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NYDAM MOSE 4 Ronald Bockius Zur kultur- und technikgeschichtlichen Stellung der Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor (mit einem Beitrag von Rainer Grabert) PDF-Dokument des gedruckten Beitrags II III Jernalderen i Nordeuropa NYDAM MOS E 4 Die Schiffe B E I T R ÄG E Z U F O R M , T E C H N I K U N D H I S T O R I E von Flemming Rieck und Ole Magnus (†) Morten Gøthche Ronald Bockius und Rainer Grabert Ronja Mücke und Andreas Rau Angelika Abegg-Wigg Carlsbergfondet, Nationalmuseet und Moesgård Museum Herausgegeben von Andreas Rau Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie, Schleswig in Verbindung mit Jysk Arkæologisk Selskab IV Nydam Mose Band 4 Herausgegeben von Andreas Rau © 2013 Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie Übersetzungen aus dem Dänischen: Frauke Witte (Beitrag F. Rieck), Andreas Rau (Beiträge M. Gøthche und F. Rieck) und Anton Englert (Beitrag M. Gøthche) Gesamtredaktion: Joachim von Freeden und Andreas Rau Titelbild: Seitenruder FNr. 3030 (Nydam Mose Band 3 S. 178 Taf. 79) Rückseite: Männerkopf (Ausschnitt) am Pfosten FNr. 13723 (Nydam Mose Band 3 S. 147 Taf. 39) Schrift: Palatino Linotype · Frutiger Next Papier: 150 g Hello Silk Satz: www.wisa-print.de Druck und Binden: druckhaus köthen GmbH, D 06366 Köthen Jysk Arkæologisk Selskabs Skrifter 72,4 ISBN 978-87-88415-77-3 ISSN 0107-2854 Projektvorstand von „Jernalderen i Nordeuropa“ Claus von Carnap-Bornheim, Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen Schloss Gottorf Jan Skamby Madsen, Moesgård Museum Per Kristian Madsen (Vorsitzender), Nationalmuseet Vertrieb Aarhus Universitetsforlag Langelandsgade 177 DK 8200 Århus N und Verein zur Förderung des Archäologischen Landesmuseums Schloss Gotorf e. V. Schloss Gotorf D 24837 Schleswig V I N H A LT VII 1 Andreas Rau 150 Jahre Faszination Nydamschiff 1863 – 2013 Flemming Rieck Funde von Schiffen und Schiffsteilen aus dem Nydam-Moor 1859 – 2011 147 Morten Gøthche Die Rumpfform des großen Eichenholzschiffes Nydam B 215 Ronald Bockius Zur kultur- und technikgeschichtlichen Stellung der Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor (mit einem Beitrag von Rainer Grabert) 301 Ronja Mücke und Andreas Rau Schiffsteile aus der Flensburger Sammlung – Ausgewähltes Altfundmaterial aus dem Nydam-Moor im Archäologischen Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig 321 Angelika Abegg-Wigg Das Nydamboot als Schiffsmodell – Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte des großen Eichenholzschiffes 343 Literatur 357 Konkordanz der Fundnummern 373 Fundortregister 377 Bildnachweis Beilagen 1 – 8 VI VII 150 JAH RE FA SZ I NAT ION NYDAM SCH I F F 1863 – 2013 Schiffe faszinieren – als Mittel, mit dem der Mensch einen ihm nicht eigenen Naturraum bewältigt, als Zeugnisse von Handwerksfertigkeiten, als Symbol für Abfahrt und Ankunft sowie als Ausdruck von Macht und Prestige. Archäologische Schiffsfunde spiegeln in all diesen Aspekten die Weltsicht ihrer Konstrukteure und Benutzer wider, deren Verhältnis zum Wasser und zur See, aber vor allem deren Drang zur Mobilität. Wie sonst nur rekonstruierte Gebäude vorgeschichtlicher Epochen vermitteln gut erhaltene Schiffswracks soziale Dimensionen, die der Betrachter nachzuempfinden vermag (ein wenig Phantasie und Einfühlungsvermögen vorausgesetzt). Denn Schiffe können bis heute das „Rahmenwerk“ einer in sich gegliederten und miteinander verwobenen Gemeinschaft versinnbildlichen – dies vor allem dann, wenn es sich um Fahrzeuge handelt, die über größere Distanzen und längere Zeiträume hinweg eingesetzt wurden und so Zusammenhalt und Zusammenspiel einer ganzen Mannschaft erforderten, wie es bei dem für etwa dreißig Personen ausgelegten Kriegsschiff, dem großen Eichenholzschiff aus dem Nydam-Moor, der Fall war. In diesem Sinne üben die kaiserzeitlichen Schiffe aus dem Nydam-Moor, vor allem aber das hervorragend erhaltene große Eichenholzschiff – „das Nydamschiff“ –, auch 150 Jahre nach ihrer Entdeckung im südjütländischen Opferplatz nach wie vor eine besondere Anziehungskraft nicht nur auf Seefahrtsbegeisterte aus. Kaum eine breit angelegte Darstellung über „die Germanen“, über vorgeschichtliche Schifffahrt oder über die Archäologie Skandinaviens kommt ohne das Nydamschiff aus. Als großformatiges archäologisches Objekt von nahezu 23 m Länge imponiert das Nydamschiff im Museum dem Betrachter allein dadurch, dass seine Dimension, seine Gestalt und seine baulichen Details kaum ohne zahlreiche Wechsel des Blickwinkels zu erfassen sind. „I Gravens Midte stödte vi paa Midtdelen af den store Robaad af Egetræ“ (In der Mitte des Grabens stießen wir auf den Mittelteil des großen Ruderbootes aus Eichenholz). So lautet Conrad Engelhardts nüchterner Schlusssatz in den Flensburger Protokollen zum 17. August 1863. Erst am Folgetag wurde Engelhardt während der Freilegungsarbeiten die Größenordnung seiner Entdeckung vollständig bewusst, weshalb er wohl später erst den 18. August 1863 als Ausgrabungsdatum des Schiffes bezeichnete. Nahezu genau 150 Jahre danach, am 18. April 2013, wurde aus Anlass des Jubiläums eine temporäre Neugestaltung der Ausstellung in der Nydamhalle auf Schloss Gottorf in Schleswig eröffnet. In diese vom Archäologischen Landesmuseum und dem Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie gemeinsam gestaltete und in enger Zusammenarbeit mit dem Museum Sønderjylland – Arkæologi Haderslev erarbeitete zweisprachige Sonderausstellung „Das Nydamboot – versenkt – entdeckt – erforscht · Nydambåden – nedsænket – fundet – udforsket“ sind auch zahlreiche Ergebnisse und offene Diskussionen aus der Vorbereitungszeit der vorliegenden Publikation eingeflossen. Erstmalig wurde die Ausstellung des Schiffes auch von der Darstellung eines bedeutenden Teils der Rezeptionsgeschichte begleitet: vom 1864 einsetzenden deutsch-dänischen Tauziehen um die nationale Beanspruchung des Fundes über die Verwendung des Nydamschiffes als Germanensymbol in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bis hin zur (in der Retrospektive fragwürdigen) Verwendung des Nydamer Ruderschiffes als Emblem für die größte Segelsportveranstaltung der Welt, der Kieler Woche, im Jahr 1950. VIII 150 Jahre Faszination Nydamschiff 1863 – 2013 Am Nachmittag des 17. August 2013, auf den Tag genau 150 Jahre nach Engelhardts erster Erwähnung, wurde die originalgroße Replik des großen Eichenholzschiffes in Sottrupskov bei Sønderborg, nur wenige Kilometer vom Fundort entfernt, vor den Augen von etwa 5000 Besuchern vom dänischen Prinzen Joachim und seiner Gattin Marie auf den Namen „Nydam Tveir“ getauft und in das Wasser des Alsensundes gelassen. Zur gleichen Zeit gab die Deutsche Post in der Gottorfer Nydamhalle sowohl einen Sonderstempel als auch eine Sondermarke mit dem Nydamschiff heraus, die binnen weniger Stunden restlos ausverkauft waren. Darüber hinaus brachte National Geographic im Mai 2013 einen mehrseitigen deutschsprachigen Beitrag über das Nydamschiff, der im Jubiläumsmonat August in allen skandinavischen Ausgaben des Magazins abgedruckt wurde. Sowohl in Skandinavien als auch in Mitteleuropa und weit darüber hinaus ist die Begeisterung für die Schiffe aus dem Nydam-Moor ungebrochen. Solange Conrad Engelhardts 1865 prophetisch anmutende Einschätzung „Sie sind einzigartig und werden dies wohl für eine lange Zeit bleiben“ weiterhin Bestand hat, sind und bleiben die Schiffe ein primäres Studienobjekt zur frühgeschichtlichen Schifffahrt und archäologische Schauobjekte allerersten Ranges. Über dieses Buch Dass die Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor genau 150 Jahre nach der Entdeckung des großen Eichenholzschiffes eine neue Bearbeitung erfahren, ist jedoch nicht allein durch das besondere Jubiläum gerechtfertigt: So liegt die letzte monografische (und kritisch rezipierte) Abhandlung der Nydamschiffe durch Harald Åkerlund ein halbes Jahrhundert zurück. Auch der Zuwachs an Neufunden durch die Grabungen des Nationalmuseums im Nydam-Moor von 1989 – 1999 ist so enorm – man vergleiche dazu Band 3 der Reihe Nydam Mose –, dass sich teilweise gänzlich neue Denkansätze zu Konstruktion und Handhabung der Nydamschiffe eröffnen. Nach Abschluss der groß angelegten Ausgrabungen im Nydam-Moor im Jahr 1999 folgten zunächst lange Jahre, während der die Hölzer konserviert und die Grabung aufbereitet wurden. Erst nach Abschluss der Konservierung von vielen Tausend Einzelobjekten ließen sich die Neufunde von Schiffsteilen vermessen, vergleichen, zusammenfügen, Holzbestimmungen vornehmen und genauere funktionale Überlegungen anstellen. Das Ergebnis dieses von Flemming Rieck durchgeführten ersten Auswertungsprozesses ist in Band 3 der Reihe Nydam Mose vorgelegt. Weiterführende Überlegungen zu den Schiffsfunden aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Schwerpunkten finden sich nun im vorliegenden Band 4, der gleichzeitig mit Band 3 erscheint. Dass eine solche Neubewertung der Nydamschiffe nicht im Alleingang zu bewältigen war, wurde bei den vorbereitenden Gesprächen zur Publikation dieses Fundstoffes schnell klar. Zu sehr haben sich die Forschungsergebnisse zur maritimen Archäologie im nördlichen sowie im westlichen und südlichen Europa weiterentwickelt, zu groß war das Material der Neufunde, zu umfangreich auch die Erkenntnisse, die im Jahr 1995 bei der letzten detaillierten Vermessung des großen Eichenholzschiffes auf Schloss Gottorf gewonnen worden waren. Als im Verlauf des Projektes „Jernalderen i Nordeuropa“ das Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie in Schleswig die Verpflichtung für die Publikation der Neufunde aus dem Nydam-Moor übernahm, wurde rasch deutlich, dass sowohl eine Vorstellung und Diskussion 150 Jahre Faszination Nydamschiff 1863 – 2013 IX Am Jubiläumstag, dem 17. August 2013, wurde „Nydam Tveir“ am Alsensund zu Wasser gelassen. Zuvor war das Schiff durch Ihre Königliche Hoheit Prinzessin Marie von Dänemark getauft worden. Ihr Gatte, Seine Königliche Hoheit Prinz Joachim, hat als Schirmherr der Nydamselskab den Nachbau des großen Eichenholzschiffes Nydam B über Jahre hinweg begleitet (vgl. S. 200 f. mit Abb. 47). der neuen Holzelemente von Schiffen, eine Neubewertung des auf Schloss Gottorf ausgestellten Schiffes Nydam B, aber auch ein Vergleich der germanischen Schiffbautradition mit der der mediterranen Welt in eine Neubearbeitung einfließen sollten. Wie aus der Literatur des vorliegenden Bandes zu ersehen ist, hat sich Flemming Rieck als Ausgrabungsleiter der Kampagnen von 1989 – 1999 mehr als zwanzig Jahre intensiv mit den alten und neuen Funden von Schiffen und Schiffsteilen aus dem Nydam-Moor beschäftigt. Sein Beitrag stellt eine Zusammenführung der diversen einzeln und teilweise bereits entlegen publizierten Aspekte dar, die sich vor allem aus dem Studium der modern ausgegrabenen Elemente der drei großen Ruderfahrzeuge aus dem Nydam-Moor ergeben. Bei der Lektüre des Beitrags von Flemming Rieck bietet es sich an, sowohl die Abbildungen der Funde auf den Tafeln in Nydam Mose Band 3 als auch die dort im Maßstab 1 : 20 und 1 : 50 abgedruckten Pläne heranzuziehen, um die partiell doch sehr komplexen und auf den ersten Blick „mikadoartig“ verschachtelten Fundverhältnisse besser nachvollziehen zu können. Zur einfacheren Handhabung beider Bände ist die im vorliegenden Band enthaltene Konkordanz (S. 357 ff.) vorgesehen. Morten Gøthche konnte für einen Beitrag gewonnen werden, der auf seiner zusammen mit Christian Lemée bereits 1995 durchgeführten Neuvermessung des großen Eichenholzschiffes beruht, aber auch zahlreiche weiterführende Überlegungen und schiffbautechnische Vergleiche mit anderen eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Schiffsfunden enthält. Seine Ergebnisse zu den ursprünglichen Dimensionen und der Gestalt des Nydamschiffes sind überdies eingeflossen in den bereits erwähnten, von Nydambådens Laug (Gilde des Nydambootes) in knapp 19 000 Arbeitsstunden angefertigten Nachbau „Nydam Tveir“. Wie auch von Morten Gøthche eingehend diskutiert wird, gelten die Nydamschiffe als ein wesentliches Element in der großen Entwicklungslinie vom Stammboot über das genähte, gepad- X 150 Jahre Faszination Nydamschiff 1863 – 2013 delte Plankenboot bzw. das klinkergebaute Ruderschiff bis hin zu den gesegelten Schiffen nordischer Bauweise. Sie werden vor allem seit der 1886 vorgelegten Abhandlung von N. E. Tuxén als älteste Zeugnisse nordischer Klinkerbauweise betrachtet. Allerdings kann Ronald Bockius in seinem Beitrag zeigen, dass die in den drei Schiffen Nydam A, B und C wiederzufindenden technischen Lösungen und Ausrüstungsdetails ohne Kenntnisse gleichzeitiger oder vorausgehender griechisch-römischer und vor allem provinzialrömischer Bautraditionen bzw. Schiffsbestandteile nicht erklärbar sind. Im Rahmen der Forschungen zum Beitrag von Ronald Bockius konnte ein Schlepptankversuch eines Modells von Nydam B im Maßstab 1 : 5 in der Schiffbau-Versuchsanstalt Potsdam durchgeführt werden, dessen Ergebnisse von Rainer Grabert vorgelegt werden. Sowohl die Vorbereitung zur neuen Ausstellung des Nydamschiffes ab April 2013 als auch die intensiven Diskussionen zwischen Flemming Rieck und dem Verfasser zur funktionalen Einordnung einzelner Elemente der Schiffe aus dem Nydam-Moor führten zu einer Durchsicht des im Magazin des Archäologischen Landesmuseums Schloss Gottorf in Schleswig vorhandenen Holzmaterials aus den Engelhardtschen Grabungen. Eine knappe Zusammenfassung dieser Sichtung findet sich in dem Beitrag von Ronja Mücke und dem Verfasser. Die Bedeutung des Nydamschiffes als großformatiges, plastisches und mit „Leben“ zu erfüllendes archäologisches Relikt spiegelt sich in der Vielzahl von Illustrationen des 19. und 20. Jahrhunderts, in denen das Schiff – einmal historisch möglichst präzise, ein andermal sehr frei – in Verwendung gezeigt wird (vgl. das Frontispiz des Beitrags von Flemming Rieck). Darüber hinaus ist die Bedeutung des großen Eichenholzschiffes aber gleichermaßen an einer Vielzahl von Modellen des Schiffes zu messen, die europaweit in den verschiedensten Museen zur Archäologie und zur Schifffahrtshistorie aufbewahrt und ausgestellt werden. Angelika Abegg-Wiggs Beitrag ist die erste Zusammenstellung der ihr bekannt gewordenen Modelle des Schiffes. In der großen Zahl der Modelle ist aber nicht nur die hohe Geltung des Fundes reflektiert, sondern es zeigt sich auch, welche Detailfragen, etwa zur Ruderaufhängung oder zur Anzahl der Riemendollenpaare, bei den Modellbauern im Blickpunkt standen. Ein besonderes Augenmerk ist auf den von Angelika Abegg-Wigg im Archivbestand des Archäologischen Landesmuseums der Schleswig-Holsteinischen Landesmuseen „wiederentdeckten“ Plan zu richten, der eine 1877 angefertigte Durchzeichnung einer Vermessung des Schiffes von 1871 wiedergibt. Er ist in diesem Band als Beilage 8 abgedruckt. Nach der von Conrad Engelhardt 1865 publizierten Halblängenzeichnung des Nydamschiffes ist dieser Plan der einzige bislang bekannt gewordene Detailplan (inkl. Spanten-, Senten- und Wasserlinienriss), der im Zeitraum der Erstmontage des Schiffes (1863 – 1877) erstellt worden ist. Gewiss wäre eine Erweiterung der im vorliegenden Buch abgehandelten Thematik ausgehend von den eigentlichen Schiffsfunden wünschenswert gewesen. Von diesen nämlich führt der Weg hin zu bekannten kaiser- und völkerwanderungszeitlichen Schiffslandeplätzen, zu Schiffshäusern, zu Orten, an denen Klinkernägel und Werkzeuge Schiffbau und -reparaturen anzeigen, zu Transport- und Schifffahrtsrouten sowie auch zur Frage des kaiserzeitlichen Warentransports. Es würden sich gleichermaßen Überlegungen zur sozialen und machtpolitischen Organisation von frühgeschichtlicher Schifffahrt im Bereich von Nord- und Ostsee anschließen lassen. Diese Themen ausführlich zu berücksichtigen hätte aber den Umfang des Bandes deutlich gesprengt. Somit bleibt künftigen Forschungen weiterhin breiter Raum für eine Diskussion der im Folgenden bereitgestellten Grundlagen. Ebenfalls nicht tiefergehend thematisiert werden überdies die Beziehungen zwischen Schiffsfunden und dem übrigen Material aus dem Nydam-Moor, vorwiegend Waffen und persönliche Ausrüstungen. Denn hier bleibt die Bearbeitung der Waffenfunde abzuwarten, wenngleich die absoluten Datierungsansätze der Schiffe und ihr Verhältnis zueinander bereits im Beitrag von Flemming Rieck in diesem Buch kurz diskutiert werden. Dass das Kiefernholzschiff Nydam C einer früheren Opferung als das große Eichenholzschiff Nydam B entstammt, wie es noch in jüngeren Publikationen vertreten wurde, lässt sich demnach nicht mehr aufrecht erhalten. 