durch . Ich weiß nicht, warum . Vielleicht war der Hörer nicht
richtig aufgelegt . [ . . .] Vielleicht so, denn es steht so neben dem Sessel, und vielleicht hat
jemand an der Schnur gezogen und so . . .’
Dieselbe Bedeutung kann auch ponoć und podobnież zugeschrieben werden, Unterschiede zwischen allen drei Lexemen sind stilistischer Art . Die epistemische
Komponente (c) ist durch eine Art implikative Regel mit der Implikatur (e) –
also einer leicht kritischen epistemischen Beurteilung – verbunden, die lediglich
pragmatisch abgeleitet und daher durchaus aufhebbar ist . Belege, in denen diese
kritische Beurteilung der Wahrheit einer Aussage aktiviert ist, sind seltener . Es
handelt sich meistens um Fälle, in denen mit anderen sprachlichen Mitteln Ironie
oder Parodie hergestellt wird (vgl . (6), ebd . 26) .
(6)
Wąchock jest miastem cudów […] No więc Michale, no słyszeliśmy, słyszeliśmy tam
u was to się podobno psy o budy zabijają na gumowych łańcuchach, a autobusy są szersze niż dłuższe, bo każdy chce koło kierowcy [...]. (PWN, Radio RMF FM, 2001; zit.
nach Wiemer 2006: 26)
‘Wąchock ist eine Stadt der Wunder … Also, Michał, wir haben gehört, dass bei euch
Hunde angeblich mit ihren Hütten zusammenstoßen und tot umfallen, weil die Ketten
aus Gummi sind, und dass die Busse breiter als lang sind, weil jeder neben dem Fahrer
sitzen möchte .’
Weitgehend konventionalisiert ist ferner der dialogische Gebrauch von podobno
zur Einführung eines neuen Gesprächsthemas: Der Sprecher stellt eine Ergänzungsfrage nach einem Ereignis, von dem er weiß, dass es stattgefunden hat, um
weitere Informationen dazu einzufordern (vgl . (7)) .
(7)
Scyzor podszedł do niego, zgasił niedopałek papierosa o ramę łóżka i rzucił go na koc.
[…] . – Podobno siedziałeś na stołówce nie za swoim drewnianym jebanym stolikiem?
– Jarek cały czas walczył nad opanowaniem swych nerwów. (PWN, Wiesław Pasławski,
540 dni w armii, 1999)
246
Anna Socka
‘Scyzor kam auf ihn zu, drückte den Zigarettenstummel am Bettrahmen aus und warf ihn auf
die Decke . „Angeblich hast du in der Kantine nicht an deinem Scheißholztisch gesessen?“,
Jarek rang die ganze Zeit um Fassung.’
Bei der Partikel jakoby handelt es sich um einen mehr oder weniger ernsten Zweifel . Der Sprecher hält die wiedergegebene Äußerung für eher unglaubwürdig (was
oft durch eine im Kontext mitschwingende Ironie begründet ist) (vgl . (8)) . Die
negative epistemische Bewertung wird folglich in der Bedeutungsexplikation (9)
als „(d) I think that P can be not true“ paraphrasiert .
(8)
(9)
(...) w marcu 1976 r. […] Instytut przesłał listę tematów, które jego zdaniem stanowiły
niewątpliwe osiągnięcia. Dwa tygodnie później ten sam Instytut usiłował wycofać kilka
tematów, które jakoby podał przez przeoczenie, w tym wszystkie prace Brzozowskiego.
(PWN, Życie i Nowoczesność 551, 1981, zit . in Wiemer 2006: 40)
‘Im März 1976 schickte das Institut eine Liste mit Themen, die seiner Meinung nach
unbestreitbare Errungenschaften darstellten . Zwei Wochen später versuchte dasselbe Institut einige Themen, die angeblich versehentlich angegeben wurden, zurückzunehmen,
darunter alle Arbeiten von Brzozowski .’
Jakoby P .
(a) I want to say what someone else says . (= reportive component)
(b) I say: P .
(c) I don’t say I know that P . (= epistemic component, ‘agnostic’ stance)
(d) I think that P can be not true . (epistemic, non-cancellable)
(e) I think that other people can think the same . (Wiemer 2006: 43)
Die negative epistemische Komponente wird jedoch nicht immer aktiviert, zuweilen (vgl . z .B . (10)) bleibt die Einstellung des Sprechers unbestimmt .
(10) Sądzi się, że właśnie w takich miejscach […] pojawiły się najpierw proste ołtarze, a wreszcie skomplikowane budowle, będące ich pałacami. Tak miały, zdaniem historyków religii, powstać pierwsze świątynie. Było to jakoby zbieżne z faktem osiedlenia się mas
ludzkich […] . (PWN, H . Waniek, Opis podróży mistycznej z Oświęcimia do Zgorzelca
1257-1957, 1996, zit . in Wiemer 2006: 42)
‘Es wird angenommen, dass gerade an solchen Stellen zuerst einfache Altäre und dann
komplizierte Bauten errichtet wurden, bei denen es sich um ihre Paläste handelte .
So sollen, nach der Meinung der Religionshistoriker, die ersten Tempel entstanden
sein . Dies sei mit der Tatsache zusammengefallen, dass sich die Menschenmassen
niederließen .’
Nach Wiemer (2006: 42) „[…] negative epistemic evaluation is very likely and
represents the usual case, but not always is it „activated” by the context; in some
cases the metaspeaker’s stance remains indeterminate . […] negative epistemic
stance is not an entirely stable ingredient of its [the particle’s jakoby] meaning” .
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
247
Es scheint sich also eher um eine aufhebbare konversationelle Implikatur zu handeln . Ich schlage vor, die Bedeutungsexplikation von jakoby in Analogie zu derjenigen von podobno umzuformulieren:
(9’) Jakoby P.
(a) I want to say what someone else says . (= reportive component)
(b) I say: P .
(c) I don’t say I know that P . (= epistemic component, ‘agnostic’ stance)
(c) leads to the implicature (d):
(d) I think that P can be not true . (epistemic, cancellable)
(e) I think that other people can think the same .
Die Aufhebung der Implikatur stellt – anders als bei podobno – den markierten
Fall dar, was sich mit Wiemer (ebd .) daraus erklären lässt, dass “jakoby usually
occurs in contexts in which the addressee (reader) can induce the metaspeaker’s
negative stance, i .e . in contexts which easily activate the pragmatically associated epistemic component of jakoby“ . Es ist insbesondere auffällig, dass jakoby
sich typischerweise auf Inhalte von Meinungen oder Überzeugungen bezieht
(vgl . (11)), podobno dagegen auf Propositionen, die als Tatsachen dargestellt
werden (vgl . (12)) .
(11) Panuje powszechne przekonanie, że była NRD – jakoby, tak jak PRL, dziesiąta potęga
przemysłowa świata – została w wyniku zjednoczenia całkowicie odprzemysłowiona.