150 Jahre Faszination Nydamschiff 1863 – 2013 XI Alles in allem können und wollen die Bände Nydam Mose 3 und 4 nicht den Anspruch erheben, einen Endpunkt in der Diskussion der Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor zu setzen. Vielmehr mögen sie als Ausgangspunkt und gleichermaßen als Anregung betrachtet werden, die Diskussion zu Schiffbau, Schifffahrt, Mobilität und gesellschaftlicher Organisation der an die See gebundenen frühgeschichtlichen Gemeinschaften im Bereich von Nord- und Ostsee zu beleben. Bei der Redaktion wurde darauf verzichtet, die unterschiedlichen Diktionen der Autoren und die damit verknüpften schiffbautechnischen und nautischen Begriffe zu nivellieren. Dies ergibt sich schon allein daraus, dass Inkongruenzen zwischen deutscher und dänischer Schiffbauterminologie auszumachen sind, die aufgrund unterschiedlicher Schiffbautraditionen historisch gewachsen sind. Aus Gründen des Leseflusses wurden allerdings die in den Text eingebetteten Zitate aus den skandinavischen Sprachen, vor allem aus den Engelhardtschen Aufzeichnungen und Publikationen, aber auch aus der Nydam-Monografie Åkerlunds, so originalgetreu wie möglich übersetzt. Wenngleich es gelegentlich ein Vergnügen ist Engelhardts Arbeiten, insbesondere seine Beschreibungen in den Flensburger Protokollen, im Originaltext zu lesen, so schien es doch zuträglicher, auch diese Stellen in modernes Deutsch zu übertragen. Danksagungen Neben den Autoren gilt es zahlreichen Personen und Institutionen zu danken, die unmittelbar oder mittelbar zur Fertigstellung des Buches beigetragen haben. Frauke Witte, Haderslev, und Anton Englert, Roskilde, übersetzten Teile der dänischen Originalmanuskripte bzw. korrigierten diese. Laura Buch, Kiel, und Karin Göbel, Schleswig, waren bei der Erstellung von Grafiken für die Beiträge von Flemming Rieck sowie von Ronja Mücke und dem Verfasser behilflich. Dem Dänischen Nationalmuseum, insbesondere dem Museumsdirektor Per Kristian Madsen, ist für die Unterstützung und die vertrauensvolle Übergabe des Publikationsprojektes in die Hände des Unterzeichnenden am ZBSA in Schleswig zu danken. Die Herstellung und der Druck des Buches konnte mit Mitteln aus dem vom Carlsbergfond finanzierten Projekt „Jernalderen i Nordeuropa“ finanziert werden. Joachim von Freeden, wisa-print Frankfurt am Main, war auch bei der Erstellung dieser Publikation wieder „mit an Bord“, und dank seiner Erfahrung und seinem Rat konnten zahlreiche inhaltliche und gestalterische Klippen umschifft werden. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Dem Projektvorstand von „Jernalderen i Nordeuropa“, Claus von Carnap-Bornheim, Schleswig, Jan Skamby Madsen, Moesgård, und Per Kristian Madsen, København, aber auch Jørgen Ilkjær und Jesper Laursen, beide Moesgård, ist erneut für ihr uneingeschränktes Vertrauen in dieses Buchprojekt zu danken. Dank gilt aber ebenso den Kollegen vom Museum Sønderjylland – Arkæologi Haderslev, die nicht nur großes Interesse am Fortschreiten der Publikationsreihe zeigten und zeigen, sondern mit denen in kollegialer und freundschaftlicher Atmosphäre auch eine Testuntersuchung in Nydam Mose im Jahr 2011 durchgeführt wurde. Ebenfalls großes Interesse wurde der Publikation der Bände Nydam Mose 3 und 4 von Seiten der Selskab for Nydamforskning, insbesondere Nydambådens Laug, entgegengebracht. Stellvertretend sei – im Namen aller Autoren – Vincent Jessen, Sydals, für die fruchtbaren Diskussionen und die gastfreundschaftliche Atmosphäre bei unzähligen Besuchen am Nachbau des Nydamschiffes gedankt. Schleswig, im September 2013 Andreas Rau XII 215 Ronald Bockius Zur kultur- und technikgeschichtlichen Stellung der Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor Mit einem Beitrag von Rainer Grabert 216 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Schiffe zwischen Römern und Barbaren. Römische Legionäre überqueren die Donau über eine Schiffsbrücke zur Offensive gegen die Markomannen im Jahr 172 n. Chr. Rom, Marcussäule 217 INHALT E I N L E I T U N G . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 ÜB E R L I E F E R U N G , E R H A LT U N G U N D V E R G L E I C H S M AT E R I A L . . . . . . . . . . 223 B A U - U N D A U S S TAT T U N G S T E C H N I S C H E R E K O N S T R U K T I O N . . . . . . . . . . 229 S C H I F F S T E C H N I S C H E B E W E R T U N G U N D S C H L E P P TA N K T E S T S . . . . . . . . . 233 Schiffstechnische Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Schlepptanktest in der Schiffbau-Versuchsanstalt Postdam (Rainer Grabert) . . . . . . . . . 244 M E R K M A L E „N O R D I S C H E R Prähistorische Wurzeln. . . . Kiele . . . . . . . . . . . . Duchten . . . . . . . . . . Keipen . . . . . . . . . . . Verzurrung . . . . . . . . . Nähtechnik . . . . . . . . . Klinkertechnik . . . . . . . S C H I F F BA U T R A D I T I O N “ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . M E R K M A L E P R O V I N Z I A L R ÖM I S C H E N Klinkertechnik . . . . . . . . . . . . . Abdichtungsverfahren . . . . . . . . . . Kiel-Steven-Schäftung . . . . . . . . . . Rigide Spanten . . . . . . . . . . . . . Holznägel . . . . . . . . . . . . . . . Massives Dollbord . . . . . . . . . . . . Beflurung . . . . . . . . . . . . . . . Seitenruder . . . . . . . . . . . . . . . Sonstiges . . . . . . . . . . . . . . . . Anker . . . . . . . . . . . . . . . . . SCHIFFBAUS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 253 256 257 258 260 260 260 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 264 269 271 273 275 276 278 279 281 283 V O R R ÖM I S C H E S C H I F F FA H R T I M N O R D -O S T S E E -R A U M . . . . . . . . . . . . . . 285 Historische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Riemenantrieb im westlichen Ostseegebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Z U R R E Z E P T I O N N O R D I S C H E N S C H I F F BA U S I N D E R R ÖM I S C H E N W E LT D I E N Y D A M -B O O T E – T E C H N I K G E S C H I C H T L I C H E „Fellboot“-Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . Alteuropäischer Holzbau . . . . . . . . . . . . . . . Stammboot-Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . Mediterrane und provinzialrömische Bautradition . . . . HYBRIDE? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 297 297 297 298 218 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde EINLEITUNG Das Verständnis der Schiffsfunde aus dem NydamMoor als frühe Zeugen eines im nördlichen Europa verankerten Fahrzeugbaus kündigt sich bereits beim Ausgräber Conrad Engelhardt an, der auf vendel- und wikingerzeitliche Grabfunde mit den Resten geklinkerter Rümpfe verweist (Engelhardt 1865, 12 – 15). Überdies fielen ihm schiffbauliche Gemeinsamkeiten mit den Nordland-Booten im Westen Norwegens auf (Engelhardt 1866b, 32 f.)1. Jene Sichtweise verdichtete sich nach der Aufdeckung norwegischer Schiffsgräber des 9. Jahrhunderts, als bauliche Übereinstimmungen – neben der Klinkertechnik das Verzurren der Außenhaut mit den Spanten durch perforierte Knaggen – der Wikingerfahrzeuge von Tune und Gokstad mit den Nydam-Booten wahrgenommen wurden (Tuxen 1886, 63 – 65). War dieses Urteil ganz auf den Vergleich mit konstruktiven Merkmalen um Jahrhunderte jüngerer Schiffe gestützt, bestätigte der 1921/1922 ausgegrabene Bootsfund des 4. Jahrhunderts v. Chr. von Hjortspring auf Als mit seiner mittels Zurrklampen an ausspreizenden Querrahmen verlaschten Außenhaut (Rosenberg 1937) die technikgeschichtliche Einbindung von Nydam in einen „nordischen“ Kreis vor- und frühgeschichtlichen Schiffbaus, und es tauchen nun auch Begriffe wie „Tradition“ und „Kontinuität der Entwicklung“ auf (Shetelig 1930, 23 – 27 bes. 25). Das aus Lindenholz genähte, von Gustav Rosenberg und anderen strictu sensu unzutreffend als geklinkert bezeichnete Hjortspring-Boot (Rosenberg 1937, 109; Hornell 1946, 196; 200) ließ sich aufgrund seiner charakteristischen Silhouette zudem mit Bootsdarstellungen bronze- und eisenzeitlicher Petroglyphen Südskandinaviens vergleichen und hierdurch ikonografisch einordnen, ohne freilich Bauweise und Baumaterial der abgebildeten Fahrzeuge mit letzter Gewissheit ableiten zu können (Rosenberg 1937, 89 – 92; 111; Marstrander 1963, 139 – 146; 450; Coles 1993, 28 f. Abb. 5.3a). Aller- 1 dings vermittelte der eisenzeitliche Fund konstruktive Prinzipien, die ihn als materielles Surrogat bzw. als Derivat eines als Archetypus gedachten „Fellbootes“ (Abb. 1; 33; 34,2) erscheinen ließen (Shetelig 1930, 25), dessen jüngste Abkömmlinge als mit Tierhaut bespannte Wasserfahrzeuge unterschiedlicher Ausführungen und Größe in der arktischen Zone noch im 19. Jahrhundert gebaut wurden, durch antike Schrift- und Bildquellen aber auch regional für weite Teile der Alten Welt einschließlich Nordwesteuropas bezeugt sind (Bockius 2007a, 13 – 15 Karte 1). So vertrat insbesondere Sverre Marstrander die Theorie vom Ursprung des nordeuropäischen Plankenschiffbaus im hautbespannten Wasserfahrzeug (Marstrander 1963, 111 – 139; 445 – 448). Dagegen stellte Philibert Humbla (1937, 25 – 28; 1949, 24 – 30) Hjortspring und Nydam in eine gemeinsame Entwicklungsreihe, die er von einer mehrteiligen Spielart des Einbaums mit künstlich geweiteten Bordwänden und in den so verformten monoxylen Rumpf eingesetzten separaten Quervergurtungen ableitete. Ähnlich suchten James Hornell und bald darauf Albert Eskeröd die evolutiven Wurzeln früher nordischer Plankenboote – Hjortspring, Nydam und Halsnøy (siehe unten S. 228 f.) – in Stammbooten, erweitert um Planken (Hornell 1946, 197 f.; Eskeröd 1956, 67 – 80 mit älterer Lit.). Konstruktive Eigenschaften nordischer Plankenfahrzeuge und formale Prinzipien des Fundes von Als und südskandinavischer Felsbilder sah Hornell (1946, 199 – 213) im ozeanischen Bootsbau Indonesiens und Polynesiens wiederholt und zählte auch andere Gleichläufigkeiten nordeuropäischer und mittelpazifischer Sachkultur auf, selbst kulturelle Phänomene, gleichwohl bei diachronen Vergleichen. Ohne unabhängige Entwicklungsstränge völlig auszuschließen, rechnete er mit einer auf neolithisch-bronzezeitliche Mobilität gestützten Ideenvermittlung. Dazu Näheres zusammengefasst bei Crumlin-Pedersen 2004, 37; 42 f. 60 Anm. 1. Einleitung 219 Abb. 1 Verbreitung mesolithischer bzw. frühneolithischer Stammboote und Paddel (8. bis spätes 5. Jahrtausend. v. Chr.) als chorologischer Hinweis auf die Existenz archäologisch nur unzureichend bezeugter „Fellboote“. Stammboote; Paddel. Wurden die in der älteren Forschung behandelten Klinkerfahrzeuge noch als Produkte einer Skelettoder Mallenbauweise verstanden (Crumlin-Pedersen 2004, 40)2, beschrieb Gerhard Timmermann erstmals im Jahre 1941 das auf die sukzessive Verbindung von Kiel, Steven und Planken mit sekundär eingepassten Spanten gestützte Bauverfahren (shell-first) des Nydam-Bootes (Timmermann 1941; 1956c, 404 – 406). Im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor nach wie vor als frühe Vertreter einer spezifisch skandinavischen Bootsbautradition betrachtet (Brøgger / Shetelig 1951, 33 – 41; Åkerlund 1963, 133 – 150; 159 f.). Die Diskussion der technikgeschichtlichen Verwurzelung des nordischen Klinkerbootes setzten schwedische und norwegische Gelehrte fort: Dessen Ursprünge wurden im urgeschichtlichen Einbaum gesucht oder mit frühen Ver2 tretern von Wasserfahrzeugen verbunden, die man sich in Kenntnis völkerkundlicher Zeugen oder der antiken Literatur als mit Tierhaut bespannte Boote vorstellte (zusammenfassend Crumlin-Pedersen 1972, 211 – 215). Demgegenüber griff Crumlin-Pedersen (1972, 215 – 233) erneut Humblas Sichtweise auf und begründete unter Hinzuziehung neuen ethnografischen und schiffsarchäologischen Materials die Herleitung des doppelspitzgatt geformten, mit eleganten Linien versehenen nordischen Plankenfahrzeugs aus dem gespreizten, zuweilen um aufgesetzte Seitenplanken ergänzten Stammboot; ganz anders Gerhard Falk (1980), der in einem posthum veröffentlichten Aufsatz die beachtenswerte Theorie vertrat und begründete, dass nach dem Auftriebsprinzip wirkende „Kielflöße“ mit strömungsgünstig geschnittenen, wenn auch nicht wasserdichten Schiffskörpern an den evolutionären Anfang nordeuropäischen Schiffbaus gehörten. Man vergleiche z. B. Brøgger / Shetelig 1951, 28: „… must be easier to stretch skins on a timber skeleton than to carve planks of wood, then fit them in and sew them to the framework“. 220 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Das prähistorische Fellboot existierte für ihn nicht. 1963 wies Harald Åkerlund (1963, 31 – 50; 155 Abb. 18; 30) auf die Deformation des erhaltenen Fahrzeugs Nydam B hin. Dimensionale und formale Veränderungen wurden nicht nur durch die Lagerung des Fahrzeuges im See bzw. im Moor und durch natürlichen Trockenschwund der Hölzer nach der Bergung verursacht; auch die beim Transport per Dampfschiff von Flensburg nach Kiel 1877 dem Rumpf zugemutete Beanspruchung sowie bei und nach seiner Remontage wiederholt vorgenommene Ergänzungen (dazu besonders LaBaume 1948, 3 – 5; Åkerlund 1963, 49 – 52 Abb. 31; Rieck 2002b, 454 f.) dürften zu dem Schwund beigetragen haben. Die anfängliche Unterbringung auf einem nicht nur aus museologischem Blickwinkel wenig geeigneten Dachboden in Kiel (Arenhold 1914, 184; Shetelig 1930, 5) und die kriegsbedingte Auslagerung auf einer Schute bis zur Neuaufstellung in Schleswig haben aus heutiger Sicht als konservatorisch bedenklich zu gelten, so sehr sie auch dazu beigetragen haben, dass das Fahrzeug in umfangreichem Maße erhalten geblieben ist. Vom versierten Schiffskonstrukteur Frederik Johannessen 1929/19303 und von dem nicht minder erfahrenen Schiffshistoriker Åkerlund bis 1961 erarbeitete Planzeichnungen und Linienrisse (vgl. Shetelig 1930, Taf. 1 – 2; Åkerlund 1963, 31 – 62; 154 – 156 Taf. 4 – 5) unterscheiden sich in einer Weise, die auch dem in solcher grafischer Darstellungsweise ungeübten Auge auffällt. Scheint ersterer bei seiner Vermessung und planerischen Dokumentation davon ausgegangen zu sein, dass die Rumpfform des seinerzeit in Kiel ausgestellten Rumpfes mehr oder minder dem antiken Zustand entspricht, stützte sich Åkerlund auf seine in Schleswig vorgenommenen Aufmessungen, berücksichtigte den Schwund der Außenhaut und behielt bei seinen designerischen Maßnahmen auch schiffsphysikalische Erwägungen im Auge (Åkerlund 1963, 34 – 44 Abb. 18). So geht auf ihn die Erkenntnis zurück, dass bereits bei der von Engelhardt begleiteten Rekonstruktion des Rumpfes aus Originalteilen die Ausrichtung der Keipen und die Anordnung des Seitenruders als falsch zu gelten haben, somit Bug und Heck vertauscht worden sind (Åkerlund 1963, 52 – 62; 156). Dänische Forschungen haben seit den 3 1990er Jahren die von Johannessen und Åkerlund erstellten schiffsgeometrischen Entwürfe revidiert und lieferten eine neue Rekonstruktion. Diese entstand auf der Basis eines in Roskilde entwickelten Verfahrens, das sich die Konkordanz der Klinknagelbohrungen nach Remontage maßstäblich verkleinerter Plankenabwicklungen zu eigen macht und mit einem hohen Grad Genauigkeit die ursprüngliche schiffsgeometrische Form erschließt (Gøthche 2000; vgl. Gøthche in diesem Band; Jensen 1999, 131 f. Abb. 5.16; 139 Abb. 5.24). Der von Åkerlund (1963, 63 – 73 Abb. 48 – 49) vertretenen Rekonstruktion einer demontierbaren Längsvergurtung unter Verwendung der in größerer Zahl im Moor angetroffenen Augenhölzer trat Detlev Ellmers (1972, 326 f. Nr. 140b – c) entgegen. Letzterem war die Ähnlichkeit jener Objekte mit Kompartimenten der Spantrahmen im HjortspringBoot aufgefallen. Er zog in Erwägung, dass das Kiefernholzboot Nydam C mit einer vergleichbaren Rahmenkonstruktion ausgesteift war (Ellmers 1972, 327 Nr. 140c), hergestellt jeweils aus einer kräftigen Haselnussrute, die U-förmig gebogen und beiderseits durch die Enden eines Augenholzes gesteckt wurde. Galten Ellmers die Fahrzeuge als typologische Vorläufer skandinavisch-altenglischer Ruderkriegsschiffe, stellte er sie als konstruktiv eng verwandte Mannschaftsboote neben die bis ins 19. Jahrhundert in Schweden gebräuchlichen Kirchschiffe (ebd. 35 f. 48 – 52; 69). Bot Herbert Jankuhn (1977, 33) den skurrilen, Erwägungen Ellmers’ (1972, 326 f.) aufgreifenden Deutungsversuch, es könne sich bei den Augenhölzern um eine Art Abstandhalter für die Spantköpfe handeln, werden sie inzwischen als Bestandteile vorfabrizierter Unterkünfte identifiziert, die unter dem Einfluss des römischen Militärzeltes gestanden haben (Rieck / Jørgensen 1997, 222 f. Abb. 3). Seit den späten 1980er Jahren unternommene dendrochronologische Untersuchungen ergaben für das antik zerstörte Eichenholzboot Nydam A eine Bauzeit um 190 n. Chr. (ad 185 – 200), für Nydam B zwischen 310 und 320 n. Chr. sowie für das Kiefernholzboot Nydam C von ca. 296 n. Chr. (Bonde 1990; 1999; 2001, 355 f.; vgl. S. 229 f.) – das Vorhandensein eines vierten Fahrzeuges im Moor bleibt mysteriös (Crumlin-Pedersen / Rieck 1993, 41 – 44). Auf Neufunde der dänischen Ausgrabun- Darauf basierende schiffsphysikalische Kalkulationen bei Herner 1932. Pläne und Berechnungen übernommen für Bau und experimentelle Bewertung eines Modells im Maßstab 1 : 10: Timmermann 1956c. – Eine gleichermaßen dem älteren Linienriss folgende Replik in natürlicher Größe, 1934/1935 für einen Propagandafilm gebaut: Timmermann 1956c, 407; Åkerlund 1963, 47 Abb. 27 – 28; 59 Abb. 36. Einleitung 221 Hellenistische Form (Typ A); kaiserzeitliche Form Abb. 2 Verbreitung antiker Stockanker aus Eisen. – (Typ B / C) (ergänzt nach Bockius 2000a); typologische Bestimmung unsicher. — Fundorte Typ A: Agde, dép. Herault, F. – Ashqelon, IL. – Camarina, Sizilien, I. – Cannes, dép. Alpes-Maritimes, F. – Cap Dramont, dép. Var, F. – Capo Testa, Sardinien, I. – Isla Pedrosa, prov. Girona, E. – Isla Cabrera, Cabo Moro Boti, Balearen, E. – Isola di Mal di Ventre, Sardinien, I. – La Ciotat, dép. Bouches-du-Rhône, F. – Los Ullastres, Cabo San Sebastian, prov. Gerona, E (Typ A ?). – Portoferraio, prov. Livorno, I. – Punta Scaletta, Isola di Giannutri, I. – Secca di Capistello, Lipari, I. — Fundorte Typ B / C: Agde, dép. Herault, F. – Insel Andros, GR. – Augst, Kt. Basel, CH. – Baratti, Toscana, I. – Bulbury, Dorset, GB. – Museum Cagliari, Sardinien, I (FO unbekannt). – Cala Mindola, Isola di Levanzo, I. – Cap Béar, dép. Pyrénées-Orientales, F. – Cap Dramont, dép. Var. – Capo Granitola, Campobello di Mazara, Sizilien, I. – Capo Rasocolmo, Sizilien, I. – Comacchio, Valle Ponti, Emilia Romagna, I. – Eich, Kr. Alzey-Worms, D. – Rheinmuseum Emmerich, Kr. Kleve, D (2 Exemplare, ev. FO Salmorth oder Rindern). – Fiumicino, Lazio, I. – Grand Ribeaud, Îles d’Hyères, dép. Var, F. – Île de Planier, dép. Bouches-du-Rhône, F. – Île du Grand Rouveau, dép. Var, F. – Île du Petit Congloué, dép. Bouches-du-Rhône, F. – Isla Cabrera, Balearen, E. – Isola di Bergeggi, Liguria, I. – Isola di Montechristo, Tyrrhenisches Meer, I. – Iža, okr. Komárno, SK. – Kap St. Andreas, Bez. Famagusta, CY. – Kap Plavac, Insel Zlarin, HR. – Kuyu burnu, prov. Balikesir, TR. – La Chrétiennes, bei Agay, dép. Var, F. – Lago di Nemi, Lazio, I. – Les Sorres, Lobregat-Delta, prov. Barcelona, E. – Mainz, D. – Malamocco, Venedig, I. – Marritza, Sardinien, I. – Mündung des Arade, Algarve, P. – Newe Yam, IL. – Novi Sip, Bez. Kladovo, RS. – Nydam Mose, Sottrupskov sn., Südjütland, DK. – Pisa, Toscana, I. – Halbinsel Plemmirio, Sizilien, I. – Pompeji, Campana, I. – Porto Badisco, Apulien, I. – Port-Vendres, dép. Pyrénées-Orientales, F. – Punta Braccetto, Camarina, prov. Ragusa, I. – Randello, Sizilien, I. – Rindern, Kr. Kleve, D. – Rom, Ponte Cavour, I. – Salmorth, Kr. Kleve, D. – Scarponne, Gem. Dieulouard, dép. Meurthe-et-Moselle, F. – Ses Salines, Colònia de Sant Jordi, Mallorca, E. – Museum Side, prov. Antalya, TR (FO unbekannt). – Skoljic-Riff, Insel Unije, HR. – Sobra, Insel Mljet, HR. – Sud-Lavezzi, dép. Corse, F. – Vechten, Gem. Bunnik, prov. Utrecht, NL. – Villepey bei Fréjus, dép. Var, F. – Vimose, Odense, Fünen, DK (Typ B / C ?). – Stadtmuseum Worms, D (FO unbekannt). – „bei Xanten“. – Nicht kartiert: Duisburg bzw. Rheinhausen, D. 222 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde gen der Jahre 1989 – 1999 gestützt, konnte Flemming Rieck Wesentliches zu schiffbaulichen Eigenarten und Ausstattung der Fahrzeuge sowie ihrer Rekonstruktion beisteuern, so dass sich heute ein deutlich schärferes Bild ergibt (Rieck 1994b; 1997b; 1998a; 1998b; 1999; 2000; 2002a; 2002b; 2003; 2004c; 2006; vgl. Rieck in diesem Band). Die Wahrnehmung des großen Eichenholzschiffes Nydam B durch die provinzialrömische Archäologie reicht bis ins späte 19. Jahrhundert zurück, als der Ausgräber des frühkaiserzeitlichen Mannschaftsbootes von Bunnik-Vechten, Samuel Muller, Zeichnungen aus Engelhardts NydamPublikation zur Wiederherstellung seines eigenen, aufgrund ausgrabungsspezifischer Kalamitäten erst nachträglich dokumentierten Befundes herangezogen zu haben scheint (dazu De Weerd 1988, 194; Bockius 2002a, 105 – 118), ohne freilich Schlussfolgerungen zu ziehen, die technikgeschichtliche Zusammenhänge zwischen beiden Fahrzeugen begründet hätten. Rund ein Jahrhundert später konzedierten Detlev Ellmers (1983, 531 f.) und Ole Crumlin-Pedersen (1990, 113 [Riemenantrieb und Klinknagel]; 1997a, 185; 187 Abb. 1 – 3), dass der im Norden innovative Riemenantrieb ebenso wie die Verwendung des seinem Wesen nach mediterranen Eisenankers (Abb. 2) sowie des Bootsniets germanischer Nachahmung bzw. Übernahme unterliegen. Konzeptuelle Gleichläufigkeiten von Nydam B und des spätrömischen Fahrzeugtyps Mainz A anerkennend und selektiven Technologietransfer in Rechnung stellend, bestritt Crumlin-Pedersen indes die Vorbildfunktion römischer Mannschaftsboote im konstruktiven Sinne (ebd.). Zuletzt lockerte er seine Skepsis und listete unter der Überschrift „Roman influence“ weitere 4 Gesichtspunkte auf, die den technikgeschichtlichen Schnitt zwischen Hjortspring und Nydam ausmachen, darunter die Verwendung von eisernen Klinknägeln und von Eichenholzplanken relativ einheitlicher Besäumung sowie die bootsbauliche Einführung des Kiels, dem mittels einer im antiken Ostseeraum zuvor unbekannten Holzverbindung gleichartig geformte Vor- und Achtersteven angesetzt werden. Den Ideentransfer trugen aus seiner Sicht hauptsächlich in den Norden zurückkehrende germanische Hilfstruppenangehörige und ehemalige Soldaten der an Rhein und Donau stationierten „Flotten“, im 3. Jahrhundert auch die das litus Saxonicum bedrohenden Sachsen (Crumlin-Pedersen 1990, 111 – 113; 2010, 68). Zwar zitiert Crumlin-Pedersen den Übergang vom Paddel- zum Riemenantrieb gleichermaßen unter „Römischer Einfluss“, folgt jedoch dem in der skandinavischen Forschung diskutierten ikonografischen Beleg für die Existenz nordischer Ruderfahrzeuge bereits zur mittleren vorrömischen Eisenzeit, gestützt auf ein Petroglyph des Felsbilderfeldes Dalbo II, westlich von Oslo (Crumlin-Pedersen 2010, 68; 70 Abb. 2.70)4. Angeregt durch fachliche Gespräche über das Phänomen der nordischen Klinkertechnik mit Crumlin-Pedersen und dem Verfasser ging George Indruszewski (2009a; 2009b) dem Problem der Entstehung jenes schiffbaulichen Verfahrens nach und verwies auf Vorlagen im gallorömischen Milieu, dort namentlich am provinzialrömischen Binnenschiff. Technologische Einflüsse aus einer im norddeutsch-polnischen Raum gedachten Technikzone erläuterte Indruszewski (2003, bes. 332 – 335) zuvor mit teils gegenseitiger Durchdringung germanischskandinavischer Bautraditionen monoxyler Boote und Plankenfahrzeuge. Zur Bootsdarstellung und ihrer Datierung vgl. Østmo 1992, 11 – 14; 42 – 44 Abb. 5 – 6; 26; 2006, 61 – 69 Abb. 6; Kaul 2003, 195 Abb. 5.19). Überlieferung, Erhaltung und Vergleichsmaterial 223 ÜBERLIEFERUNG, ERHALTUNG UND VERGLEICHSMATERIAL Die Revision der im 19. Jahrhundert ergrabenen Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor steht unter dem dominierenden Eindruck des im Archäologischen Landesmuseum Schleswig ausgestellten „großen Eichenholzschiffes“ Nydam B, das aufgrund seiner vergleichsweise guten substanziellen Erhaltung dem Betrachter ein dreidimensionales Bild vermittelt, das sich uns für die Boote Nydam A und C entzieht. Hier können auch die während der dänischen Grabungen von 1989 – 1999 dokumentierten Funde und Befunde nur in bescheidenem Maße beitragen, da allenfalls Abmessungen und gewisse formale Kriterien beider komplett zerstörter Rümpfe erschlossen werden können. Dennoch ist die wissenschaftliche Aussagekraft der jüngst gehobenen Bootsteile kaum zu überschätzen, tragen doch die neueren Aufschlüsse zum Verständnis der individuellen Bootsausstattungen bei. Das ist insofern als großer Fortschritt zu werten, als sich dadurch Aufschlüsse einstellen, die auch die Fahrzeuge Nydam A und C in Umrissen Gestalt annehmen lassen, wenn auch mehr im konstruktiven denn im schiffsgeometrischen Sinne. Dabei stehen typologische und technische Parameter im Vordergrund, Baumaterialien bzw. Holzarten, die Gestaltung und Anordnung von Fittings und – nicht zuletzt – bootsbauliche Verfahrensmuster. Wir verlassen uns bei der Beurteilung des Erkenntniszugewinns weitgehend auf die hier und in der Vergangenheit publizierten Daten Flemming Riecks, der als bester Kenner der Materie für eine Reihe Neufunde die Zuweisung nicht mehr im Verband angetroffener Objekte zu einem der drei Rümpfe begründet (vgl. Rieck in diesem Band). Zur technikgeschichtlichen Herleitung des Fundstoffs aus dem Nydam-Moor eignen sich alle zeitgenössischen und älteren schiffsarchäologischen Befunde, die Merkmale mit ihnen teilen. Vom unten näher zu beleuchtenden provinzialrömischen 5 Material sowie von bronze- und eisenzeitlichen Primär- und Sekundärquellen aus England, Wales (Crumlin-Pedersen 2003b) und Irland (unten S. 253 – 256) abgesehen, handelt es sich um Relikte der jüngeren vorrömischen Eisenzeit und der Römischen Kaiserzeit aus Dänemark, Norwegen und Schweden (Abb. 3). Eine Schlüsselrolle kommt nach wie vor dem Moorfund von Hjortspring auf Alsen zu, dem vor wenigen Jahren erneut und in verschiedener Weise Aufmerksamkeit geschenkt worden ist (Rosenberg 1937; Valbjørn u. a. 2000; Valbjørn 2003a; 2003c; Crumlin-Pedersen / Trakadas 2003; Indruszewski 2009b, 689 – 699). Dem von Hjortspring vertretenen Fahrzeugtyp lässt sich eine lange als Bootsausstattung unerkannt gebliebene, in den 1920er Jahren im schwedischen Norrland aufgedeckte Sitzducht aus der Zeit um 220 v. Chr. an die Seite stellen (Jansson 1994; Holmqvist 1997). Die aus Kiefer gefertigte, mit zwei anatomisch geformten Sitzen versehene Ducht ähnelt denen aus dem Moorfund auf Als, zeigt indes Merkmale, die ihre Montage in einem hölzernen Boot mit massiven Spanten oder gebogenen Querrahmen anderen Querschnitts implizieren. Beiden Funden scheinen sehr schlecht erhaltene Bootsreste zeitlich nahe zu kommen, die zwischen etwa 1920 und 1931 beim Torfstechen aufgedeckt und 1943 sowie 2006 bei Nachgrabungen nahe dem Hof Haugvik im äußersten Süden des norwegischen Norrlands freigelegt wurden (Sylvester 2009 mit weiterer Lit.). Dabei handelt es sich mehrheitlich um Bruchstücke von Kiefernholzplanken, die jeweils mit noch (?) bis zu zwei perforierten Klampen zum Festzurren von Spanten versehen waren. Vier Radiokarbondaten verweisen auf einen Ansatz in der späten Bronze- bis in die späte vorrömische Eisenzeit5. Da bis auf die Knaggen und einmal den Nachweis zweier Holznägel aus Weide oder Espe Zur Datierung der Bootsreste von Haugvik siehe S. 276 mit Anm. 54. 