(PWN, Polityka 10 .02 .2004)
‘Nach der allgemein herrschenden Überzeugung wurde die DDR – angeblich, wie die
Volksrepublik Polen, die zehnte Wirtschaftsmacht der Welt – infolge der Wiedervereinigung völlig entindustrialisiert .’
(12) Juszczenko grupuje wokół siebie najrozmaitszych ludzi, działających dość chaotycznie. Osobą numer 1 jest Anatolij Zinczenko, szef jego sztabu wyborczego, ale wielkie wiece i demonstracje to podobno pomysł Julii Tymoszenko. (PWN, Rzeczpospolita
30 .10 .2004)
‘Juschtschenko gruppiert um sich diverse Leute, die ziemlich chaotisch handeln.
Die Nummer 1 ist Anatolij Sintschenko, der Leiter seines Wahlkampfteams, aber
große Kundgebungen und Demonstrationen waren angeblich die Idee von Julia
Timoschenko .’
Rzekomo drückt von allen hier analysierten Lexemen die schärfste Distanzierung von der wiedergegebenen Information aus . Laut Wiemer (2006: 39) teilt der
(wiedergebende) Sprecher durch diese Partikel offen mit, dass er der Information keinen Glauben schenkt .9 In der formalen Bedeutungsexplikation (13) wird
dies durch die Komponente (b) verdeutlicht . Auch die unlöschbare epistemische
9
Vgl . Wierzbicka (1969: 61), Laskowska (1992: 52), Tutak (2003: 97) .
248
Anna Socka
Komponente (d) erhält eine stärkere Paraphrase als im Falle von podobno und
jakoby: „I think that P is not true“ .
(13) Rzekomo P.
(a) I want to say what someone else says . (= reportive component)
(b) I say: someone says: “P” .
(c) I don’t say I know that P . (= epistemic component, ‘agnostic’ stance)
(d) I think that P is not true . (epistemic, non-cancellable)
(e) I think that other people can think the same . (ebd . 39)
Es lassen sich in der Tat zahlreiche Beispiele finden, auf die diese Paraphrase zutrifft, was insbesondere aus Kontextelementen oft ersichtlich ist: Ausdrücke, mit
denen der Inhalt der wiedergegebenen Aussage als Lüge, Mythos, Invektiven etc .
bezeichnet wird (vgl . (14)), sowie lexikalische Elemente wie w rzeczywistości ‘in
Wirklichkeit’, faktycznie ‘faktisch’, mit denen eine konträre Aussage versehen
wird (15)) . Manchmal wird einer Aussage der Form Rzekomo p eine Aussage
gegenübergestellt, die zu ihr im logischen Widerspruch steht (vgl . (16)) oder zumindest gewichtige Gegenevidenzen liefert (vgl . (17)) .
(14) Ludzi obrażano inwektywami o rzekomo zbiorowej kolaboracji i spadku po homo sovieticus . (PWN, T . Drewnowski, Próba scalenia, 1997, zit . in Wiemer 2006: 38)
‘Menschen wurden mit Invektiven über die angeblich massenhafte Kollaboration und
das Erbe des homo sovieticus beleidigt .’
(15) Antyglobaliści, rzekomo broniący biednych, przyczyniają się w rzeczywistości do pogorszenia ich sytuacji . (PWN, Fakt 02 .09 .2004)
‘Globalisierungsgegner, die angeblich die Armen verteidigen, tragen in Wirklichkeit zur
Verschlechterung ihrer Lage bei .’
(16) W tej chwili ważniejsza jest możliwość wyeliminowania zjawiska rejestracji kradzionych samochodów jako nowych, rzekomo kupionych w salonie . (PWN, Życie Warszawy
17 .02 .2002)
‘Zur Zeit ist es wichtiger, dass die Möglichkeit unterbunden wird, gestohlene Autos als
neue, angeblich im Autohaus gekaufte anzumelden .’
(17) Ale nawet teraz, już jako rzekomo wolny człowiek, wciąż jeszcze podlega ścisłym restrykcjom: nie wolno mu rozmawiać z dziennikarzami, nie może otrzymać paszportu,
by opuścić kraj, a jego praca w reaktorze atomowym przed dwudziestu laty wciąż jeszcze
stanowi temat tabu . (PWN, Polityka 05 .01 .2004)
‘Aber selbst jetzt, als angeblich freier Mensch, unterliegt er zahlreichen Restriktionen: Er darf nicht mit Journalisten sprechen, bekommt keinen Pass, mit dem er das
Land verlassen könnte, und seine Arbeit am Atomreaktor vor 20 Jahren ist weiterhin
ein Tabu .’
Auf der anderen Seite begegnen jedoch Belege wie (18), wo der Verwendungskontext, genauer der auf die Partikel folgende Satz jeśli jej wierzyć . . . ‘wenn man
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
249
ihr glaubt’ mit der radikal ablehnenden epistemischen Haltung unvereinbar ist .
Vielmehr handelt es sich um eine zweifelnde Einstellung, die durch „I think that
P can be not true“ paraphrasiert werden könnte .
(18) – Prawdę powiedzieć, to nie wiem co sądzić. Znam ją długo, prawie od początku mojego pobytu w Aix... Wiesz, że moim mężem był […] wnuk jej brata. Rzekomo, jeśli jej
wierzyć... Ale ten wnuk, mój mąż, o niczym nie wiedział i Wiktoria była dla niego obcą
kobietą, poznał ją dopiero w Aix i te jej opowiadania traktował jak dziwactwo starej panny. Z drugiej strony jednak wiem, że jest szalenie akuratna, dokładna i rzetelna. I trudno
mi uwierzyć, że jest zwariowana na jednym punkcie, a w żadnym z pozostałych – nie...
(PWN, Maciej Pinkwart, Dziewczyna z Ipanemy, 2003)
‘– Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich davon halten soll . Ich kenne sie lange, fast so
lange, wie ich in Aix wohne . . . Du weißt, dass mein Mann der Enkel ihres Bruders war .
Angeblich, wenn man ihr glaubt . . . Der Enkel, mein Mann, wusste allerdings von nichts
und Wiktoria war für ihn eine fremde Frau, er hat sie erst in Aix kennen gelernt und ihre
Geschichten betrachtete er als Marotten einer alten Jungfer. Auf der anderen Seite weiß
ich, dass sie wahnsinnig akkurat, genau und zuverlässig ist . Und ich glaube nicht, dass sie
nur in diesem einem Punkt verrückt ist, in allen anderen aber nicht .’
Um dieselbe Einstellung handelt es sich m .E . in Belegen wie (19), wobei der
Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussage hauptsächlich darauf beruht, dass sie
sich auf weit zurückliegende und folglich nicht nachprüfbare Ereignisse bezieht .