224 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde typologisch verwertbare Maßgaben fehlen, steht die Identifizierung der Fragmente als Relikte eines genähten oder geklinkerten Fahrzeuges aus. Zwei ebenfalls dürftig erhaltene Funde von den Inseln Halsnøya und Valderøya vor der Südwestküste Norwegens gehen auf genähte Plankenboote aus Kiefernholz mit Zurrklampen und Dichtmittel (imprägnierter Wollstoff) zwischen den überlappenden Planken zurück; sie wurden mit Tiersehne bzw. Bastschnur vernäht. Vom Halsnøy-Boot wurden noch ein Spant sowie eine Riemendolle geborgen (Shetelig 1917, 359 – 363 Abb. 158 – 162; Færøyvik 1937; Brøgger / Shetelig 1951, 24 – 26; 34; 39 mit Abb. S. 25; Ellmers 1972, 332 f. Nr. 162; 166). Die Ergebnisse ihrer Altersbestimmung anhand von 14C-Proben kommen der Entstehungszeit der Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor nahe bzw. fallen noch in die späte Kaiserzeit; Valderøy 240 – 420 ad, Halsnøy 390 – 535 ad (Myhre 1980). Jüngere Untersuchungen der spärlich erhaltenen Relikte lieferten neue Erkenntnisse zur Nähtechnik sowie zum Herstellungsverfahren der Planken (Fasteland 1996). Das Fragment eines Flachkiels oder einer Planke aus Kiefernholz mit zwei erhaltenen Zurrklampen kam in sekundärer Verwendung als Teil einer Brunnenverschalung bei einer völkerungswanderungszeitlichen Hofstelle in Hjemsted Banke, Skærbæk, Südjütland zum Vorschein (Rieck / Crumlin-Pedersen 1988, 135 mit Abb. unten). Die auf einem Moränenrücken am Geestrand, gut 3 km vom heutigen Küstenverlauf der Nordsee entfernt gelegene Siedlung bestand schon zur älteren Kaiserzeit; ihr gingen Häuser aus dem Übergang von der Spätbronze- zur Eisenzeit voran. Die dendrochronologisch datierten Brunnen gehören ins 5. bis in die 1. Hälfte vom 6. Jahrhundert6. Bootsrelikte vom Fundplatz Mangersnes auf Radøy nördlich von Bergen beanspruchen trotz ihrer heterogenen Zusammensetzung Interesse als Parallelen. Auszumachen sind beschädigte Dollen unterschiedlicher Verbindungstechnik, Spantbruchstücke, Fragmente von Riemen oder vom Seitenruder sowie Plankenreste, die im Boden mit großen Mengen hölzerner Werkabfälle vermengt waren. Bei dem Fundstoff scheint es sich um Rückstände 6 7 eines über Jahrhunderte hinweg genutzten Instandsetzungsplatzes für kleinere Boote zu handeln, dessen Nutzung mit einer mutmaßlichen Fischfalle in Verbindung gebracht wird. Die ältesten Radiokarbondaten lieferten eine Dolle vom Nydam-/Halsnøy-Typ mit Alter von cal. 30 bc – 250 ad sowie das Fragment eines gelaschten Spants, ad 25 – 130. Andere Objekte nähern sich dem typochronologisch an, teils sind sie völkerwanderungszeitlich einzustufen (Ekroll 1988; 1989; A. E. Christensen 1995. B. Kolflåth: www.mangerkulturen.no/utvikling_1/litlist. htm.) Ein etwas anders zusammengesetztes, aber auch Bootsteile umfassendes organisches Fundmaterial wird aus einem verlandeten Arm am Unterlauf des Grönån bei Kattleberg, Skepplanda sn., der ins Kattegat mündet, gemeldet (Nordqvist 2011). Darunter befinden sich unter anderem zwei Keipen, ein Knie sowie Bruchstücke von Riemen, Spanten mit Hinweisen auf Zurrverbindung und Plankenreste. Nach den in größerer Zahl verfügbaren Radiokarbondaten sind einzelne der Objekte älter anzusetzen als der Nydam-Horizont (Nordqvist 2011, 21; 87 f. Beil. 2). Am Mooropferplatz Ejsbøl bei Haderslev kamen Bruchstücke von Riemen sowie die Keipe eines leichteren Fahrzeuges zum Vorschein, von denen die Dolle aufgrund ihrer stratigrafischen Verknüpfung mit Waffen und Schmuckgegenständen der beginnenden Völkerwanderungszeit zugeschrieben wurde (Ørsnes 1988, 23 – 24; 98; 154 Taf. 191,11 – 12; 201 [Ejsbøl-Süd]). Billigt man den erhaltenen Bootsteilen den Charakter von Driftholz zu, kommt für sie auch kaiserzeitliches Alter in Betracht, da die Grabungen im Moor an verschiedenen, teils bis zu 200 m entfernten Fundstellen Konzentrationen von Klinknägeln aufgedeckt haben, die mit Einzeldeponierungen einer gemeinsamen Opferung der Stufe C 2 in Verbindung gebracht werden7. Die Dolle von Ejsbøl zeigt Merkmale, die auf eine Verzurrung mit dem Schergang des Bootes schließen lassen, unterscheidet sich vom Typus Nydam-Halsnøy indes dadurch, dass der Grummet-Stropp zur Fixierung des Riemens durch eine runde Ausklinkung an der Basis des Beschlages, unterhalb vom Horn der Keipe, geführt war. Die zierlichen Abmessungen Ethelberg 1988, 136; 138 erwähnt zwar das Bootsteil, bezeichnet aber nicht die nähere Herkunft. Nach seiner Beschreibung (ebd. 141) könnte es sich um den Brunnen 18781 handeln, datiert 489 ± 55 n. Chr. – Crumlin-Pedersen 1990, 108 mit Datierung ins 7. Jahrhundert. Für das Grabungsareal 1998/1999, Komplexe D und E vgl. Andersen 2003, 251 – 254 Abb. 9 – 11, für das Grabungsareal 1955 – 1964, Ejsbøl-Süd, vgl. Ørsnes 1988, 23 f. 95 – 98; 153 Taf. 191,1 – 10; 192 – 200 (Andersen 2003, 256 verortet die Bootsniete irrtümlich in Ejsbøl-Nord). – Einzelne sehr große Nägel und Fragmente ohne Beschläg mitgerechnet, handelt es sich um mehr als 700 Eisenverbinder. Überlieferung, Erhaltung und Vergleichsmaterial 225 11 10 9 8 7 6 5 4 3 1 2 Abb. 3 Verbreitung vorrömisch-eisenzeitlicher und kaiserzeitlicher Plankenfahrzeuge im westlichen Ostseeraum und Skandinavien, nach hölzernen Relikten; Datierung unsicher. – Fundorte: 1 Nydam Mose; 2 Hjortspring; 3 Hjemsted; 4 Ejsbøl; 5 Kattleberg; 6 Halsnøy; 7 Björke; 8 Mangersnes; 9 Valderøy; 10 Hampnäs; 11 Haugvik. 226 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde der Dolle ließen offenbar ein seitliches Durchbohren bzw. Durchlochen nicht zu. Das beste Gegenstück bietet eine freilich kürzere, über Verzurrung hinaus auch mit Holznägeln befestigte Keipe aus Mangersnes (A. E. Christensen 1995, 75 – 77 Abb. 7), die gemäß ihrer Radiokarbondatierung in die ältere Vendelzeit gehört. Eine Sonderstellung hinsichtlich seiner Konstruktion nimmt das wohl noch spätkaiserzeitliche Wrack aus Björke in Mittelschweden ein (Humbla 1949; Mellander 1984). Das als Bootsopfer deponierte, aufgegebene oder verloren gegangene Fahrzeug8 besteht aus einem gehöhlten, anschließend gespreizten Lindenholztrog, an den je ein Seitenbord aus Kiefer in Klinkertechnik angesetzt worden ist. In gleicher Manier wurden Steven und eine Flickung am Boden fixiert. Gewachsene Spanten aus Tanne mit in der Stärke abgesetzter Sohle waren durch gestemmte Öffnungen hindurch mit Weidenruten an den Zurrklampen von Trog und Seitenborden verlascht. Die Sicherung eines längeren Risses im monoxylen Boden erfolgte durch eine mit Klinknägeln (?) befestigte Latte, während ein kleiner Riss mit zwei Weidenruten zusammen gezurrt wurde (Humbla 1949, 11 – 13 Abb. 6; 18 f. Abb. 13 – 14)9. Handelt es sich bei dem Fund von Björke um ein ursprünglich rund 7 m langes, mehrteiliges Stammboot in Doppelspitzgattbauweise mit geweitetem Trog, sind jenem Typus weitere kaiserzeitliche Einbäume mit angesetzten Komponenten an die Seite zu stellen. Ihre Verbreitung konzentriert sich auf küstennahe Fundplätze im westlichen und südlichen Ostseeraum, wobei einschränkend festzuhalten ist, dass eine Mehrteiligkeit der Fahrzeuge erhaltungsbedingt eher selten nachgewiesen werden kann (Crumlin-Pedersen 2006, bes. 40 f. Abb. 6 – 7; 56 Tabelle 1 Nr. 1 – 9)10. Unter ihnen eignen sich allein die erweiterten, mit Spanten ausgestatteten, monoxyl basierten Fahrzeuge von Vaale und der Lecker Au zum schiffstechnischen Vergleich mit Nydam; das über 12 m lange Boot von Vaale bedingt, da hier im Rahmen seiner Vorbereitung zur Ausstellung im Museum Vaterländischer Alterthümer Kiel Restaurierungen vorgenommen wurden, die den Befund nicht unerheblich verstellen (zitiert bei Timmermann 1956a, 219; Hirte 1987, 726; 728 – 734; Kat. 52 Nr. 85 Taf. 17; 1989, 113 – 118 8 9 10 Abb. 3 – 4; Autopsie des Verf. in Schleswig). Zählen dazu moderne Ergänzung und komplette Nachbildung von Spanten, professionell vervollständigte Schiffsenden, Flickungen sowie serienweise Nagellöcher in den Bordwänden, scheinen die zur Reparatur eines langen Risses angelegten Schwalbenschwanznuten ebenso wie bei einem frühkaiserzeitlichen Fund aus Dänemark antik zu sein (Hirte 1989, 119; 125 Abb. 8). Am Vaaler Stammboot waren die Spanten mit Holznägeln in der monoxylen Schale fixiert. Dasselbe trifft für den leider zugrunde gegangenen Einbaum von Leck zu. Überdies teilten beide Fahrzeuge ebenso wie ein später aufgefundenes Stammboot aus dem mitteljütländischen Bjedstrup (Meyer 2002) an den Bordkanten (?) Relikte von binnenbords ausgesparten Knaggen, zumindest im Falle von Vaale mit senkrechten Bohrungen bzw. Zapflöchern (Hirte 1989, 118 f. Abb. 6 – 7; 122 – 124 Abb. 10; 131). Jeweils spiegelsymmetrisch an beiden Seiten über den Bootskörper verteilt, hätten ihre Abstände (Leck: mittschiffs ca. 90 – 95 cm; sonst 80 – 85 cm; Vaale: ca. 90 – 100 cm) konventionellem Riemenantrieb genügt. Indes leiten sich von der rekonstruierten Mittschiffsbreite der Rümpfe, wohl etwas über 1 m beim Vaaler Stammboot und etwa 1,4 m beim Fund von Leck, Querschiffsräume ab, die allein Paddelantrieb zugelassen hätten, es sei denn ihre ursprüngliche Rumpfbreite wäre durch angesetzte Seitenborde und Beschläge deutlich größer ausgefallen, als es die ausgegrabenen Relikte zu erkennen geben. Dass im Stammboot von Leck ein unter zwei Spanten geschobenes (?) Paddel angetroffen wurde, spricht ebenso wie die Rumpfabmessungen gegen Ruderantrieb. Für den Einbaum sind mit eisernen Nieten vorgenommene Reparaturen überliefert, und die Spanten scheinen über Nüstergatts verfügt zu haben (Hirte 1987, 738 – 741; Kat. 31 – 32 Nr. 51 Taf. 9). Beide Fahrzeuge werden als schlanke Doppelspitzgatter mit weit ausfallenden Stevenkonturen rekonstruiert, die monoxylen Eichenholzrümpfe geweitet, was die Aufkimmung der Böden vorne und achtern (Rocker) zur Folge hatte. Im Boot aus der Lecker Au fällt ein Spant mit einer zentralen Mastspur (?) auf, die als querschiffs verlaufende langrechteckige Einlassung (5,5 × 13,7 cm) gut 6 cm Timmermann 1956b, 223 identifiziert die im Wrack angetroffenen Steine als Ballast, was für ein nicht besegeltes Fahrzeug wenig plausibel erscheint. Eine Parallele dazu bietet das stark beschädigte wikingerzeitliche Stammboot von Fiholm, Västmanland, mit Knaggen und genähten (?) Rissreparaturen, abgebildet bei McGrail 1981, 214 Abb. 4.1.1. Zur Datierung Lanting 1998, 69 (bp 985 ± 95). Vgl. dazu die Bootsgräber bei Madsen 1994; Johansen 2001; Ossowski 2003. Überlieferung, Erhaltung und Vergleichsmaterial 227 15 23 22 16 14 13 12 18 17 10 11 9 19 8 7 4 3 24 2 25 6 21 1 27 20 5 28 26 Abb. 4 Verbreitung kaiserzeitlicher Stammboote (1. Jahrhundert v. Chr. bis 3. Jahrhundert n. Chr.). – Rümpfe: konventionell gehöhlt; künstlich gespreizt; Typisierung ungewiss. – Fundorte: 1 Pommerœul; 2 De Meern; 3 Steinhuder Meer; 4 Jemgum; 5 Schonungen; 6 Gieten; 7 Ritsch; 8 Vaale; 9 Haale; 10 Lecker Au; 11 Egernsund; 12 Vimose; 13 Hedegård; 14 Tebbestrup; 15 Siljan; 16 Västra Frölunda; 17 Jyllinge; 18 Hillerød; 19 Slusegård; 20 Bobrowniki; 21 Naramowice; 22 Barkarby; 23 Valentuna; 24 Ulkowy; 25 Weklice; 26 Kraków; 27 Kozarze; 28 Masłomęcz. tief in das Spant eingesenkt worden ist. Käme hier aus hydrodynamischen Gründen allenfalls eine leichte Treibbesegelung in Betracht, wird man den Booten Paddelantrieb zubilligen dürfen; Hirte ging von Stakantrieb aus (Hirte 1989, 129 – 132). Radiokarbondatierungen liefern für beide Boote einen Ansatz ins 2. / 3. Jahrhundert n. Chr.11. Angesichts Seitenhöhen von mittschiffs knapp über einem halben Meter erscheint eine Interpretation der Knaggen als Befestigungspunkte für Setzborde durch Christian Hirte (1989, 131 f. Abb. 12,3) zunächst nachvollziehbar. Ältere Ergänzungsvor11 schläge gingen von dort aufgelegten, mit Holznägeln befestigten Duchten aus (zuletzt Åkerlund 1963, 118 – 120 Abb. 79) – eine Rekonstruktion, die man angesichts des wohl noch ins 5. Jahrhundert gehörenden Stammbootes von Bjedstrup in Zentraljütland (Meyer 2002, 36) wiederbeleben möchte. Der nach Augenschein künstlich geweitete monoxyle Rumpf mit von 3 auf 1 cm Wandstärke reduzierten Seiten ist unvollständig, jedoch mit einem teilweise erhaltenen Ende überliefert. Die Oberkanten des maximal 80 – 90 cm breiten und kaum 40 cm tiefen Trogs verfügen über noch zwei Paare Vaale: bp 1820 ± 55; cal. ad 198 ± 69; Leck: bp 1790 ± 44; cal. ad 231 ± 72. 228 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Abb. 5 Vaale, Kr. Steinburg. Entwurf einer sektionalen Rekonstruktion des Stammbootes, gestützt auf den Befund. – Ohne Maßstab. binnenbords überstehender Knaggen mit annähernd senkrechten, unten die Knaggen durchstoßenden Zapflöchern unsymmetrischen Querschnitts und einem Längsabstand von 115 cm. Zum stärker in Mitleidenschaft gezogenen Abschnitt des Bootskörpers hin mögen mehr Strukturen dieser Art existiert haben. Offensichtlich ohne Spanten ausgestattet und einer Reihe weiterer künstlich geweiteter Stammboote an die Seite zu stellen (Abb. 4), wird man hier davon ausgehen können, dass der Bootskörper ursprünglich mit quer aussteifenden Traversen in Form gehalten wurde, die mit den Knaggen durch passgerecht geschnitzte Hölzer verbunden waren. Das schließt aber weder aus, dass jene Spreizen als Duchten genutzt wurden, noch dass ihre massive Verstiftung eine komplementäre Befestigung jeweils eines Setzbordes zugelassen hatte (Abb. 5). Angesichts der vergleichsweise großen Distanz der Montagepunkte und ihrer kleinen Zahl kann hier von einem Mannschaftsboot nicht die Rede sein. Dem – zweifelsohne gepaddelten – Fahrzeug werden nicht mehr als ursprünglich 5 m Länge zugestanden. Trotz vergleichbarer verbindungs- bzw. beschlagstechnischer Merkmale ist der Fund von Bjedstrup anders zu klassifizieren als die Stammboote von Vaale und Leck. Behält man Form, Ausstattung, Betriebsart und Bauweise der Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor im Blick, lassen sich im provinzialrömischen Milieu ebenso wie im Mittelmeergebiet archäologische Primär- und Sekundärquellen namhaft machen, die auf die eine oder andere Weise zum Vergleich taugen. Um mit Letzteren zu beginnen, ist hier auf ein spätrömisches Graffito im Horologion des Andronikos („Turm der Winde“) in Athen hinzuweisen, dass die Silhouette eines Kriegsschiffes vom Typ Neumagen zeigt, ausgerüstet mit sichelförmigen Dollen, deren Druckpunkte eindeutig nach achtern orientiert sind (Damianidis 2011, 87 f. Abb. 2 – 3; vgl. hier Abb. 32). Die Darstellung zeigt nicht nur einen für Südeuropa ganz ungewöhnlichen Dollentypus, sondern aus ihr geht auch ein Betriebsschema der Riemen hervor, das dem mediterranen Ruderfahrzeug fremd war, hingegen der am nordeuropäischen Ruderfahrzeug üblichen Anordnung mit heckwärts an der Dolle anliegendem Riemen entspricht. Sodann werden Darstellungen eine Rolle spielen, die zeitgenössische Mannschaftsboote abbilden, unter anderen zwei reliefverzierte Scherben aus der Trierer Sigillata-Manufaktur (Ellmers 1977 – 1978). Zwecks Beurteilung der Eisenanker aus dem Nydam-Moor und aus Vimose (Ilkjær / Lønstrup 1981; Ellmers 1988; Bemmann / Bemmann 1998b, 48 Nr. 378 Taf. 30,378; Rieck 2004b, 175 f.; Buchwald 2004) kann auf reichen Fundstoff in der römischen Welt verwiesen werden (Abb. 2). Unter den provinzialrömischen und mediterranen Schiffsfunden sind sämtliche Wracks geruderter Plankenfahrzeuge (Zusammenstellung in Bockius 2012, 381 – 390) heranzuziehen, um bootsbauliche und ausstattungstechnische Unterschiede oder Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Über die Mannschaftsboote vom Typ Oberstimm (Bockius 2002a) und die Mainzer Schiffsfunde (Bockius 2006) hinaus lohnt sich ein Blick auf das spätantike, mehrteilige Stammboot in Yverdon-les-Bains (Arnold 1992), das bauliche und betriebliche Schnittmengen mit den Fahrzeugen aus Leck und Vaale teilt. Nicht zuletzt sind sämtliche mit überlappender Seitenbeplankung versehenen römischen Binnenfrachter aus dem Rheingebiet (Bockius 2000b; de Groot / Morel 2007; Jansma / Morel 2007) und die Reste eines geklinkerten Rumpfes aus Bordeaux (Sibella u. a. 2006) in Augenschein zu nehmen, ebenso einzelne homologe holzhandwerkliche Befunde an gallorömischen Plattbodenfahrzeugen (De Boe / Hubert 1976, 233; De Boe 1978, 27; Haalebos 1996, 483 – 485 Abb. 6 – 7 Taf. 67,2; 74,2 – 76,1; Jansma / Morel 2007, 123 – 127 Abb. 6.14; 140 f. 146 f. Abb. 7.5 u. Beil.). 229 BAU- UND AUSSTATTUNGSTECHNISCHE REKONSTRUKTION Da Flemming Rieck (in diesem Band) die Zuordnung von Neufunden als Komponenten individueller Fahrzeuge und die Möglichkeiten ausstattungstechnischer Ergänzung ausführlich erörtert, kann ich mich hier auf das Wesentliche beschränken, ohne auf forschungsgeschichtliche Details eingehen zu müssen. Zunächst sei festgehalten, dass der geheimnisumwitterte Bootsfund Nr. 4 („Nydam D“) allzu vage erscheint, um näher in Betracht gezogen zu werden. Als Repräsentant eines vierten Bootes werden das Fragment einer Kiefernholzplanke sowie eine unvollständige Dolle aus Birkenholz, die den Beschlägen aus Erle des Kiefernholzbootes typologisch nahesteht (Crumlin-Pedersen / Rieck 1993, 41 Abb. 7.2), bemüht. Sollten diese Relikte auf ein sonst nicht erfasstes Fahrzeug zurück gehen, wäre dieses schiffstypologisch näher an Nydam C zu rücken als an die Eichenholzboote. Als schiffstechnische Gemeinsamkeiten besitzen die drei archäologisch nachgewiesenen Fahrzeuge die überlappende Beplankung mit Klinknagelverbindungen, Schergänge mit nach außen verdicktem Dollbord sowie in der Plankenschale an Zurrklampen befestigte Spanten. Betriebstechnisch sind sie durch ihre zugeordneten Dollen sämtlich als Ruderfahrzeuge charakterisiert. Andere Merkmalsverwandtschaften beschränken sich auf jeweils zwei der Bootsfunde. Das um 190 n. Chr. gebaute, vor seiner Deponierung im See intentional zerstörte Eichenholzboot Nydam A12 entsprach hinsichtlich der für seine Beplankung und das Dollbord verwendeten Holzart dem um mehr als ein Jahrhundert jüngeren Nydam B. Hingegen gleichen seine lateral mit Schnitzfurchen ornamentierten Zurrklampen denen des Kiefernholzbootes (Rieck 1998b, 268; 276 Abb. 108; 111). Den aus der Anordnung der Knaggen abgeleiteten Spantabstand von 105 cm bzw. rund 1,08 m (Crumlin-Pedersen / Rieck 1993, 44; Rieck 1998b, 268; 281; 2000, 209; 2002a, 76; 2002b, 452; 2003, 299) trifft man auch im erhaltenen Eichenholzboot 12 an, dort mittschiffs in den Sektionen 4A / 3A, 1A / 0 und 0/1F; folglich hat Nydam A zweifelsohne als vergleichbar großes Fahrzeug zu gelten. Das massive kantholzförmige Dollbord, das mit dem Schergang mittels senkrecht gesetzter Holznägel verbunden war, verfügte über bei der Zurichtung des Rohlings ausgesparte klotzartige Riemenwiderlager mit quer verlaufender Durchlochung für Grummets (Engelhardt 1865, 6; 64 Taf. IV,27; Rieck / Crumlin-Pedersen 1988, 114 mit Abb.). Das vielleicht noch dem 3. Jahrhundert angehörende, aufgrund eines Terminus post quem um 320 n. Chr. oder später in das 4. Jahrhundert zu datierende Kiefernholzboot (Bonde 1999, 31; Bonde / Daly 2000, 4 – 6 Abb. 4; vgl. dazu Rau 2010, 44 – 46 Anm. 3) unterscheidet sich von Nydam A durch seine gemischte Beplankungstechnik, durch sein Baumaterial und die Konstruktion vom Dollbord. Vor seiner unrühmlichen Zerstörung mit einem massiven querformatigen Kiel mit festen Stevenanläufen versehen, war der Schiffskörper in Klinkerbauweise erstellt, ausgenommen die beiden Schergänge aus Lindenholz, die mit den obersten Plankengängen aus Kiefer überlappend mit Lindenbast vernäht waren; in gleicher Weise waren die Schergangsplanken miteinander verschäftet. Als Abdichtungsmedium begegnet imprägniertes Gewebe. Die Bordkanten der Lindenholzgänge waren auf bis zu 4,5 cm Stärke verdickt und boten so Auflagefläche für Dollen aus Erlenholz und Birke (FNr. 9229), die gewöhnlich an vier Stellen durch weite Bohrlöcher im Schergang hindurch mit Lindenbasttampen verzurrt wurden. Bei den Dollen handelt es sich um knapp 1 m bis 117 cm lange Beschläge mit D-förmigem Querschnitt, die aneinander gereiht, fast immer an beiden Enden durch vertikale Blattverbände überlappend, eine nur durch die aufragenden Riemenwiderlager unterbrochene Dollbordlinie bildeten. So entstand der optische Eindruck eines homogenen Dollbords, Zur Chronologie der Niederlegung vgl. Rau 2010, 33 f. 42 f. Zum Fällalter Bonde / Daly 2000; Bonde 2001, 355 f. 230 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde dessen Segmentierung kaum wahrnehmbar war, sieht man von individuellen gestalterischen Besonderheiten jeder Einzeldolle ab. Zur Fixierung der Bootsriemen dienten durch eine Öffnung unterhalb vom Horn geführte Grummets aus Weide. Das komplett geklinkerte Eichenholzboot Nydam B – um 310/320 n. Chr. gebaut (Bonde 1990; 1999, 31; Bonde u. a. 1991, 102 f. Abb. 4; Bonde / Daly 2000, 4 – 6 Abb. 4), aber erst zwei bis drei Generationen danach im See versenkt (dazu Rau 2010, 37 f. 43 f. 46 mit Anm. 33) – hat mit dem Kiefernholzboot das auf der Landung verpresste imprägnierte Gewebe und die Befestigungstechnik der Dollen gemeinsam. Demgegenüber unterscheidet sich seine breite zweiteilige Kielplanke mit angeschäfteten Steven, und auch die seitlich unverzierten Zurrklampen heben sich von Nydam C ab. Wie bei Nydam A lagen die mit einem Absatz geformten Spantköpfe auf konsolenartigen Klampen auf, die auch die zweifach vernagelten Ruderduchten trugen; im großen Eichenholzboot waren die Spantenden jeweils durch eine dritte Bohrung hindurch von unten fixiert. Die jeweils separat mit zwei Lindenbaststricken auf die verdickt profilierte Bordkante gezurrten sichelförmigen Dollen, mit individuellen stilistischen Eigenarten versehen, wurden aus Erle, Eberesche und Birke hergestellt. Die dänischen Grabungen der 1990er Jahre haben eine Fülle von organischen Funden zutage gefördert, die aus typologischen oder auch stratigrafischen Gründen den ursprünglich als komplette Rümpfe versenkten Fahrzeugen Nydam B und C zugeordnet werden können. Darunter beanspruchen aus Erle geformte Hölzer, die an einem Ende mehr oder minder naturalistisch gestaltete Gesichter bärtiger Männer zeigen, besondere Aufmerksamkeit. Zwei der Objekte verfügen über horizontale vierkantige Öffnungen im Bereich des Kopfes und wurden zusammen mit einem dritten Fragment im Engelhardtschen Grabungsareal einmal paarweise, ein andermal einzeln dort aufgedeckt, wo sich ursprünglich die Schiffsenden von Nydam B befunden hatten. Flemming Rieck deutet die Gegenstände als in Vor- und Achterschiff auf den Bordkanten rastende, binnenbords an Zurrklampen gelaschte Poller, von denen zwei Vertreter als Träger horizontal durchgesteckter Hölzer in Betracht kommen, die zum Belegen von Festmacher- oder Muringsleinen dienten (Rieck 1993; 1997a, 37 f.; 2002a, 80; Gøthche 2000, 47 f. Abb. 39). Eine große Zahl meist aus Linde, seltener aus Erle, Pappel oder Esche geformter Bretter sind aufgrund ihrer Besäumung, Schmiegen und Abmessungen Abb. 6 Nydam B. Sektionale Rekonstruktionen der Rumpfeinbauten. – Ohne Maßstab. als Relikte einer längsschiffs verlegten Beflurung zu interpretieren, mit denen der Rumpfboden im Bereich der Spantzwischenfelder abgedeckt war. Die Bodenbretter, teils um rollmattenartige Partien aus angebändselten Haselnussrundstäben ergänzt, lagen laut Riecks Ansicht auf brettartigen, mit einer nach oben gerichteten Mittelrippe verstärkten Querhölzern (biti), die ihrerseits, mit ihren U-förmig ausgeklinkten Enden die beiden Bauchabschnitte eines Spants aussparend, Quergurten aufgesetzt waren. In dieser Weise lassen sich zwei um 102/109 cm bzw. um 132/135 cm lange Querträger mit geschmiegten und längs an die Rumpfkontur angepassten Hirnseiten identifizieren, der kürzere mit zentraler Durchlochung für eine senkrechte Stütze. Demnach war die längsschiffs angeordnete Beflurung der Spantzwischenfelder jeweils durch die Mittelrippe eines Querträgers begrenzt, erlaubte so ein vorteilhaftes sektionales Öffnen des Bilgeraumes durch Einrollen der Rundstäbe oder Bau- und ausstattungstechnische Rekonstruktion Ausheben bzw. Umklappen der zusammen gebundenen Flurplanken (Abb. 6). Überreste von Profilbrettern mit wulst- oder stegartiger Kante lassen mit einer homologen konstruktiven Verwendung rechnen, wiewohl ihre Identifizierung als Bootsausstattung und Funktionsbestimmung in der Masse kaum beizubringen ist. So fallen einzelne, besser erhaltene Stücke aus Esche und Linde durch ihre sorgsame Falzung mit Rand begleitendem schmalem Steg auf, teils auch durch beträchtliche Längen von bis zu rund 2,2 m (FNr. 2401; 2500; 6085; 9126; 12844). L-förmig profiliert, rund 12 – 16 cm breit und in der Fläche 2,5 – 4 cm stark, bieten sich nominell auch diese Hölzer als Träger für rechtwinklig zur Längsachse aufgelegte Flurplanken an, deren Hirnseiten von der erhabenen Rahmenleiste begrenzt wurden. Anders als die einem Spant aufgelegten Querträger geringerer Größe wären rund 1,9 m (FNr. 2401) und 2,2 m (FNr. 9126) lange Komponenten im Bodenbereich eines Rumpfes mit den Abmessungen von Nydam B querschiffs nicht unterzubringen. Überdies sucht man an den Profilbrettern vergebens nach Spuren, die ein Auflegen auf die Beplankung nahelegten. Auch scheinen die Elemente nur sporadisch mit Zurrings befestigt worden zu sein. Demnach ließe sich hier allenfalls mit ihrer Anordnung längsschiffs, z. B. paarweise auf Spanten gelegt und als Träger für querschiffs verlegte Flurplanken, rechnen. Zu den im Moor alt und neu geborgenen Riemen sei festgehalten, dass sich die komplett erhaltenen bzw. zusammensetzbaren Geräte nach ihrer deutlich variierenden Länge auf drei bis vier Gruppen verteilen (Abb. 7). Über die Zahl der im Moor deponierten Fahrzeuge lässt sich daraus gar nichts ableiten: Erstens sind die 17 messbaren Exemplare – sie genügten nicht einmal, um Nydam B damit auszustatten – numerisch bei weitem nicht repräsentativ; zweitens beanspruchen gerade Boote mit gegen die Schiffsenden hin deutlich ansteigenden Scherlinien (positiver Sprung) unterschiedlich lange Riemen; drittens lässt sich allenfalls für Nydam B und auch dort nur näherungsweise das Freibord berechnen und so einmal eine Zuordnung vertreten (siehe unten S. 234 – 237 Abb. 11 – 13). Unter den komplett erhaltenen Riemen fallen das mit 358,5 cm längste Stück sowie ein gut 3,3 m langes Exemplar (FNr. 2633 und 3037) durch formale Besonderheiten auf. Beide schließen sich durch ein Detail am Griffende sowie den gerundet vierkantigen Schaftquerschnitt zusammen. Rieck (in diesem Band S. 109 – 112) hält sie für „Steuerriemen“, 13 231 Abb. 7 Funde von Bootsriemen mit bekannter Gesamtlänge. Gelb: Ahorn; Rot: Esche; Grau: unsichere Holzbestimmung. – 1 FNr. 4530; 2 FNr. 4576; 3 FNr. 12189; 4 FNr. 12190; 5 FNr. 2470 + 3741 + 4435; 6 Engelhardt 1865; 7 FNr. 2384; 8 FNr. 12191; 9 FNr. 2699; 10 FNr. 2518 + 4739; 11 FNr. 3035; 12 FNr. 3429; 13 FNr. 3037; 14 Engelhardt 1865 (vgl. Anm. 14); 15 FNr. 3036; 16 FNr. 3800; 17 FNr. 2633. doch scheint mir das ungewöhnliche Profil des Schafts keineswegs ungeeignet, um solche Riemen an Dollen mit annähernd geradem, senkrechtem Widerlager der für Nydam A bezeugten Form zu fahren. Überdies fällt am Blattende des kürzeren der beiden Riemen eine mittig angeordnete zipflige Verlängerung auf, wie sie auch bei einem gut 3,4 m langen Riemen aus der Engelhardtschen Grabung begegnet (Engelhardt 1865, 9; 63 Taf. III,20). Dessen nierenförmiger Schaftquerschnitt, ob nun durch Abnutzung entstanden oder nicht, reiht das Gerät eher hier als bei den übrigen Funden ein. Sollten sie zur Ausstattung ein und desselben Ruderfahrzeugs gehört haben, käme aufgrund seiner Dollen Nydam A in Betracht, dem aufgrund des zwischen FNr. 2633 und 3037 rund 27 cm betragenden Längenunterschiedes ein markanter Sprung der Scherlinie zu bescheinigen wäre. Die Stratigrafie spricht indes für eine Zugehörigkeit zu Nydam B (Rieck in diesem Band S. 110). Bis auf den zuletzt besprochenen Altfund13 waren sämtliche der im Diagramm verglichenen Riemen mit Längen bis rund 3 m Länge (sieben Nachweise) aus Ahorn hergestellt worden. Dagegen bestehen Sofern zutreffend, Engelhardt 1865, 63 zu Taf. III,20: „Fyrretræsaarer [Kiefernholzriemen]“. 232 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde alle deutlich mehr als 3 m langen Neufunde aus Esche14. Sieht man von zwei „annähernd vollständigen“ Exemplaren (FNr. 4530 und 4576) mit etwa 2,7 – 2,8 m Länge ab, liegen die übrigen fünf Riemen nur maximal 15 cm auseinander; die beiden beschädigten Zeugnisse dürften ursprünglich derselben Maßmarge entsprochen haben. So liegt die Vermutung nahe, dass die aus Ahorn gefertigten Riemen zum selben Boot gehört haben. Dieses Fahrzeug ver- 14 fügte über weniger Sprung als oben für Nydam A unterstellt. Und da zur Riemenausstattung von Nydam B Gerätelängen mit deutlich über 3 m Länge zu rekonstruieren sind (S. 237 mit Abb. 11 – 13), kommt für die Ahorn-Riemen am ehesten das Kiefernholzboot in Betracht, dem folglich ein geringeres Freibord oder eine andere Duchtanordnung in der Vertikalen als für das große Eichenholzboot hergeleitet zu bescheinigen ist. Die Identifizierung als Eichenholz bei Engelhardt 1865, 63 zu Taf. 3,19 geht auf eine Verwechslung des 3,4 m langen Riemens mit Esche zurück. Das Wiederauffinden und die Zusammensetzung der einzelnen Riementeile eben dieses Stücks im Archäologischen Landesmuseum Schleswig erlaubt die Bestimmung des Holzes als Esche (Mitt. A. Rau). 