(19) Musiał być rzeczywiście bardzo stary, zmarł pod koniec lat sześćdziesiątych, podobno miał za sobą wielką przeszłość artystyczną, przed wojną grał duety z Pawłem Kochańskim, rzekomo akompaniował Kiepurze, pisał muzykę do słuchowisk radiowych.
[…] Nikt na dobrą sprawę nie wie, o czym myślał, nikt go naprawdę nie znał. (PWN,
Włodzimierz Kowalewski, Bóg zapłacz!, 2000)
‘Er muss wirklich sehr alt gewesen sein. Er starb Ende der sechziger Jahre. Er soll auf
eine großartige künstlerische Vergangenheit zurückgeblickt haben . Vor dem Krieg spielte
er in Duos mit Paweł Kochański, begleitete angeblich Kiepura, schrieb Musik für Hörfunkspiele . [ . . .] Keiner weiß wirklich, was er dachte, niemand hat ihn wirklich gekannt .’
Die Annahme einer zweifelnden Einstellung (einer unüberprüften und wohl auch
unüberprüfbaren Information gegenüber) ist auch mit Belegen wie (20) kompatibel, wo sie allerdings durch keinerlei Kontextelemente erhärtet wird . Es handelt
sich um eine Zeitungsmeldung über Ereignisse in einer belagerten Stadt .
(20) Wciąż trzyma się ostatni bastion talibów i ich faktyczna stolica Kandahar. Mułłę Omara rzekomo widziano wczoraj, z ochroną, w centrum miasta. (PWN, Życie Warszawy, 26 .11 .2001)
‘Noch nicht eingenommen ist die letzte verbliebene Taliban-Hochburg und ihre faktische Hauptstadt Kandahar . Mullah Omar wurde gestern angeblich mit Leibwächtern im
Stadtzentrum gesehen .’
250
Anna Socka
Aufgrund derartiger Beispiele behaupte ich, dass Wiemers Explikation der epistemischen skeptischen Komponente von rzekomo zu stark ist . Sie kann vielmehr
– wie bei jakoby – mit „I think that P can be not true“ angegeben werden .
Im Unterschied zu jakoby kann sie jedoch nicht durch den Kontext blockiert
werden .
(13’) Rzekomo P.
(a) I want to say what someone else says . (= reportive component)
(b) I say: someone says: “P” .
(c) I don’t say I know that P . (= epistemic component, ‘agnostic’ stance)
(d) I think that P can be not true . (epistemic, non-cancellable)
(e) I think that other people can think the same .
Möglicherweise ist der Unterschied zwischen jakoby und rzekomo auch textueller Art . Im PWN-Korpus scheint rzekomo signifikant häufiger als jakoby oder
podobno in Pressemeldungen über mutmaßliche Rechtsübertretungen und deren
gerichtliche Konsequenzen vorzukommen . Rzekomo ist folglich charakteristisch
für die Redewiedergabe von rechtlich relevanten Aussagen wie Beschuldigungen,
Geständnissen etc . und dient dabei der Unterstreichung einer distanzierten (im
Sinne von ‘strikt neutraler’) Haltung des wiedergebenden Sprechers (Journalisten), der von jedweder Parteinahme Abstand nimmt, sondern lediglich berichtet .
Zu prüfen wäre auch, ob die Partikel in derartigen Kontexten nicht eher in der
Bedeutung ‘mutmaßlich’ gebraucht wird .
(21) Francja. Oskarżony rosyjski marynarz. Przed sądem w mieście Brest na zachodzie Francji
rozpoczął się proces […] drugiego dowódcy na statku Melbridge Bilbao, który rzekomo
nie zapobiegł osadzeniu jednostki na mieliźnie na wodach Zatoki Mojańskiej. 43-letni
Władimir Czernyszow został oskarżony o spowodowanie zagrożenia życia i zdrowia załogi przez pogwałcenie podstawowych obowiązków i zasad sztuki nawigacyjnej – napisano w akcie oskarżenia. (PWN, Rzeczpospolita 01 .09 .2002)
‘Frankreich . Russischer Matrose angeklagt . Vor Gericht in der Stadt Brest in Westfrankreich begann der Prozess gegen den zweiten Kommandanten des Schiffs Melbridge Bilbao, der es angeblich nicht verhinderte, dass die Einheit in der Molene-Bucht auf eine
Sandbank lief . Der 43-jährige Vladimir Tschernischow wird angeklagt, durch fahrlässige
Überschreitung von Pflichten und Regeln der Navigationskunst Leben und Gesundheit
der Besatzung gefährdet zu haben – lesen wir in der Anklageschrift .’
Charakteristisch für niby ist nach Wiemer (2006) eine konzessive Bedeutungskomponente: Der Sprecher akzeptiert die Aussage im Skopus von niby, macht
jedoch klar, dass er Bedenken hat, was ihre Konsequenzen anbetrifft . In der Bedeutungsexplikation (22) hat die negative epistemische Bewertung die Form eines
Konditionalsatzes, der zwei Sachverhalte kombiniert: den behaupteten P und einen weiteren Q, von dem der Sprecher annimmt, dass er normalerweise gefolgert
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
251
wird . Q wird negiert, die Negation kann jedoch aufgehoben werden, zählt also
nicht zur Assertion .
(22) Niby P.
(a) I want to say what someone else says . (= reportive component)
(b) I say: P .
(c) I don’t say I know that P . (= epistemic component, ‘agnostic’ stance)
(d) I think that other people can think the same .
(e) People think: if P, then Q; but Q is not true . (ebd . 48)
Die negative epistemische Beurteilung des wiedergegebenen Sachverhaltes erfolgt meistens im Kontext der Ironie, die wiederum in der konzessiven Komponente gründet, wie z .B . in Beleg (23) . (24) ist dagegen ein Beispiel für die Aufhebung der skeptisch-konzessiven Komponente (vgl . ebd . 45-48) .
(23) Trudno powiedzieć. Jest opieka, niby jest dobra. Jedzenie też jest dobra [sic!], ale osoba
z rakiem żołądka musi mieć dietę. (PWN, zit. nach Wiemer ebd. 46)
‘Schwer zu sagen. Es gibt die Pflege, angeblich ist sie gut. Das Essen ist auch gut, aber
eine Person mit Magenkrebs muss Diät halten .’
(24) (...) znaczy wiesz klawiatura w komputerze jest zupełnie inna, można sobie zainstalować, zmienić
układ klawiatury […], ale ja nie radzę, dlatego, że jeżeli się przesiądziesz później na jakiś inny komputer […] będziesz miała problem, Hanka sobie niby zmieniła. (PWN, zit. nach Wiemer ebd.)
‘Das heißt, weißt du, die Tastatur am Computer ist ganz anders, man kann sie installieren,
die Tastenbelegung ändern, aber ich rate davon ab, denn wenn du dich dann an einen anderen Computer setzt, hast du ein Problem . Hanka hat ihre angeblich geändert .’
3 .2 . mieć + Infinitiv
Die Konstruktion wird hier, in Übereinstimmung mit Engel u . a . (2000: 663) und
Bartnicka u . a . (2004: 302) als eine Modalverbkonstruktion behandelt .10 Neben der
reportativen kann sie mindestens zwei weitere Bedeutungen aufweisen: (i) eine modal zirkumstantielle ‘be-/empfohlene oder beabsichtigte Tätigkeit / bezweckter Zustand’ (vgl . (25)), (ii) (nur im Präteritum) eine temporale ‘relativ zu einer vergangenen Bezugszeit zukünftige Situation’ (vgl. (26), Szymański 1990: 166).
(25) Tego dnia mój ojciec w osiemdziesiątym
drugim roku życia ostatni raz miał pójść
do pracy w aptece miejskiego szpitala
zakaźnego, […] (Wszystkie 9)
An diesem Tag sollte mein Vater mit 82
Jahren zum letzten Mal arbeiten gehen, in die
Apotheke des Städtischen Krankenhauses für
Infektionskrankheiten . (9)
10 Genau genommen zählen Bartnicka u . a . (2004) mieć zu den Modalauxiliaren, bei denen
das erste Argument des infinitivischen Vollverbs als Subjekt im Nominativ realisiert wird.
252
Anna Socka
(26) […] w tym samym mniej więcej czasie, [ . . .] etwa zur selben Zeit, da andere das
kiedy inne ich grupy penetrowały vulkanische Nordplateau erkundeten, wo später
płaskowyż wulkaniczny na taraktydzkiej Losannien entstehen sollte . (172)
północy, gdzie powstać miała później
Luzania . (Wizja 161)
In Bezug auf die epistemische Komponente in der reportativen Verwendung sind
sich die Forscher nicht einig: Ältere Autoren sprechen vom Zweifel an der wiedergegebenen Information (z.B. Świderska-Koneczna 1930: 269, Topolińska 1968:
427). Szymański (1990: 162) und Roszko (1993: 100) betonen jedoch, dass der
Zweifel schwächer als bei den reportativen Partikeln rzekomo, jakoby, und nur im
geeigneten Kontext präsent ist .11 Nach Engel u . a . (2000: 681) drückt mieć + Infinitiv den „Hinweis auf einen durch andere mitgeteilten Sachverhalt völlig neutraler
Art“ aus und ist somit mit podobno synonym. Derselben Meinung ist Weiss (o.J.:
15 f .), der betont, dass eine skeptische epistemische Bedeutungskomponente allenfalls durch einen geeigneten Kontext impliziert werden kann . Podobno scheint
viel gebräuchlicher zu sein als die Modalverbkonstruktion. Szymański (1990: 166)
konnte die reportative Bedeutung nur in etwa 2% der insgesamt 912 Belege für
mieć + Infinitiv in seinem Belletristik-Korpus feststellen. Etwas häufiger dürfte sie
in den Massenmedien vorkommen (vgl . Roszko 1993: 99) .
4. Reportative Ausdrücke im Deutschen
4 .1 . Partikeln
Angeblich und vorgeblich sind die einzigen evidentiell-reportativen Partikeln des
Deutschen und ihre Bedeutung enthält für die meisten Sprecher eine klare negative epistemische Komponente . In Helbig/Helbig (1990: 77, 272 f .) wird sie
folgendermaßen paraphrasiert: „Sprecher referiert Äußerungen Dritter, drückt
damit indirekt Zweifel an der Faktizität von p aus, distanziert sich von dieser
Meinung“. Nach Kątny (1980: 82) bringt angeblich zum Ausdruck, „daß der
Sprechende sich auf die Aussage eines anderen stützt und daß er den Sachverhalt als nicht wahr oder als fraglich betrachtet” . angeblich scheint somit die
Skala der negativen epistemischen Bewertung zu umfassen, die im Polnischen
durch die drei epistemisch markierten reportativen Partikeln rzekomo, jakoby
und niby abgedeckt wird . Zifonun u . a . (1997: 1131 f .) suggerieren jedoch, dass
die mit angeblich ausgedrückte Einstellung auch lediglich agnostisch sein kann,
wie bei dem subjektiv gebrauchten Modalverb sollen. Gemeint ist dabei der Gebrauch von angeblich „bei nicht auf ihre Wahrheit geprüften oder überprüfbaren
11 BeideAutoren arbeiten mit der aus der Bulgaristik stammenden Kategorie imperceptywność,
bei der es sich um eine Vermengung der reportativen Evidentialität mit einer a priori
skeptischen epistemischen Bedeutungskomponente handelt (vgl . dazu die Kritik in Wiemer 2006: 6 f .) .
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
253
Informationen“, also anscheinend etwa ein solcher wie bei rzekomo in (20) (man
vgl . ihr Beispiel (27)12) .
(27) Zu Tausenden flieht die Bevölkerung der chinesischen Provinz Sinkiang über das 6000 m
hohe Grenzgebirge Tienschan in die Sowjetrepublik Kasachstan . Die Chinesen nehmen
unmenschliche Strapazen auf sich, um dem Terror der Rotgardisten zu entgehen . Der
Oberbefehlshaber von Sinkiang, General Wang-Mao, soll sich zu einem Geheimgespräch
mit den Sowjets getroffen haben . Angeblich will Moskau dem General Waffen und Panzer zum Kampf gegen Mao Tse-tung liefern . (Cosmas, Bild 16 .2 .1967, letzter Satz zit .
auch in Zifonun u . a . 1997: 1132)
In Zeitungsnachrichten nähert sich der Gebrauch von angeblich in einigen Fällen
dem neutralen Tatsachenbericht mit podobno, wie er in (12) vorliegt .
(28) Raimund Harmstorf hat sich umgebracht . Der Schauspieler, der 1971 als „Seewolf“ bekannt wurde, litt angeblich an der Parkinsonschen Krankheit . (Cosmas, Mannheimer Morgen
04 .05 .1998)
Im Kontext von längeren Textwiedergaben signalisiert angeblich, dass auch die
betreffende Proposition der vorerwähnten Quelle entnommen ist, welche somit
die Verantwortung für ihre Richtigkeit trägt . In (29) zweifelt Suse nicht an der
Wahrheit der „Statistiken“, sondern stellt sich darauf ein, das Bild, das sie sich mit
ihrer Hilfe gemacht hat, durch direkte Anschauung zu verifizieren.
(29) Aber zunächst Rotterdam, seit einem Vierteljahrhundert der größte Hafen der Welt, wie
Suse in einem der bunten Werbeprospekte gelesen hatte . Angeblich lief alle fünfzehn
Minuten ein Schiff in diesen so genannten Europoort ein . Es hörte sich zumindest beeindruckend an, musste die Funkassistentin zugeben . Sie wartete gespannt darauf, ob es auch
in Wirklichkeit derart umwerfend aussah, wie man angesichts der Statistiken vermuten
konnte . (Cosmas, Hansi Hartwig, Suse an Bord, 2002, 73)
Auch im folgenden Beleg zweifeln die Gesprächspartner die im Skopus von angeblich stehende Proposition nicht an . Im Gegenteil: Es werden Evidenzen für ihr
Zutreffen erwähnt .