233 SCHIFFSTECHNISCHE BEWERTUNG UND SCHLEPPTANKTESTS Schiffstechnische Bewertung Ältere Untersuchungen Morten Gøthches in den Jahren 1998 – 2000 erstellte, 2008 für das Projekt zum Bau einer experimentellen Replik durch die Selskabet for Nydamforskning weiter ausgearbeitete Rekonstruktion des großen Eichenholzbootes steht neben älteren Entwürfen, die im Einzelnen eines Kommentars bedürfen. Die bekannteste, nicht nur in Veröffentlichungsorganen von Schiffbauern verbreitete Rekonstruktion geht auf den norwegischen Schiffbauingenieur Frederik Johannessen zurück. Sie gründete auf seiner Vermessung des damals in Kiel untergebrachten Rumpfes im Mai 1929. Das Ergebnis beeindruckt mehr durch seine Zuverlässigkeit suggerierenden soliden schiffstechnischen Planzeichnungen mit strakenden Linien, weniger dadurch, dass er lediglich Hauptabmessungen vermerkt. Johannessen war alles andere als zufrieden mit der Auswertung seines schiffsgeometrischen Entwurfs. So identifizierte er konstruktive Schwächen, einerseits hinsichtlich der Längsfestigkeit vom Rumpf, andererseits im Sinne einer Schwimmlage mit geringem aufrichtenden Moment. Überdies rechnete er mit relativ hohem Fahrtwiderstand. Drohender labiler oder nur grenzwertig stabiler Schwimmlage wollte er durch Einflussnahme auf die Lage vom Massenschwerpunkt entgegenwirken, in der Praxis das Übernehmen einer Last in der Bilge. Diese Empfehlung wurde konkret als Ballast – mindestens eine Tonne – ausgewiesen, bezog aber hoch angesetzt erscheinende Zuladungen, namentlich Waffen und Proviant bzw. Trinkwasser, offenbar in die Berechnungen ein. Da ein Übermaß an Gewichtseintrag in der oberen Rumpfpartie – der Gewichtsschwerpunkt eines auf einer Ducht sitzenden Ruderers oder Passagiers befindet sich im Bereich dessen Magengrube – Johannessens schiffsphysikalisches System konterkarieren musste, wundert es nicht, dass die mit 45 Mann veranschlagte Besatzung be- reits in der Veröffentlichung als womöglich zu viel bezeichnet wurde (Shetelig 1930, 21 – 23 Taf. 1 – 2 ). Griffen Haakon Shetelig und der als Experte zu Rate gezogene Johannessen aus heutiger Sicht entschieden zu hoch, fiel das mit 3,3 t kalkulierte oder geschätzte, jedenfalls nicht eigens begründete Leergewicht des Bootes (inklusive Riemen gerechnet) erstaunlich niedrig aus, selbst wenn man den Genannten zugesteht, dass sie von den erst durch die dänischen Grabungen der 1990er bekannt gewordenen Rumpfeinbauten noch keine Kenntnis haben konnten. Auch ein im Altonaer Museum nach dem Plan des Norwegers gebautes Modell ließ für den kalkulierten Rumpf 20 % mehr Schiffsgewicht erwarten (Timmermann 1956c, 407). Gingen Johannessens Vermessung und designerische Interpolation auf einen zu seiner Zeit bereits je zweimal de- und remontierten (Nydam-FlensburgKiel) sowie dreimal transportierten Bootskörper (Nydam–Flensburg–Kiel–Kiel) aus geschwundenem, zweifellos trockenem archäologischem Nassholz ohne hinreichende Dimensionsstabilisierung zurück, wird schon für das Jahr 1871, also bald nach der Hebung im Moor und der ersten Remontage des großen Eichenholzbootes in Flensburg die Erstellung eines Linienplanes (Beilage 8) und der Bau eines Modells im Maßstab 1 : 6 durch den Flensburger Schiffbaumeister Bernhard Techant vermeldet (Shetelig 1930, 5; LaBaume 1948, 3; Wiell 1997a, 218; 289 Anm. 28; Timmermann 1956c, 403 [irrtümlich 1863/1864]). Auch diesem Riss wird man eher die Qualität einer professionellen Dokumentation des schiffsgeometrischen Status quo vom NydamBoot im 19. Jahrhundert als den Versuch einer die antike Wirklichkeit näherungsweise treffenden formalen Wiederherstellung zubilligen. Johannessens 1930 vorgelegter Planentwurf fand sehr bald Interesse im Kreise deutscher Schiffbauingenieure. Der in seinem Fach wohlbekannte, in Kiel lehrende Heinrich Herner machte davon Gebrauch und plädierte 1932 für einen fahrtüchtigen Nachbau (Herner 1932). Herners Berechnungen 234 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde und Hebelarmkurven bescheinigten einem auf dieser Grundlage projektierten Ruderfahrzeug ausreichende Stabilität, ohne dass das Resultat beim modernen Konstrukteur Begeisterung erzeugt hätte. Wie es scheint ohne Herners aktive Beteiligung, lief im September 1934 bei der renommierten Werft Abeking & Rasmussen in Lemwerder an der Weser die von der NS-Kulturgemeinde beauftragte Replik „Stedingsehre“ vom Stapel, deren Linienplan an Johannessens Vorlage angelehnt war, wenn er ihm nicht sogar uneingeschränkt entsprochen hatte (Rasmussen 1999, 12 f. Anm. 6 Abb. 515; Gøthche in diesem Band S. 212 Abb. 56). Ihr wissenschaftlicher Nutzen bleibt begrenzt. Historische Fotografien wecken den Eindruck, dass das Boot mit 30 Ruderern voll besetzt und bei Übernahme von Passagieren mit bis zu 45 Personen gänzlich überfüllt war (ebd. 16 f. 21 – 23 Abb. 10 – 12; 18 – 19). Ferner erkennt man als Innenballast übernommene Findlinge, die Johannessens Empfehlungen Rechnung trugen (Schiffbau, Schiffahrt u. Hafenbau 35, 1934, 343 Abb. 2; Werft, Reederei, Hafen 23, 1934, 34 Abb. 2; Yacht 42, 1934, 6 mit Abb.). Schon im Zweiten Weltkrieg interessierte sich Gerhard Timmermann, seinerzeit Schiffbauhistoriker am Altonaer Museum, für das Konstruktionsprinzip und die hydrostatischen Eigenschaften des großen Eichenholzbootes (Timmermann 1941; 1956c). Von einem unter seiner Aufsicht gebauten Modell sowie aus den Berechnungen Herners bezogene Daten verwendete Timmermann zur Kalkulation eigenschaftsrelevanter dimensionsloser Zahlen, Koeffizienten aus Flächen und Volumen des Schiffskörpers, die er mit Datensätzen anderer Wasserfahrzeuge verglich (ebd. 406; 610 mit Tabelle). Kaum zehn Jahre nach Erscheinen der Arbeiten Timmermanns setzte sich der schwedische Schiffshistoriker Harald Åkerlund mit dem inzwischen in Schleswig ausgestellten Fahrzeug auseinander. Sensibilisiert durch Wahrnehmungen an geborgenen Schiffsteilen aus der frühen Wikingerzeit und dem hohen Mittelalter, wies er darauf hin, dass der Schiffskörper von Nydam B seit dem 19. Jahrhundert durch Schrumpfungsprozesse hervorgerufene dimensionale und formale Veränderungen durchlaufen haben müsse (Åkerlund 1963, 33 – 44; 155 Abb. 18)16. Im Detail für den Verfasser nicht durch15 16 schaubar, entwickelte Åkerlund bei Kompensation des mit 13 – 14 % veranschlagten tangentialen Schwunds einen plantechnischen Entwurf, der sich von Johannessens Linien sehr deutlich abhebt, u. a. durch größere Breite und Bauhöhe mittschiffs, nicht zuletzt aber durch ein völliges Hauptspant mit im Unterwasserschiff nahezu kreisbogenförmiger Spantkontur, die – hier ist Åkerlund beizupflichten – eine höhere Formstabilität erwarten ließe als Johannessens trichterförmiger Querschnitt mit im oberen Drittel der Bordwände einfallenden Seiten (vgl. Åkerlund 1963, Taf. 2; 5). Das revidierte Design erzeugte mehr Freibord und einige Zentimeter weniger Tiefgang. Letzteres geht auch aus der Lage der Konstruktionswasserlinie in dem von Åkerlund publizierten Linienriss hervor. Angesichts der spezifischen Montagetechnik der gewachsenen Spanten überträgt sich deren Kurvatur nur mittelbar über die Zurrklampen auf den Verlauf der Außenhautkontur. Diese stellt nicht notwendigerweise ein getreues Abbild des Spants dar, da sich beim Einpassen der Quergurte in die Plankenschale durch bootsbauliche Veränderungen, etwa Nacharbeiten von Zurrklampen, oder durch hingenommene Klüfte zwischen Spant und Knagge Konturen nicht 1 : 1 übertragen. Indes ist eine kardinale Übereinstimmung hinsichtlich geometrischer Gestalt und Abmessungen vorauszusetzen. Es genügt ein Blick auf die von Magnus Petersen gezeichneten Spanten O, 4A und 8A (Engelhardt 1865, Taf. II,3 – 6; 1866b, Taf. II,3 – 6: „10th … 14th … 18th rib“), um zu erkennen dass Åkerlunds Entwurf allzu kleine Radien aufweist; die Basis seines Hauptspants fällt markant breiter aus als die von Petersens Spant Nr. 10, die unschwer in Johannessens Spantplan und Riss wiederentdeckt werden kann. Åkerlund verdient Anerkennung, auf die dimensionalen und morphologischen Veränderungen aufmerksam gemacht zu haben. Sein Wiederherstellungsversuch hingegen ist, soweit er auf die Schiffsform abzielt, abzulehnen. Die von Gøthche (in diesem Band S. 179 f. Abb. 25 f.; Beilage 3) erstellte Rekonstruktion bildet den Rumpf ohne Beplankung ab, verzeichnet stattdessen den Verlauf der Oberkante jeder Planke als Punkte auf Mallkurven („Nakkelinier“). Um die äußere Oberfläche und damit den Schiffskörper in seiner gesamten räumlichen Ausdehnung zu erfas- Der hier abgebildete englisch beschriftete Riss, 1937 veröffentlicht, geht auf den britischen Designer und Segelenthusiasten Uffa Fox zurück, der als planerische Quelle für die Lemwerder Replik sicher nicht herhalten kann, sondern seinerseits Johannessens Zeichnungen kopierte. Zu dimensionalen Veränderungen zwischen der zeichnerischen Dokumentation von 1863 und 1929 vgl. Rieck / Crumlin-Pedersen 1988, 116 f.) Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests sen (dazu Jensen 1999, 15 – 20 Abb. 2.4 – 7), wurden für unsere Zwecke die nach ihren individuellen Abmessungen (Breite, Stärke) einschließlich der Landung (Überlappungstiefe) definierbaren Plankengänge sowie Kiel- und Stevenprofile im Maßstab 1 : 10 in der Weise zeichnerisch ergänzt, wie in der Werftpraxis ein Klinkerrumpf koordinatengerecht auf Mallen errichtet wird. Zeitlich mit der grafischen Ergänzung der Rekonstruktionspläne einhergehend, erfolgte 2012 in Mainz der Bau eines Schlepptankmodells im Maßstab 1 : 5 unter Verwendung des dänischen Mallplanes und der mit Schnitten versehenen Zeichnungen von Profilhölzern (Steven; Kiel), auf die sich auch der Bau der in Skottrupskov am Alsund von der Selskabet for Nydamforskning auf Kiel gelegten Replik in Originalgröße stützt (vgl. Gøthche in diesem Band S. 200 f.). Beim zeichnerischen Beplanken der Mallkurven zeigte sich die Präzision des zur Verfügung gestellten Planmaterials an winkeltreuen Landungsprofilen der Kielplanke sowie an den Sponungen und Schmiegen von Vor- und Achtersteven. Stimmigkeit der rekonstruierten Spantkonturen kündigte sich beiläufig auch dadurch an, dass die mindestens 6 – 7 cm überlappenden Planken im Bereich ihrer Lannung allenfalls bei Überbrückung kleinerer Radien leichter Schmiegen bedurften, um vollflächigen Sitz zu gewährleisten. Das grafische Endprodukt vermittelt die charakteristische geometrische Gestalt des geklinkerten Schiffskörpers durch eine Serie von Querschnitten einheitlichen Abstandes (Abb. 9 – 10). Es unterscheidet sich nach seinem Erscheinungsbild und durch veränderte Rauminhalte von den kraweel gezeichneten, durch Senten überprüften und auf die Innenfläche des Schiffskörpers bezogenen Planprojektionen der dänischen Vorlage (vgl. Gøthche in diesem Band S. 179 Abb. 25). Die oberflächentreue, dreidimensional verbindliche Darstellung des rekonstruierten Rumpfes durch Querschnitte erlaubt es, schiffsphysikalisch relevante Zahlen durch Messung oder Berechnung von Strecken und Flächen zu gewinnen. Sie lassen sich als Parameter verwerten, um mit auf anderer Grundlage ermittelten Größen in Beziehung gesetzt zu werden und so als geometrische Größen, hydrostatische Daten und Koeffizienten zur Beurteilung der Eigenschaften des Fahrzeuges beizutragen. Von besonderem Interesse sind hier gewisse Strecken, Volumenanteile und das Gewicht des Schiffskörpers. Einige Abmessungen lassen sich ohne Zwischenschritte den Planunterlagen entnehmen: die nicht exakt bestimmbare Länge über alles, die Länge zwischen den Loten, die größte Breite sowie die Seitenhöhe und die Raumtiefe inklusive Kiel 235 Verdrängung m³ 35 30 25 20 15 10 5 0 0 50 Abb. 8 Tiefgang 100 134 cm Nydam B. Verdrängungsdiagramm (vgl. Tabelle 5). (Tabelle 3). Diese Werte sind hydrostatisch von nachrangiger Bedeutung. Zur näherungsweisen Bestimmung von Tiefgang und Freibord, nicht zuletzt von Flächen- und Gewichtsschwerpunkten sowie Hebelarmen muss die Verdrängung errechnet werden, die sich volumetrisch vom Schiffsgewicht einschließlich Zuladung ableitet. Hatte Johannessen für das leere Boot mit Riemen 3,3 t angesetzt, ergab die Wiegung eines auf gleicher Plangrundlage gebauten Modells im Maßstab 1 : 10 3,925 t in der Natur. Letzterem wird man unterstellen dürfen, dass es aus abgelagertem Holz hergestellt wurde, folglich in Relation leichter wog als ein zumindest temporär bewittertes Fahrzeug; überdies fehlten der Beplankung und folglich auch den Spanten die Massenanteile des von Johannessen nicht berücksichtigten Schwunds. Dass die Quergurte des Modells sämtlich aus Eichenholz geformt wurden, sah Timmermann (1941, 57 – 60 Abb. 1 – 3; 1956c, 404 – 407 Abb. 33 – 42) als Manko für einen Vergleich. Das kann hier jedoch vernachlässigt werden, weil Nydam B offenbar zumindest teilweise Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde 236 vorne achtern -10 +10 200 -9 +9 -8 +8 -7 -6 +7 +5 -4 -3 -1-2 +4 +3 +2 +1 100 56 cm 50 0 150 100 Abb. 9 50 50 100 150 Nydam B. Klinkergerechter Spantriss (Außenhautkonturen), generiert aus der schiffsgeometrischen Rekonstruktion im Center for Maritime Archaeology, Roskilde. – M. 1 : 20. 0,746 m² 0 150 +6 -5 Bug +8 +7 +6 +5 +4 +3 +2 +1 Heck ±0 -1 -2 -3 -4 -5 -6 M (+0,8) Abb. 10 Nydam B. Spantarealkurve für Version I (vgl. Tabelle 5). -7 -8 LWL = 17,6 m Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests Abb. 11 Nydam B. Rekonstruierter Rumpfquerschnitt bei Achse + / - 0. – Wasserlinie bei Tiefgang 0,60 m für ∆ = 9,12 t. – Riemenlänge 3,3 m. – M. ca. 1 : 35. Abb. 12 Nydam B. Rekonstruierter Rumpfquerschnitt bei Achse + 6 m (Vorschiff). – Wasserlinie bei Tiefgang 0,60 m für ∆ = 9,12 t. – Riemenlänge 3,6 m. – M. ca. 1 : 35. Abb. 13 Nydam B. Rekonstruierter Rumpfquerschnitt bei Achse - 7 m (Achterschiff). – Wasserlinie bei Tiefgang 0,60 m für ∆ = 9,12 t. – Riemenlänge 3,6 m. – M. ca. 1 : 35. 237 238 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Anzahl Material max. Länge 14,31 m Breite gemittelt Höhe / Stärke Volumen m3 Massen Kielplanke 1 Eiche (planimetriert) (planimetriert) 0,387 (x γ1) 0,350 t Vordersteven 1 Eiche ca. 5,7 m (planimetriert) (planimetriert) 0,112 (x γ2) 0,095 t Achtersteven 1 Eiche ca. 5,4 m (planimetriert) (planimetriert) 0,116 (x γ2) 0,100 t Plankengang 1 2 Eiche 0,377 m 0,035 m + Knaggen 0,506 (x γ1) 0,455 t 17,42 m Plankengang 2 2 Eiche 19,09 m 0,437 m 0,035 m + Knaggen 0,614 (x γ1) 0,550 t Plankengang 3 2 Eiche 20,07 m 0,424 m 0,030 m + Knaggen 0,541 (x γ2) 0,460 t Plankengang 4 2 Eiche 20,78 m 0,377 m 0,030 m + Knaggen 0,507 (x γ2) 0,430 t Plankengang 5 2 Eiche 21,52 m (planimetriert) (planimetriert) 0,928 (x γ2) 0,790 t Niete Spanten, gewachsen Duchten snellen / Duchtstempel Keipen Riemen, inkl. Ersatz Seitenruder ca. 1850 19 Eisen diverse Hölzer 16 (15/1) 40 Linde diverse Hölzer 30 – – – – 0,040 t ca. 64,5 m 0,08 m 0,12 m 0,620 (x γ4) 0,500 t ca. 40 m 0,25 m 0,03 m 0,300 (x γ3) 0,165 t 0,07 m 0,035 m 0,070 (x γ4) 0,055 t ca. 0,6/0,8 m diverse Hölzer 36 (30/6) 1 – – Esche ca. 3,35 m nach Proil diverse Hölzer ca. 3,25 m (planimetriert) – nach Proil (planimetriert) – 0,120 t 0,324 (x γ4) 0,260 t 0,137 (x γ4) 0,110 t 4,480 t Belurung / Fläche P2 biti / Querträger 2 Anker, Trossen u. a. 23,5 m 2 2 je Spant 2 Linde; Hasel; andere Linde; andere – – ca. 51 m Eisen / Holz / Bast – 0,125 m – 0,025 – 0,030 m 0,035 m – 0,646 (x γ3) 0,350 t 0,223 (x γ3) 0,125 t – 0,200 t 5,155 t Besatzung (inkl. Ausrüst.) 30 – 32 à 85 kg – – – – 2,700 t 7,855 t Tabelle 1 Nydam B. Massenerhebung auf der Grundlage der aktuellen Rekonstruktion (γ1 Eiche, temporär benetzt: 0,9 g / cm3; γ2 Eiche, bewittert: 0,85 g / cm3; γ3 Linde / Hasel, bewittert; 0,55 g / cm3; γ4 sonstige Hölzer, bewittert: 0,8 g / cm3). – Gewicht der Keipen nach Wiegung von Repliken durch die Nydamselskab geschätzt. auch mit Eichenholzspanten ausgestattet war (z. B. Rieck 1998b, 273). Problematischer erscheint mir die Wahrnehmung, dass die Zurrklampen des Hamburger Modells überproportioniert wirken. In der Summe wird man aber davon ausgehen können, dass Nydam B im Ausbauzustand des Modells, also ohne Beflurung, Zuladung und den am Modell unberücksichtigten Schwund, jedoch bei einer für temporär im Wasser liegendes, bewittertes Holz anzunehmenden Dichte17 über 4 t gewogen hatte. Meine Erhebungen zu den Massen ergeben für den leeren, mit Duchten, Keipen, Riemen und Seitenruder, aber ohne Beflurung ausgestatteten Rumpf knapp 4,5 t (Tabelle 1). Addiert man hierzu das ungefähre Gewicht der in älteren Rekonstruktionen unberücksichtigten Einbauten sowie einer bescheidenen nautischen Ausrüstung – Anker, Tauwerk, Ößfässer und Reparaturmaterial für Laschungen und Abdichtung (Werkzeuge gehen in der Kalkulation persönlicher Ausrüstung der 17 Mannschaft auf) –, ergeben sich für das einsatzfähige, unbemannte Fahrzeug rund 5,2 t Gewicht. Es schließt eine im Fußraum der Ruderer ansetzende Beflurung ein, auf die Innenkante vom zweiten Plankengang aufgelegte Querträger, Flurplanken und Rollmatten. Geht man mit Shetelig und Johannessen von einer dreißigköpfigen Ruderbesatzung aus und rechnet über den Rudergänger hinaus mit einem weiteren Mannschaftsmitglied, ingesamt also 32 Personen, so ist das Boot räumlich ausgelastet und nach seemannschaftlichem Ermessen voll besetzt. Billigt man jedem Mann, je nach seiner Bewaffnung, 10 – 15 kg individuelle Ausrüstung zu, wird das Mannschaftsgewicht ungefähr 2,7 t betragen haben – wohlgemerkt das Minimum, da Extras, wie Wetterschutzvorrichtungen oder mitgeführte zerlegbare Landunterkünfte, wie sie in der Literatur als Zurüstung anklingen (Rieck / Jørgensen 1997, 222 f. Abb. 3), nicht zum Standard gehört Verf. rechnet mit unterschiedlich stark durchfeuchteten Partien und Holzdichten. Vgl. dazu die Erwägungen bei Englert 1997, 23. Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests haben werden und im Übrigen ebenso wie die bei Shetelig unterstellte, geradezu abenteuerlich anmutende fünfundvierzigköpfige Besatzung nebst ihrer Proviantierung mit je 10 kg pro Mann zu den historischen Unabwägbarkeiten zählen. Um es vorwegzunehmen: Nydam B ließe sich über die hier veranschlagten 7,8 m3 Einsatzverdrängung hinaus befrachten, ohne dass seine Betriebstauglichkeit in Frage gestellt werden müsste (siehe unten). Da bleiben eo ipso Spielräume für zusätzliche Massen, die dann freilich auch Raum beanspruchen und, auf den Rumpf nach nautischen Prinzipien verteilt, namentlich in der Vertikalen professionell gestaut worden sein mussten. Wir berühren hier den Aspekt Ballast: Johannessen wollte angesichts einer metazentrischen Höhe von gerade 0,25 m als Maß für die aufrichtende Kraft, gerechnet einschließlich Ballast von nicht unter einer Tonne sowie 450 kg Proviant und Wasser, die er sich vernünftigerweise im Kielraum des Bootes untergebracht vorgestellt haben wird, den Zustand allzu labil erscheinender Schwimmlagen ausgeschlossen sehen (siehe oben). Seine Maßgaben mögen sich so erklären, dass hier einerseits ein Fahrzeug für mehrtägigen Seeaufenthalt kalkuliert werden sollte, das auch noch „… so viele Mann als möglich an Bord nehmen und soviel als möglich Ruder führen konnte“ (Shetelig 1930, 30). Tatsächlich hielt Engelhardt eine Ansammlung kleinerer Steine in der Mittelsektion des versenkten Eichenholzbootes für Ballast (Engelhardt 1866, 34). Er ließ aber offen, ob er damit Reste eines im Fahrbetrieb gehaltenen Ballasts gemeint hatte oder bei der Deponierung des Fahrzeugs im See eingebrachtes Gewicht, um das Boot nach Flutung gegen den Auftrieb des Holzes auf Grund zu halten18. Ersteres kann für einen im günstigsten Fall etliche hunderte von Metern über Land beförderten, dabei doch wohl bestmöglich geleichterten Rumpf nicht überzeugen. Fehlt es somit an einem eindeutigen archäologischen Hinweis, weckt Johannessens Postulat nach Innenballast den Verdacht einer Rückversicherung angesichts allzu anspruchsvoller Einsatzszenarien. Die Frage nach der Stabilität stellt sich nach wie vor, nun allerdings vor dem Hintergrund einer revidierten Rekonstruktion. Zur Aufklärung können zukünftig eine erneute Stabilitätsberechnung sowie praktische Empirie mit der dänischen Replik beitragen. 18 19 239 Erwägungen zu den Einsatzbedingungen Die dem großen Eichenholzboot verbreitet entgegengebrachte Bewunderung, nicht zuletzt aber auch die ihm zuerkannten Schwächen sind von der Vorstellung eines „Typschiffes“ bzw. „standard ship“ geprägt, mit dem germanische Trupps seit dem späten 3. Jahrhundert die Küsten Galliens und Britanniens bedroht und schließlich die angelsächsische Besetzung der Insel vollzogen hätten (z. B. Ellmers 1983, 532; Crumlin-Pedersen / Rieck 1993, 39; sinngemäß Herner 1932, 148). Im Vertrauen oder durch Insistieren auf dessen Seetauglichkeit (Brøgger / Shetelig 1951, 36) stellte man sich sogar das Überqueren der Nordsee vor. Zwar wurden auch schon Zweifel geäußert, ob vor dem 5. Jahrhundert eine maßgebliche Bedrohung Englands von See her überhaupt stattgefunden hat (Cotteril 1993, 227 – 231). Indes sind Überfälle germanischer „Piraten“ auf die nordgallische und britannische Küste schon für das 3. und 4. Jahrhundert hinreichend verlässlich bezeugt, und die in dieser Zeit angelegten oder ausgebauten Festungen des litus Saxonicum lassen das strategische Konzept einer in die Tiefe gestaffelten Abwehr von See her operierender, in die Flussmündungen eindringender Aggressoren erkennen (Haywood 1991, 23 – 45; zusammenfassend Eggers 2001). Jenes Zielgebiet wurde von Nordosten am sichersten, wenn auch nicht auf kürzestem Wege, unter Befahrung der geschützten Gewässer der friesischen Wattenküste und der niederländisch-belgischen Mündungsdeltas erreicht, eine Route19, die sich mit terrestrischer Navigation bewältigen ließ und immer wieder Gelegenheit zur Landsicht und zum Landfall bot. Erst nahe der Rheinmündung oder beim Eintritt in den Englischen Kanal waren, je nach Ausgangspunkt, ein oder mehr Etmals vom Kontinent her über offene See unumgänglich, wollte man die Küste Britanniens erreichen. Ähnliches gilt angesichts der sich an die NydamBoote und an Fahrzeuge aus anderen dänischen Mooren knüpfenden ereignisgeschichtlichen Vorgänge um von See her erfolgter Angriffe auf jütische oder inseldänische Plätze (z. B. von Carnap-Bornheim 1997, 227 – 229 Abb. 1). Reisen über rund 45 – 60 Seemeilen durch den Skagerrak und die jütische Küste entlang nach Süden bedurften nautischer Nach den hier vertretenen Verdrängungsverhältnissen wäre für den auf 4,3 t geleichterten Rumpf eine minimale Wassertiefe von 0,4 m vorauszusetzen. Vgl. Abb. 8. Sinngemäß Green 1963, 103 – 113 Abb. 29; Greenhill 1976, 186; Crumlin-Pedersen 1990, 113. – Zu den nautischen Bedingungen riemengestützter Küstenfahrt und den militärischen Risiken vgl. Haywood 1991, 72. 240 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Routine, idealer Weise sichtigen Wetters und ruhiger See, um spätestens am zweiten Tag Gelegenheit zu finden, am Zwischenziel die Bevorratung an Wasser und Nahrung zu ergänzen. Vorstöße von Südschweden oder der holsteinisch-mecklenburgischen Ostseeküste hätten die Küstensäume entlang erfolgen können ohne besondere Risiken und Versorgungsengpässe. Somit brauchte es nicht zwangsläufig einer modernem Sicherheitsdenken genügenden Expeditionsausrüstung, sondern nur dessen, was als notwendig erachtet wurde und sich im Boot nach verfügbarem Raum und Tragfähigkeit unter Beachtung seemannschaftlicher Prinzipien verstauen ließ. Charles Greens Vorstellung, dass in dem zum Standardschiff erhobenen, rund 21,5 m langen, gerade 3,3 m breiten Schiffskörper eines Nydam B 60 – 80 Leute Platz gefunden haben, war der Not geschuldet, ein arithmetisches Mittel zur Begründung konstanten Ruderbetriebs zu finden, nicht zuletzt als Plädoyer für die von ihm favorisierte Küstenroute germanischen Vordringens gegen Britannien (Green 1963, 103 f.). Wenn er auch konzediert „The ship would certainly be very full and, if, in addition to food and water, some bulky personal possessions were also brought, it would probably be uncomfortably so“ (ebd.), werden hier nicht allein die räumlichen Möglichkeiten des Fahrzeuges weit überanstrengt, sondern auch seine Betriebsfähigkeit in Frage gestellt. Den nautischen Bedingungen küstennaher Fahrt genügte ein offenes, frei manövrierbares Boot, dessen Tiefgang das Befahren seichter Gewässer und das Anlanden an natürlichen Ufern gewährleistete. Angesichts Wind und Gezeitenströmen war beim Navigieren ein gewisses Geschwindigkeitspotenzial vorteilhaft. Seegang, der graduell die Festigkeit eines Fahrzeuges beansprucht, haben insbesondere schlanke, nach ihren Hauptabmessungen gestreckte Schiffskörper (Tabelle 2,24 – 26) konstruktive Stabilität und Flexibilität entgegenzusetzen – bei Nydam B geboten durch den geklinkerten Rumpf mit nicht starr verbundenen Spanten sowie durch den profilierten obersten Plankengang, der maßgeblich zur Längsvergurtung, nicht zuletzt auch zur Aussteifung der Bordwände beitrug. Überkommender See wirkte beim Eichenholzboot die durch positiven Sprung gekennzeichnete Scherlinie mit hoch aufragendem Bug und Heck entgegen. Das Freibord hatte den beim Eintauchen des Fahrzeugs in Fahrt seitlich ablaufenden oder durch andere Einflüsse auftreffenden Wellen standzuhalten. Schiffsmaße im Vergleich Die für Nydam B aus der Rekonstruktion hergeleiteten Maße, Koeffizienten und Verhältniszahlen fügen sich in das schiffsgeometrische Gerüst eines auf Vortrieb mit Muskelkraft gestützten Mannschaftsbootes, das Merkmale von Seetauglichkeit erkennen lässt. Das wird deutlich, vergleicht man seine Daten mit ähnlich dimensionierten antiken Fahrzeugen, zunächst Hjortspring und Oberstimm. Ersteres kann als ein auf geschützten Küstengewässern, Fjorden und Flüssen der westlichen Ostsee bei leichter See eingesetztes Boot mit einer zwanzigköpfigen Paddelmannschaft in Anspruch genommen werden (Vinner 2003), wenn man so will als „Kriegskanu“; die Boote von Oberstimm können als primär geruderte, auf der Donau verwendete Binnenfahrzeuge gedeutet werden (Bockius 2002a, 119 – 126). Nydam B verfügt über eine wenigstens um die Hälfte größere Besatzung und Verdrängung, kann indes noch als relativ leicht gelten (Tabelle 3,23). Obwohl deutlich länger als die verglichenen Rümpfe, entspricht die Breite in der ermittelten Schwimmwasserlinie den Werten der Oberstimm-Boote (Tabelle 3,5) und übertrifft deren Tiefgänge als unbefrachtete Version um wenige Zentimeter (Tabelle 3,8). Demgegenüber beläuft sich das Freibord von Nydam B / I ungefähr auf das Doppelte der für das Hjortspring-Boot anzunehmenden Strecken (Tabelle 3,9) und liegt zwei Dezimeter über dem Maß für Oberstimm 2. Das lässt sich als ein Kriterium für die Seetauglichkeit des Nydam-Bootes auffassen, doch sind da noch andere, die sich in seinen Völligkeitszahlen widerspiegeln. Das Verhältnis der eingetauchten Hauptspantfläche zum umgebenden Rechteck aus Breite in der Wasserlinie und Tiefgang (CM; Tabelle 3,17) ist ein Gradmesser für den Formwiderstand bei Bewegung durch das Wasser. Mit CM 0,63 weist Nydam B einen Mittelwert auf, der leicht oberhalb der etwas günstigeren Koeffizienten der verglichenen Rümpfe liegt, ausgenommen Kenn Jensens Kalkulation für das Hjortspring-Boot, die sich beim Nachrechnen seiner Strecken und Fläche sogar auf 0,743 steigert; hier erstaunt die ungewöhnlich große Hauptspantfläche AM, die beträchtlich höher reicht als Timmermanns Ansatz, wiewohl dessen Version mit der Jensens sonst doch harmoniert. Im mittleren Bereich und wiederum etwas höher als bei den Berechnungen für Hjortspring und Oberstimm steht die Völligkeit der Wasserlinienfläche (CWP ) von Nydam B mit dem Wert 0,74 (Tabelle 3,18). Sie füllt ein umschreibendes Rechteck aus Länge in der Wasser- Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests 1 Schiffstechnische Daten Abk. Formel max. Länge Lmax – 241 Version I 22,85 m Version II 22,85 m 2 Länge in der Wasserlinie LWL – 17,54 m 17,82 m 3 Länge zwischen Loten LPP – 16,48 m 16,72 m 4 max. Breite Bmax – 3,34 m 3,34 m 5 Breite in der Wasserlinie BWL – 2,08 m 2,18 m 6 Mittschiffshöhe H – 1,34 m 1,34 m 7 Raumtiefe D – 2,25 m 2,25 m 8 Tiefgang Tmax – 0,555 m 0,60 m 9 Freibord FM – 0,780 m 0,74 m 10 Verdrängung V – 7,82 m3 8,99 m3 11 Deplacement ∆ – 7,935 t 9,12 t 12 Leistungsmasse ∆ / M. 13 Hauptspantläche AM 14 Wasserlinienläche 15 ∆ / Mannschaft 0,265/0,284 t 0,304/0,326 t – 0,729 m 0,835 m2 AWP – 25,350 m2 26,68 m2 Lateralläche ALP – 8,050 m 8,72 m2 16 Benetzte Fläche WS – 33,58 m2 35,43 m2 17 Völligkeit AM / Mittschiffskoeizient CM AM / BWL x T 0,63 0,64 18 Völligkeit AWP / Wasserlinienkoeizient CWP AWP / LPP x BWL 0,74 0,73 2 2 19 Völligkeit V / Blockkoeizient CB V / LPP x BWL x T 0,41 0,41 20 Schärfegrad / prismatischer Koeizient CP V / LPP x AM 0,65 0,64 21 Schlankheitsgrad / Längenkonstante CV LPP / 3√V 8,30 8,04 22 Völligkeit der benetzten Fläche CWS WS / (3√V)2 8,52 8,19 23 Relative Verdrängung Vr ∆ / (0,1 x LPP)3 1,77 1,95 24 Länge-Breite-Index LB LPP / BWL 7,92 7,67 25 Breite-Tiefgang-Index BT BWL / T 3,75 3,63 26 Länge-Tiefgang-Index LT LPP / T 29,69 27,87 Tabelle 2 Nydam B. Schiffsmaße (Nr. 1 approximativ; Nr. 8 bis Unterkante Kiel; Nr. 11 für ρ = 1,015 g / cm3). Version I: Minimum-Deplacement; Version II: mit hypothetischer Zuladung. linie ohne Überstände (Steven) und entsprechender Breite um den genannten Faktor aus. Der Sachverhalt kann folgendermaßen veranschaulicht werden: Der im frühen 18. Jahrhundert im Hedwigenkoog in Dithmarschen gesunkene Küstenfrachter mit Rundheck und annähernd parallelen Seiten lieferte die Koeffizienten CM 0,89 – 0,90 und CWP 0,91 – 0,92 (Englert 1997, 25 f.). Betrachtet man dessen mit steilen Bordwänden versehenen Rumpf dreidimensional und setzt seinen verdrängten Raum ins Verhältnis zum umgebenden Quader, so leitet sich daraus der Blockkoeffizient CB 0,64 ab. Dem steht für Nydam B die Zahl 0,41 gegenüber. Das Eichenholzboot gleicht darin Hjortspring, unterscheidet sich indes von den Binnenfahrzeugen Oberstimm 1 und 2, deren stark gewölbte Bogenkiele deutlich niedrigere Kennzahlen ergeben (Tabelle 3,19). Sein relativ kleiner Blockkoeffizient zusammen mit der relativ großen Völligkeit der Wasserlinienfläche spricht für respektable Querund Längsstabilität des Fahrzeuges. Als Indikator für relative Schlankheit und Fahrtwiderstand setzt die Längenkonstante die Länge zwischen den Loten bzw. die Länge der Wasserlinie ohne vorn und achtern über die Außenhaut ragende Komponenten (Steven) ins Verhältnis zur Verdrängung. Hier ergibt sich für Nydam B eine gegenüber Oberstimm deutlich niedrigere, theoretisch ungünstigere Zahl, die sich vom CV der beiden Hjortspring-Entwürfe noch deutlicher absetzt (Tabelle 3,21), wohingegen die Werte für die Völligkeit der benetzten Fläche von Nydam B und Oberstimm näher beieinander liegen (Tabelle 3,22). Die gegenüber Nydam B größeren Längenkonstanten erklären sich aus der relativ großen Wasserlinienlänge der verglichenen Rümpfe bei maximal der Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde 242 Nydam B / I Nydam B / II Hjortspring (1) Hjortspring (2) Oberstimm (3) 1 Lmax 22,85 m 22,85 m 15,33 m 18,09 m 15,4 – 16,0 m 2 LWL 17,54 m 17,82 m 13,66 m 14,85 m 15,1 – 15,3 m 3 LPP 16,48 m 16,72 m 13,66 m 14,85 m 14,3 – 14,6 m 4 Bmax 3,34 m 3,34 m 2,07 m 2,02 m 2,73 – 2,77 m 5 BWL 2,08 m 2,18 m 1,47 m 1,50 m 2,08 – 2,15 m 6 H 1,34 m 1,34 m 0,78 m 0,71 m 1,03 – 1,05 m 7 D 2,25 m 2,25 m 1,80 m – – 8 Tmax 0,555 m 0,60 m 0,32 m 0,35 m 0,46 – 0,52 m 9 FM 0,780 m 0,74 m 0,46 m 0,36 m 0,51 – 0,59 m 10 V 7,82 m3 8,99 m3 2,810 m3 3,13 m3 3,82 – 4,52 m3 11 ∆ 12 ∆ / M. 13 AM 14 AWP 15 ALP 16 WS 33,58 m 35,43 m – 16,66 m 17 CM 0,63 0,64 0,541 0,728 0,563 – 0,588 18 CWP 0,74 0,73 0,631 0,538 0,611 – 0,619 19 CB 0,41 0,41 0,438 0,398 0,270 – 0,284 20 CP 0,65 0,64 0,810 0,545 0,452 – 0,512 21 CV 8,30 / (8,8) 8,04 9,650 10,157 8,830 – 9,148 22 CWS 8,52 8,19 – 7,79 8,035 – 8,624 23 Vr 1,77/1,47) 1,95 (1,61) 1,118 0,968 1,306 – 1,452 24 LB 7,92 7,67 9,3 9,912 6,65 – 7,02 25 BT 3,75 3,63 4,6 4,233 4,08 – 4,59 26 LT 29,69 27,87 42,8 41,957 28,1 – 31,1 9,12 t 2,850 t 3,170 t 3,80 – 4,50 t 0,265/0,284 t 7,935 t 0,304/0,326 t 0,143 t 0,159 t 0,205 – 0,233 t 0,729 m2 0,835 m2 0,39 m2 0,546 – 0,684 m2 25,350 m 2 8,050 m2 2 26,68 m 2 8,72 m2 2 0,255 m2 12,700 m 2 – 12,97 m 2 4,55 m2 2 18,42 – 19,19 m2 4,50 – 4,99 m2 21,0 – 22,1 m2 Tabelle 3 Nydam B. Vergleich der Schiffsmaße antiker Mannschaftsboote. 