(30) „Hallo, Jack“, sagte ich. „Hier spricht Jerry Cotton aus New York. Kennst du einen gewissen Mandy Rowles? Er ist angeblich einer von John F. Trabers Killern.“ „Stimmt“,
erwiderte mein Kollege. „Jedenfalls deutet manches darauf hin. Wir lassen ihn lose überwachen . Bis jetzt ist aber dabei nichts herausgekommen . Der Bursche ist clever . [ . . .]“
(Cosmas, Autor unbekannt, G-man Jerry Cotton. Ein Teenager soll sterben, o.J., 6)
12 Da im vorangehenden Satz reportatives sollen mit Infinitiv Perfekt gebraucht wurde, kann
der Gebrauch von angeblich in (27) auch stilistische Gründe haben .
254
Anna Socka
Für vorgeblich, das viel seltener gebraucht wird, lassen sich ebenfalls vereinzelte
Belege finden, in denen der Verwendungskontext keinerlei Anhaltspunkte für die
negative epistemische Einstellung liefert .
(31) Trotz extremer Sicherheitsvorkehrungen ist drei Tage vor Erscheinen des letzten Harry-Potter-Bandes eine angebliche Raubkopie des Buches im Internet aufgetaucht . [ . . .] Ein
Anwalt der Autorin Joanne K. Rowling bestätigte, dass echtes Material des siebten Buchs
im Internet zu sehen sei . Es seien aber auch „viele Schwindeleien“ darunter, sagte Neil
Blair .
Im Internet kursieren in verschiedenen Tauschbörsen Fotos, auf denen ein aufgeschlagenes Buch – vorgeblich aus der US-Ausgabe des Verlags Scholastic – in der Hand
eines Mannes zu sehen ist . Insgesamt sind 759 mehr oder weniger gut lesbare Seiten des Buches abgebildet, die eingescannt wurden . (Cosmas, Mannheimer Morgen
19 .07 .2007)
Anscheinend handelt es sich also bei der negativen epistemischen Komponente
der Bedeutung von angeblich und vorgeblich um eine konversationelle Implikatur, die meistens, doch keineswegs immer, aktiviert wird .
4 .2 . sollen + Infinitiv und wollen + Infinitiv
Der Unterschied zwischen den beiden Modalverbkonstruktionen besteht darin,
dass der zitierte Sprecher bei wollen immer, bei sollen dagegen nie mit dem
Subjektaktanten identisch ist . Eine negative epistemische Komponente (Zweifel an der Faktizität der mit sollen bzw . wollen modalisierten Äußerung) gehört nach Diewald (1999: 228), die sich ihrerseits u . a . auf Öhlschläger (1989)
beruft, nicht zur Bedeutung der beiden Verben, sondern kann sich allenfalls
über konversationelle Implikaturen aus der agnostischen Haltung („dem Verweis darauf, dass der aktuelle Sprecher selbst nicht die Quelle der Faktizitätsbewertung ist“) ergeben .13 Dabei ist das Vorliegen einer solchen Implikatur
bei sollen der markierte Fall, „in den allermeisten Fällen [handelt es sich um]
eine neutrale Wiedergabe zitierter Rede“ (Diewald 1999: 229; Fabricius-Hansen 2005: 535, Brinkmann 1962: 170, 369) .14 Beim reportativen wollen ist
eine solche Implikatur dagegen eher der Default-Fall: Es deutet „oft Skepsis
oder Vorbehalte an“ (Fabricius-Hansen 2005: 567) . Letnes (2008: 33) betont
dagegen, dass authentische Textsorten, anders als konstruierte Beispiele in
13 Diese agnostische Haltung ist in der Auffassung von Diewald (2004: 241) ein wesentliches
Merkmal der beiden Konstruktionen als Quotativa . Sie werden von der Autorin jedoch
nicht als reportative Mittel angesehen .
14 Zur umfangreichen Forschung zu diesem Thema, die hier aus Platzmangel nicht referiert werden kann, sei z .B . auf Berichte in Öhlschläger (1989) und Letnes (2008)
verwiesen .
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
255
Nachschlagewerken, auch Belege für die neutrale Verwendung des reportativen wollen liefern (man vergleiche sein Beispiel (32)) .
(32) Der Justiz ist Frank O. nicht als Gewalttäter bekannt, seine einzige Vorstrafe verdankt er
einer üblen Nachrede, und Herr B . will seit 22 Jahren sein Taxi fahren, ohne jemals Anlass zu Beschwerden gegeben zu haben . (Die Zeit 17/97, zit . in Letnes 2008: 33)
4 .3 . Referatskonjunktiv
Die „indirekte Redewiedergabe“ gilt als eine der beiden wichtigsten Funktionen
des markierten Modus des Deutschen, d .h . des Konjunktivs (vgl . Fabricius-Hansen
2005: 522) . Traditionellerweise zählt man ihn neben einem einleitenden Ausdruck
des Sagens (wie sagen, erzählen, berichten etc .) und subordinierenden Konjunktionen (dass, ob etc .) zu den sprachlichen Mitteln, die das Vorliegen einer indirekten Redewiedergabe signalisieren . Insbesondere wird der Konjunktivgebrauch
in desubordinierten Hauptsätzen, in denen er als einziger Redewiedergabemarker
auftritt (sog . berichtete Rede, vgl . (33)), als reportativ angesehen .
(33) Miks bestritt natürlich alles . [Von dem Bock wisse er nichts . Er habe nur Krähen schießen
wollen, und das könne unmöglich ein großes Verbrechen sein .] (zit . nach Aikhenvald
2006: 107)
In Grammatiken des Deutschen wird die Signalisierung der Indirektheit als der
„Kernbereich“ des Konjunktivs I betrachtet (vgl . Fabricius-Hansen 2005: 546) .
Zudem kann der reportativ verwendete Konjunktiv I durch den Konjunktiv II oder
die würde-Form („und zwar ohne erkennbaren oder eindeutig nachweisbaren Bedeutungsunterschied“, ebd . 529) ersetzt werden, deren sonstige Verwendungsbereiche noch ausgeprägter sind als beim Konjunktiv I . Die Grammatikalisierung
des Konjunktivs I als eines reportativen Ausdrucks ist also weiter fortgeschritten
als bei den beiden anderen Formen .
5. Korpusuntersuchung
5 .1 . Übersicht
Das Untersuchungskorpus bestand aus 6 polnischsprachigen Büchern (Belletristik und Memoiren) mit ihren jeweiligen Übersetzungen ins Deutsche (vgl .
Quellenverzeichnis) . Der Umfang der Originaltexte betrug ca . 1500 Buchseiten . Sie enthielten insgesamt 95 Belege für reportative Partikeln . Tabelle 2
zeigt die Frequenz der einzelnen Partikeln sowie ihrer Äquivalente in den deutschen Übersetzungen .
Anna Socka
256
angeblich (35)
podobno (46)
ponoć (15)
jakoby (7)
rzekomo
(9)
niby (18)
18
5
3
8
1
17
3
2
vorgeblich (1)
sollen + Infinitiv (23)
1
wollen + Infinitiv (1)
1
1
Konjunktiv
[1]*
explizit reportativer
Hauptsatz, Parenthese,
Präpositionalphrase (12)
8
epistemische Partikel (1)
[4]
4
1 [1]
1
1
Diskurspartikel (8)
1
anderes (7)
1
∅ (6)
1
7
1
2
5
2
* Die Zahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf Fälle, in denen in der deutschen Übersetzung
der Referatskonjunktiv zusätzlich zur reportativen Partikel oder sollen + Infinitiv vorkommt.
Tabelle 2
5 .2 . Deutsche Äquivalente polnischer reportativer Partikeln
5 .2 .1 . angeblich und sollen + Infinitiv
Aus der Tabelle ist ersichtlich, dass polnische reportative Partikeln am häufigsten mit
angeblich bzw . sollen + Infinitiv übersetzt werden. Dem ersteren Ausdruck wird als
Defaultfall eine skeptische epistemische Einstellung, dem letzteren eher eine agnostische zugeschrieben . Die Äquivalente der Partikel jakoby in dem Korpus bestätigen
dies nahezu ideal: die 3 Fälle, in denen durch den Kontext eine Zweifel- (und einmal
zusätzlich eine Ironie-)komponente aktiviert ist, werden mit angeblich übersetzt (vgl .
(34)), die beiden mit strikt neutralem Kontext durch sollen + Infinitiv ((vgl. 35)).
(34) […] wprost grzązłem w mule, wydającym fetor, który będzie mi się pewno już
do końca życia kojarzył z tą tak wysoko
jakoby rozwiniętą planetą, […]. (Wizja
202)
(35) Kliwianami rządził jakoby szczególny
imperatyw, ni to religijny, ni to świecki,
żądający od nich największych wyrzeczeń w imię powszechnego Ka-Undrium . (Wizja 161)
[ . . .] ich steckte in einem Schlamm, dessen Gestank mir für mein Leben lang mit diesem angeblich so hochentwickelten Planeten in Verbindung bleiben wird . (216)
Die Clivianer sollen von einem spezifischen
Imperativ beherrscht gewesen sein, den man
der religiösen wie der weltlichen Sphäre zurechnen kann und ihnen jedenfalls die größten
Entbehrungen im Namen des allgemeinen KaUndrium abverlangte . (172)
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
257
Auch die Tatsache, dass rzekomo – die Partikel, deren Bedeutung die stärkste
epistemische Komponente enthält – ausschließlich mit angeblich und vorgeblich
übersetzt wird (vgl . (36)), passt in das Bild .
(36) [ . . .] pralka ta, przeznaczona rzekomo dla
bawiących się w Indian dzieci, po prostej
przeróbce zdolna była do niszczenia
ogniem ciągłym dowolnych celów.
(Dzienniki I 68)
Dieses Modell [Waschmaschine Shotomatic]
– angeblich ein harmloser Zeitvertreib für Indianer spielende Kinder – war nach einer kleinen Veränderung in der Lage, jedes beliebige
Ziel durch Dauerfeuer zu vernichten . (409)
Etwas komplizierter ist die Lage bei podobno und ponoć . Man begegnet einerseits
Belegen, in denen ein neutrales podobno mit angeblich übersetzt wird (vgl . (37)),
andererseits auch solchen, wo – obwohl qua Ironie im Kontext eine kritische epistemische Einstellung impliziert wird – die Übersetzung mittels sollen + Infinitiv
erfolgt ((vgl . (38)) . Dies scheint für die Annahme zu sprechen, dass es sich bei den
negativen epistemischen Bedeutungsbestandteilen beider deutschen Reportativa
um konversationelle Implikaturen handelt .
(37) Podobno pająki, które długo nie upolowały żadnej ofiary, zjadają z głodu
własną pajęczynę, by po pewnym czasie
zrobić nową […]. (Wszystkie 42)
Angeblich verspeisen Spinnen, die lange nichts
gefressen haben, ihre eigenen Spinnweben, um
dann anschließend eine neue zu weben […] .
(43)
(38) Pewnie, skrachowało moc firm, taki
końcem IBM chociażby, podobno wytwarza teraz tabliczki i rysiki, ale może
to kawał. (Dzienniki II 301)
Sicher, Firmen haben massenweise Pleite gemacht, so etwa der IBM-Konzern, er soll jetzt
Schiefertafeln produzieren, aber vielleicht ist
das ein Witz . (455)
Der hohe Anteil an angeblich lässt sich aber auch dadurch erklären, dass die Bildung einer Infinitivkonstruktion mit sollen von einigen Ausdrücken unmöglich
oder zumindest unüblich ist . Sie werden im Folgenden aufgezählt .
a) Im Skopus des reportativen podobno steht ein Modalverb .
(39) – A właśnie, profesorze – wpadłem mu
w słowo – dlaczego pan może, a podobno osoby bardzo dawno zmarłe nie mogą?
(Wizja 174)
„Eben, Professor”, fiel ich ihm ins Wort,
„warum können Sie das, und Leute, die
schon sehr lange tot sind, können das angeblich nicht? (187)
b) Die Modalverbkonstruktion würde von der für die reportative Bedeutung typischen Form sollen (im Präsens) + Infinitiv Perfekt abweichen und dadurch missverständlich klingen . Beleg (40) wurde einem science-fiction-Roman mit Präteritum als Erzähltempus entnommen . Folglich müsste auch das reportative sollen
im Präteritum stehen. Es würde sich zudem mit einem Infinitiv Präsens verbinden, weil sich die Aktzeit der referierten Situation mit der vergangenen Äußerungszeit überlappt . Es hieße also Und einer sollte sogar aus dem künftigen Jahr
stammen .
258
Anna Socka
(40) Gdy odzyskałem przytomność, kajuta była
pełna ludzi. […] Jak się okazało, wszyscy
byli mną, z różnych dni, tygodni, miesięcy, a jeden podobno był nawet z przyszłego roku . (Dzienniki I 30)
Als ich das Bewusstsein wiedererlangte, war
die Kajüte voller Menschen . [ . . .] Wie es sich
herausstellte, waren alle ich, von verschiedenen Tagen, Wochen, Monaten, und einer
stammte angeblich sogar aus dem künftigen
Jahr. (29)
c) Im Skopus der Partikel steht ein adjektivisches Prädikat oder ein verbloses
Satzäquivalent (vgl . (41), (42)) . Angeblich als deutsches Pendant ermöglicht in
der Übersetzung eine ähnliche Knappheit, während sollen die Bildung eines Satzes erforderlich machen würde .
(41) […] było to ponoć bardzo istotne, zapomniane później odkrycie – że osiągnięcie
szczęścia wrychle znieczula na nie […]
(Wizja 156)
[ . . .] Das Letztere war eine angeblich sehr wesentliche, später aber in Vergessenheit geratene Entdeckung, wonach man mit erreichtem
Glück gegen dieses ertaubt [ . . .] (167)
(42) –Tak też myślałem. Ale tych skrzyń żaden „So dachte ich auch, aber diese Kisten wird
sąd panu nie przełknie. Pan wie, co w nich kein Gerichtshof schlucken . Wissen Sie, was
jest? – Podobno dzieła sztuki ... (Wizja darin ist?“ “Angeblich Kunstwerke .“ (29)
27 f .)
d) Passivinfinitive im Skopus vom reportativen sollen sind zwar nicht unmöglich
– im Korpus finden sich 2 Beispiele für sollen mit Passivinfinitiv als Äquivalent
von ponoć und jakoby (vgl . (35) oben) – wohl aber unüblich .
(43) – Podobno Heniek wyszedł znowu z wię- „Heniek ist angeblich wieder aus dem Gezienia. Widziałeś go? – zapytał ojciec. fängnis entlassen worden, hast du ihn gese(Wszystkie 137)
hen?“, wollte mein Vater wissen . (145)
Durch die aufgezählten formalen Faktoren lässt sich die Hälfte der als podobnoÄquivalente anzutreffenden angeblich-Vorkommen erklären .
5 .2 .2 . Diskurspartikeln
Beispiel (44) zeigt, dass podobno neben der Einführung eines neuen Gesprächsthemas auch auf vorhergegangene Diskursbestandteile zurückverweisen kann .
(44) – Zaraz – powiedziałem. – Mówi pan
dziwne rzeczy. Przecież pan już podobno
zbudował maszynę rozumną, czy nie tak?
Tkwi w tym zegarze . (Dzienniki II 109 f .)
„Moment”, sagte ich . „Sie erzählen seltsame
Dinge . Sie haben doch schon eine vernünftige Maschine gebaut, nicht wahr? Sie steckt in
der Uhr .“ (481)
Besonders ausgeprägt sind die Diskursfunktionen bei niby . Die Partikel markiert die Äußerung als eine nicht ganz vorbehaltlose Zustimmung (vgl . (45))
und ist besonders häufig bei (erstaunten) Ergänzungsfragen (vgl. (46); Wiemer
2006: 48) .
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
259
(45) – […] i cóż oni będą wtedy mogli zrobić
innego, niż wystosować do ciebie sprostowania? . . . – Niby tak... – rzekłem osłupiały
i skonfundowany naraz – ale bo, profesorze, tam były takie szczegóły... (Wizja 54)
„[ . . .] und was bleibt ihnen dann anderes übrig, als Gegendarstellungen auf dich loszulassen?” „Wahrhaftig“, sagte ich, verblüfft
und beschämt zugleich . „Aber hören Sie,
Professor, da waren solche Details . . .[ . . .]“
(58)
(46) – Nie będę przed panem udawała – odpar- „Ich werde vor Ihnen nicht so tun als ob“,
ła spokojnie. – Możemy to załatwić.
entgegnete sie ruhig . „Wir können das erle– Niby co możemy załatwić, moja śliczna? digen .“
– spytał Bronek Blutman. (Początek 77)
„Was können wir denn erledigen, meine Hübsche?“ fragte Bronek Blutman . (30)
5 .2 .3 . Referatskonjunktiv
Die Partikeln in meinem Korpus werden so gut wie nie mit dem Referatskonjunktiv alleine übersetzt .15 Bei dem einzigen Beleg, den ich als solchen
klassifiziert habe ((47)), wird mit einem subjunktorlosen Konjunktivsatz ein
polnischer Nebensatz übersetzt, der die Subjunktion że ‘dass’ und die Partikel niby enthält . In 4 Fällen tritt der Konjunktiv jedoch zusätzlich zum lexikalischen Reportativ auf, mit dem rzekomo übersetzt wurde ((48)) . In zwei
weiteren Fällen wird eine Partikel (podobno resp . niby) mit einer expliziten
Redeeinleitung wiedergegeben, auf die ein Komplementsatz im Konjunktiv
I folgt ((49)) .
(47) Podobieństwo to ma uspokajać umysły,
że niby tylko niewidzialne wnętrze zostanie udoskonalone, powierzchowność natomiast wcale się nie zmieni. (Wizja 142)
Die Ähnlichkeit soll die Gemüter beschwichtigen, das Äußere sei ja ganz unverändert,
vervollkommnet aber das ohnehin unsichtbare Innere! (151)
(48) Corcoran był, według niego, solipsystą
– wierzył tylko we własne istnienie,
wszystkich innych miał za fantomy, senne
widziadła, i rzekomo dlatego tak sobie
dawniej poczynał nawet z najbliższymi:
[…] (Dzienniki II 11)
Nach Savinellis Auffassung war Corcoran
ein Solipsist – er glaubte nur an die eigene
Existenz, alles anderen hielt er für Phantome, Traumvisionen; angeblich sei er früher
sogar mit seinen Nächsten so umgesprungen:
[ . . .] (358)
(49) Zanim ojciec skontaktował się telefonicznie z Radwańskim, minęły trzy tygodnie.
Podobno próbował wcześniej wiele razy,
jednak nikogo nie zastawał. (Wszystkie
112)
Bis mein Vater nun mit Herrn Radwanski
Kontakt aufnahm, vergingen drei Wochen .
Er sagte, er habe es öfters mal versucht, leider ohne Erfolg . (119)
15 Im Polnischen existiert eine mit der Partikel jakoby homonyme Subjunktion . Von 20 im Korpus enthaltenen Komplementsätzen mit dieser Subjunktion wurden 14 als subjunktionslose
Komplementsätze im Konjunktiv übersetzt (vgl .: Prasa podawała, jakoby Tichy posługiwał
się czyjąś pomocą, a nawet, jakoby nie istniał […] (Dzienniki 8); Die Presse berichtete, Tichy
habe sich jemandes Hilfe bedient, ja er habe nicht einmal existiert [ . . .] (8)) .
260
Anna Socka
5 .2 .4 . Sonstiges
Charakteristisch für podobno und ponoć ist ferner die Übersetzung mit expliziten
Hören-Sagen-Phrasen wie wie es heißt, wie man hört, dem Vernehmen nach . Die
polyseme Partikel niby wurde dagegen in 5 ambigen Fällen in der Bedeutung ‘nur
dem Schein nach’ aufgefasst und dementsprechend mit scheinbar (vgl . (50)) bzw .
einem irrealen Vergleichssatz übersetzt (vgl . (51)) .
(50) Zastanawiałem się, co sądzić o moich
Luzanach, którzy mieli Człaków niby
to w pogardzie, a chcieli siedzieć z nimi
w tych kloacznych jaskiniach […] (Wizja
305)
(51) Odniosłem wrażenie, że brał moje rzeczywiste nazwisko za określenie mego
charakteru (niby że ścichapęk albo cicha
woda) . (Wizja 209)
[ . . .] in Überlegungen versunken, was von
meinen Losanniern zu halten sei, da sie die
Manschen scheinbar so verachteten, dennoch mit ihnen in diesen Kloaken sitzen
wollten […] (326)
Tichy, meinen richtigen Namen, hielt er offenbar für eine Bezeichnung meines Charakters (als wäre ich ein heimlicher Schelm
oder ein stilles Wasser) . (223)
5 .3 . Partikeln und mieć + Infinitiv
Nach Szymanski (1990: 163) kookkurriert die Konstruktion mieć + Infinitiv oft
mit reportativen Partikeln wie rzekomo, jakoby, ponoć . Dies konnte anhand des
Korpus nicht bestätigt werden: Nur 2 Belege (beide für jakoby) enthielten eindeutig reportatives mieć + Infinitiv im selben Satz. In beiden Fällen kommen im
Kontext explizite Aussagen zur Glaubwürdigkeit der referierten Informationen,
die von stark distanzierter bzw . eindeutig skeptischer Einstellung zeugen . Das Zusammenspiel der Partikelbedeutungen mit derjenigen von mieć + Infinitiv muss
im Rahmen einer getrennten Untersuchung erforscht werden .
(52) Spektroskopowa i chromatograficzna analiza pyłu, w jaki miały się jakoby obrócić
podarunki, wykryła pierwiastki właściwe
dla wszelkiego rodzaju zmiotków, śmieci
itp . (Wizja 78)
Die spektroskopische und chromatographische Analyse des Pulvers, in das sich die Geschenke verwandelt haben sollten, erbrachte
Bestandteile, wie sie in jedwedem Kehricht
und Müll zu finden sind. (83)
6. Abschließende Bemerkungen
Aus den Daten geht klar hervor, dass – was die Reportativität angeht – Polnisch
eine Partikelsprache, Deutsch dagegen eine Modalverbsprache ist . Im Korpus
dieses Aufsatzes entfallen 95 Partikelbelege auf 20 Modalverbbelege . In einem
ähnlich zusammengesetzten deutschsprachigen Korpus von vergleichbarer Größe
war es fast genau umgekehrt: 93 Modalverbbelege und 16 Partikelbelege (vgl .
Socka 2009) .
Reportative Partikeln in kontrastiver Sicht (Polnisch – Deutsch)
261
Die Berücksichtigung des deutschen reportativen Konjunktivs verändert das Bild
nur unwesentlich: Er ist so gut wie nie das alleinige Übersetzungsäquivalent der
polnischen Partikeln (und in nur 10% das des polnischen reportativen mieć) . Andererseits entfallen in den in Socka (2009) analysierten polnischen Übersetzungen
deutschsprachiger Texte nur 15% der reportativen Partikeln auf Äquivalente des
reportativen Konjunktivs . Die polnischen Reportativa und der deutsche Referatskonjunktiv kommen also offensichtlich nicht in den gleichen Kontexten vor . Die
naheliegende Hypothese, dass die relative Armut des Deutschen an lexikalischen
Reportativa durch den Referatskonjunktiv ausgeglichen wird, lässt sich also anhand der Datenlage nicht erhärten .
Die Semantik und Pragmatik der reportativen Ausdrücke in beiden Sprachen
ist noch alles andere als zufriedenstellend beschrieben . Auf jeden Fall erfordert
die adäquate Bedeutungsbeschreibung eine vertiefte methodologische Reflexion
zur Unterscheidung von lexikalischer Bedeutung einerseits und dem Beitrag des
Kontexts andererseits .
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Band
2 Monika Bielińska: Verben des Sterbens und des Tötens. Eine semantische Untersuchung.
2002.
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3 Wioletta Knütel: Verlorene Heimat als literarische Provinz. Stolp und seine pommersche
Umgebung in der deutschen Literatur nach 1945. 2002.
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5 Eliza Pieciul: Literarische Personennamen in deutsch-polnischer Translation. Eine kontrastive Studie aufgrund von ausgewählten Prosawerken von Thomas Mann. 2003.
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aus kontrastiver Sicht. 2003.
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9 Barbara Komenda: Sekundäre Bedeutungen von Nationalitäts- und Länderbezeichnungen
im Deutschen und Polnischen. Unter besonderer Berücksichtigung der semantischen Gebrauchstheorie. 2003.
Band 10 Marek Cieszkowski / Monika Szczepaniak (Hrsg.): Texte im Wandel der Zeit. Beiträge zur
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Band 21 Aleksandra Łyp-Bielecka. Verben der Nahrungsaufnahme des Deutschen und des P olnischen. Eine semanto-syntaktische Vergleichsanalyse. 2007.
Band 22 Janusz Pociask: Zu Status und Funktion der idiomatischen Einheit in Pressetexten. Dargestellt an Textbeispielen aus der Neuen Zürcher Zeitung. 2007.
Band 23 Ryszard Lipczuk: Geschichte und Gegenwart des Fremdwortpurismus in Deutschland und
Polen. 2007.
Band 24 Ilona Kromp: Eigennamen in der deutschen und polnischen Kinderliteratur unter textlinguistischem und translatorischem Aspekt. 2008.
Band 25 Peter Oliver Loew: Das literarische Danzig – 1793 bis 1945. Bausteine für eine lokale Kulturgeschichte. 2009.
Band 26 Hans-Jörg Schwenk: Die Semantik der Imperfektiv-Perfektiv-Opposition im Polnischen und
ihr Niederschlag in polnisch-deutschen Wörterbüchern. Versuch einer aspektologisch-aspektographischen Neuorientierung. 2009.
Band 27 Robert Rduch: Unbehaustheit und Heimat. Das literarische Werk von Arnold Ulitz
(1888–1971). 2009.
Band 28 Marta Turska: Internationalismen in der Fachsprache der Gastronomie und Kochkunst im
fünfsprachigen Vergleich. 2009.
Band 29 Paweł Bąk / Małgorzata Sieradzka / Zdzisław Wawrzyniak (Hrsg.): Texte und Translation.
2010.
Band 30 Andrzej Kątny / Anna S ocka (Hrsg.): Modalität / Temporalität in kontrastiver und typologischer Sicht. 2010.
Band 31 Lech Zieliński: Ideologie und Lexikographie. Die Ideologisierung des Wörterbuchs der
deutschen Gegenwartssprache von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. 2010.
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