1 ergänzt nach Timmermann 1956; 2 nach Jensen 1999; 3 ergänzt und korrigiert nach Bockius 2002a. Hälfte der Verdrängung vom Nydam-Boot. Setzte man dort regelwidrig die Wasserlinienlänge einschließlich der stark vorspringenden Stevenprofiltiefen ein, leitete sich daraus ein CV von 8,8 ab, der dem Minimum der Oberstimm-Boote gleichkommt. Als Anhaltspunkt für das Geschwindigkeitspotenzial und Schiffsgewicht stellt die relative Verdrängung (Tabelle 3,23) das Deplacement ins Verhältnis zur Länge zwischen den Loten. Um die Hälfte größer als beim Hjortspring-Boot und deutlich über den für die Oberstimm-Rümpfe errechneten Zahlen, erscheint Nydam B relativ schwer. Das schlägt sich in ähnlicher Weise durch die Leistungsmassen der miteinander verglichenen Fahrzeuge nieder: Hatte auf dem Hjortspring-Boot ein Paddler – allerdings bei gegenüber Riemenantrieb geringerem Wirkungsgrad – nur rund 140 – 160 kg Masse zu beschleunigen und in Fahrt zu halten, steigern sich diese Wert für Oberstimm um 30 – 60 %, wohin- gegen für Nydam B mit theoretisch 265 – 284 kg nahezu das Doppelte anzunehmen ist (Tabelle 3,12). Der mit 0,65 höhere prismatische Koeffizient CP (Tabelle 3,20) von Nydam B lässt mit mehr Kraftaufwand zur Aufrechterhaltung der Fahrt rechnen, leitet sich aber auch von weniger scharf geschnittenen Schiffsenden ab, die beim Stampfen im Seegang durch erhöhten Auftrieb einem Unterschneiden und überkommender See entgegenwirken. Die eigenschaftsrelevante Verwandtschaft mit den verglichenen Mannschaftsbooten relativiert sich, hält man den Datensatz des Nydam-Bootes neben zwei außerordentlich schlanke, von rund 60 Mann geruderte Langschiffe wikingischer Magnate: Etliche Meter kürzer, mit einem beträchtlich geringeren Einsatzgewicht und von nur halb soviel Riemen angetrieben wie die Fahrzeuge des späten 10. und des 11. Jahrhunderts, spiegeln die Formkoeffizienten des Eichenholzbootes höchste Koinzidenz mit den Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests Nydam B / I Nydam B / II Hedeby 1 Skuldelev 2 1 Lmax 22,85 m 22,85 m 30,09 m 29,28 m 2 LWL 17,54 m 17,82 m 28,75 m 26,93 m 3 LPP 16,48 m 16,72 m 28,75 m 26,93 m 4 Bmax 3,34 m 3,34 m 2,58 m 3,76 m 5 BWL 2,08 m 2,18 m 2,20 m 2,90 m 6 H 1,34 m 1,34 m 1,52 m 1,77 m 7 D 2,25 m 2,25 m 4,34 m 5,22 m 0,88 m 8 Tmax 0,555 m 0,60 m 0,75 m 9 FM 0,780 m 0,74 m 0,77 m 0,89 m 10 V 7,82 m3 8,99 m3 18,18 m3 21,11 m3 11 ∆ 12 ∆ / M. 13 AM 14 AWP 15 ALP 16 WS 33,58 m 17 CM 18 19 20 7,935 t 9,12 t 0,265/0,284 t 0,304/0,326 t 0,729 m2 25,350 m 18,43 t 0,835 m2 0,357/0,383 t 0,94 m2 1,26 m2 57,03 m2 19,00 m2 19,20 m2 35,43 m 67,13 m 79,02 m2 0,63 0,64 0,615 0,582 CWP 0,74 0,73 0,755 0,730 CB 0,41 0,41 0,412 0,361 CP 0,65 0,64 0,670 0,624 8,050 m2 2 8,30 / (8,84) 21 CV CWS 23 Vr 24 LB 7,92 25 BT 3,75 26 LT 29,69 8,52 1,77 / (1,47) 26,68 m 21,43 t 0,297/0,341 t 2 2 22 Tabelle 4 2 8,72 m2 2 8,04 / (8,57) 47,78 m 2 10,940 9,734 9,717 10,345 0,776 1,097 7,67 13,058 9,275 3,63 2,936 3,284 27,87 38,340 30,463 8,19 1,95 / (1,61) Nydam B. Vergleich der Schiffsmaße mit Daten wikingerzeitlicher Langschiffe (ergänzt nach Jensen 1999). für die rekonstruierten Rümpfe Hedeby / Haithabu 1 (Jensen 1997; 1999, 48 – 55; B22 – 23 Nr. 10; Crumlin-Pedersen 1997b, 91 f. Tabelle 4.1 [jeweils mit leicht variierenden Werten]) und Skuldelev 2 (Jensen 1999, 48 – 55; B34 – 35 Nr. 16; Crumlin-Pedersen 1997b, 92 Tabelle 4.1) ermittelten Zahlen wider (Tabelle 4,17 – 20). Daraus lässt sich zwar nichts über das Geschwindigkeitspotenzial des NydamBootes ableiten, außer dass den wikingerzeitlichen Schiffen bei gleichen Umgebungsbedingungen trotz der größeren Leistungsmasse rechnerisch eine deutlich höhere maximale Fahrt zugebilligt werden kann (Nydam B: 7,5 – 8,7 kn [Fn = 0,30/0,35]; Hedeby 1 / Skuldelev 2: 9,5 – 11,4 kn [Fn = 0,30/0,35])20. Andere Eigenschaften der Boote, so sie aus dem Form- und Verdrängungswiderstand resultieren, dürften indes 20 243 sehr ähnlich gewesen sein. Da man in Nordeuropa vor dem 17. Jahrhundert kein Schiffsdesign mit plantechnisch definierter Schiffsform voraussetzen kann, werden sich solche morphologischen Gleichläufigkeiten einerseits aus den gewählten Hauptabmessungen und Proportionen, nicht zuletzt aber aus dem Baukonzept unter Anwendung der shell-firstMethode auf der Basis angewandter Klinkertechnik erklären. Nydam B konnte bei voller Riemenbesatzung eine respektable Marschfahrt erreichen, und selbst bei einem theoretischen Verlust von 50 % der Besatzung wäre der Rumpf noch hinreichend manövrierfähig gewesen (vgl. das nachfolgende Kapitel zum Schlepptanktest von R. Grabert). Seine Kapazität lässt sich an der Verdrängungskurve ablesen Für die auf Skuldelev 2 fußende Replik wurden im Experiment unter Riemen Maximalwerte von 11 kn gemessen: Bill u. a. 2007, 63. Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde 244 +9 +8 +7 +6 WL 0.5 – – – – WL 1 – – WL 2 – – 0,0201 0,033 0,065 0,092 0,109 0,132 0,145 0,144 0,138 0,105 0,010 0,067 0,043 0,021 0,009 WL 3 – – 0,0353 0,087 0,147 0,196 0,234 0,267 0,278 0,274 0,265 0,232 0,204 0,151 0,113 0,069 0,033 0,001 WL 4 – 0,004 0,076 0,164 0,254 0,328 0,383 0,427 0,436 0,430 0,415 0,371 0,338 0,273 0,213 0,137 0,077 0,011 WL 5 – 0,015 0,136 WL 5.6 – 0,032 0,176 – WL 6 – +5 +4 +3 +2 +1 0 -1 -2 -3 -4 -5 -6 -7 -8 -9 - 10 – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 0,268 0,385 0,483 0,560 0,606 0,624 0,613 0,590 0,546 0,491 0,413 0,336 0,235 0,140 0,032 – – 0,330 0,471 0,591 0,680 0,727 0,744 0,733 0,710 0,659 0,594 0,507 0,418 0,305 0,188 0,054 – – 0,001 0,005 0,007 0,010 0,016 0,018 0,013 0,006 0,005 0,054 0,011 0,022 0,026 0,038 0,046 0,050 0,043 0,034 0,027 0,001 0,001 0,040 0,216 0,384 0,540 0,666 0,762 0,812 0,834 0,820 0,795 0,741 0,671 0,577 0,478 0,350 0,225 0,069 0,001 – WL 9 0,015 0,204 0,536 0,844 1,106 1,326 1,466 1,544 1,571 1,561 1,510 1,436 1,333 1,190 1,028 0,818 0,580 0,282 0,044 – WL 12 0,101 0,492 1,010 1,464 1,836 2,119 2,318 2,412 2,462 2,445 2,380 2,272 2,148 1,956 1,741 1,432 1,077 0,624 0,201 0,004 Tabelle 5 Nydam B. Spantareale, planimetriert aus klinkergerecht ergänztem Mallkurvenplan 217-TR – 48. – Die Verdrängungsberechnung liefert für die gewählten Eintauchtiefen folgende Werte: V0.5 = 0,078 m3; V1 = 0,319 m3; V2 = 1,142 m3; V3 = 2,564 m3; V4 = 4,348 m3; V5 = 6,474 m3; V5.6 = 7,905 m3; V6 = 8,990 m3; V9 = 18,80 m3; V12 = 30,44 m3. (Abb. 8; Tabelle 5): Zuladung von 1 t, ob nun Equipment oder Beute, resultierte in rund 4 cm weniger Freibord, 2 t in rund 10 cm minus. Bei optimaler Verstauung konnte die Befrachtung zur Steigerung der Gewichtsstabilität beitragen. Heute wie damals oblag es der Verantwortung eines Schiffsführers, wie mit den Konsequenzen solcher Konditionen umzugehen ist, d. h. zu beurteilen, welche Risiken bestehen und welche Maßnahmen zu deren Minimierung ergriffen werden können. Die hier erörterten Daten gründen originär in den von Morten Gøthche bereitgestellten Kurven und bautechnischen Zeichnungen, denen auch das in Mainz hergestellte Schlepptankmodell im Maßstab 1 : 5 schiffsgeometrisch folgt. Anders als die im Linienriss dargestellten Flächen und abzuleitenden Volumina wurde dessen Rumpfhaut durch Beplankung von Mallen erzeugt, deren Kurvatur der maßstabsgerechten Vergrößerung Gøthches „Nakkelinier“ entsprach. Wie die Einrichtung des Testmodells in der SVA Potsdam ergab, tauchte es bei dem als Deplacement gelieferten Wert 10 mm tiefer ein, als es die plantechnisch basierte Berechnung erwarten ließ. Wie wiederholte Nachprüfungen an Zeichnungen und Modell bestätigt haben, unterscheidet sich letzteres formal durch etwas steilere Kielgänge, hervorgerufen durch Toleranzen bei den Schmiegen an den Kielflanken und geringfügige Maßabweichungen, wie sie sich in der Praxis kaum vermeiden lassen. Das im Kielgangsbereich schärfere Unterwasserschiff führt zwar zu einem etwas größeren Tiefgang als kalkuliert; indes gleicht sich die formale Differenz bis zur Konstruktionswasserlinie hin aus, da sich die Hauptspantfläche für beide Versionen als identisch erwies. Schlepptanktest in der SchiffbauVersuchsanstalt Postdam Rainer Grabert Vorbereitung des Modells für die Versuche Am 24. August 2012 wurden Widerstandsversuche in der Schiffbau-Versuchsanstalt Potsdam (SVA) mit dem Modell M1504S000 durchgeführt und in einem Versuchsbericht (Grabert 2012) dokumentiert. Das Modell ist vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum (RGZM) im Maßstab von 1 : 5 gebaut und zur SVA nach Potsdam gebracht worden (Abb. 14 – 15). Dort wurde es für die Versuche vorbereitet. An der Außenhaut war ein Liniennetz notwendig, um während der Versuche die Ausmaße der Wellenbildung beurteilen zu können. Spanten entsprechend dem Linienriss des RGZM von -10 im Hinterschiff bis + 10 im Vorschiff geben die Orientierung in horizontaler Richtung. Eine durchgehende Wasserlinie auf Höhe des berechneten Tiefgangs von 120 mm (60 cm im Original) und darauf basierend weitere Wasserlinien im Abstand von 20 mm geben die Orientierung in vertikaler Richtung. Um das Modell während der Messungen auf geradem Kurs zu halten wurden Führungen an Bug und Heck angebracht, die Querbewegungen verhindern aber Längs- und Vertikalbewegungen zulassen. Weil sich am Modell die turbulente Strömung erst weiter hinten ausbilden würde als am Original, sind Turbulenzerreger in Form von Sandstreifen am Spant + 7 angebracht worden. Würde man darauf verzichten, wäre der gemessene Widerstand zu gering. Um den Eigenwiderstand der Sandstreifen Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests auszugleichen, wurden sie nicht direkt am Vorsteven angebracht. Weiterhin wurde am Spant 0 eine Zugstange gelenkig angebracht, an der das Modell über ein Kraftmessglied gezogen werden konnte. Die Gelenke an beiden Enden der Zugstange sind notwendig, damit das Modell während der Messungen frei trimmen und tauchen kann. Vor dem Versuch wurde das Modell auf die vorher berechnete Verdrängung eingetrimmt. Die Differenz zwischen dem zu untersuchenden Verdrängungsgewicht sowie dem Gewicht des Modells wurde mit Ballastgewichten ausgefüllt. Diese wurden so verteilt, dass das Modell vorn und hinten den gleichen Tiefgang und keine Krängung hatte. Beim Eintrimmen stellte sich heraus, dass die berechneten Werte für Verdrängungsgewicht und Tiefgang nicht zusammenpassten. Weil die Verdrängung der Basiswert ist, wurde dieser Wert beibehalten und mit dem sich daraus ergebenden Tiefgang weitergearbeitet. Der ursprünglich berechnete Wert für den Tiefgang war 120 mm (60 cm am Original). Die Versuche wurden mit einem Tiefgang von 130 mm (65 cm am Original) durchgeführt. Die Versuche fanden in der Schlepprinne der SVA statt. Diese hat eine Länge von 280 m, eine Breite von 9 m und eine Wassertiefe von 4,5 m. Über diesem Kanal fährt auf Schienen der Schleppwagen, der das Modell durchs Wasser zieht. Vom Schleppwagen ragen drei Streben senkrecht in das Modell. Die zwei äußeren sind die Führungen für den geraden Kurs des Modells. An der mittleren befindet sich ein Kraftmessglied, an dem die Zugstange befestigt wird. Um dynamisches Tauchen und Trimmen messen zu können, befanden sich am Schleppwagen Drahtpotenziometer senkrecht über Bug und Heck. Abbildung 16 zeigt das Modell am Schleppwagen. Durchführung der Modellversuche Bei einem Widerstandsversuch wird das Modell vom Schleppwagen auf eine vorgegebene Geschwindigkeit beschleunigt. Wenn sich das Modell in einem stationären Zustand befindet, wird mit der Messung begonnen. Nach Ablauf der Messung wird das Modell gestoppt und zurück gefahren. Sobald sich die Wellen auf der Wasseroberfläche wieder beruhigt haben, was bis zu 30 Minuten dauert, kann mit der nächsten Messung begonnen werden. Üblicherweise werden die Messungen für verschiedene Geschwindigkeiten vorgenommen. Vor Beginn der Messungen mit dem Modell des Nydam-Bootes wurde bei einer Fahrt das Ruder auf seinen neutralen Winkel eingestellt, das heißt, es erzeugte keine Querkraft. 245 Mit dieser Einstellung wurde der Widerstand im Geschwindigkeitsbereich von 3 – 9 Knoten in Schritten von 1 Knoten gemessen. Während der Messungen wurde das Modell mit 2 Kameras von vorn und von hinten fotografiert. Die folgenden Fotos zeigen die Wellenbildung bei verschiedenen Geschwindigkeiten. Die Bilder der vorderen Kamera (Abb. 17 – 20) zeigen, dass sich bei 3 und 5 Knoten kaum eine Wellenbildung zeigt. Erst bei größeren Geschwindigkeiten entsteht eine Bugwelle, die bei 9 Knoten etwa 20 mm Höhe (10 cm am Original) erreicht. Die Bilder der Heckkamera (Abb. 21 – 24) zeigen sehr schön die Wellen, die etwas weiter weg vom Boot entstehen, sowie die Welle, die am Ruder entsteht. Umrechnung der Messwerte vom Modell auf die Großausführung Für die Versuchsauswertung wird die Froudesche Methode (von William Froude im Jahre 1871 eingeführt) angewendet, d. h. Massen- und Schwerkräfte sind an Modell und Großausführung in gleichem Verhältnis. Daraus folgt, dass die Wellenbildung an Modell und Großausführung geometrisch ähnlich sind. Die Reibungsanteile werden jeweils rechnerisch berücksichtigt, weil die Ähnlichkeitsgesetze für die Reibungskräfte nicht gleichzeitig eingehalten werden können. Im Detail sieht die Prozedur folgendermaßen aus (zu Symbolen bzw. Abkürzungen siehe Tabelle 6). Aus dem gemessenen Widerstand wird der dimensionslose Widerstandsbeiwert des Modells gebildet. Davon zieht man den viskosen Widerstandsanteil des Modells ab, der das Produkt aus Formfaktor und Reibungswiderstandsbeiwert ist, und erhält den Restwiderstandsbeiwert. Da der Restwiderstand nur Massen- und Schwerkräfte enthält, ist der Restwiderstandsbeiwert für Modell und Großausführung gleich. Dazu addiert man den viskosen Widerstandsanteil des Schiffes und einen Rauigkeitszuschlag. Die Reibungswiderstandsbeiwerte werden nach der ITTC Korrelationslinie von 1957 jeweils für die Reynoldszahl des Modells und der Großausführung getrennt berechnet. Der Formfaktor berücksichtigt die Krümmung der Außenhaut und ist für Modell und Großausführung gleich. Er ist notwendig, weil sich der Reibungswiderstandsbeiwert nach der ITTC-Korrelationslinie nur auf eine ebene Platte bezieht. An Flächen mit einer Krümmung, wie sie an Schiffen immer vorhanden sind, treten größere viskose Widerstände auf, was durch den Formfaktor berücksichtigt wird. Der Formfaktor wurde nach dem Verfahren von Prohaska, welches hier nicht weiter erläutert 246 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde wird, ermittelt. In Abbildung 25 sind die Widerstandsanteile zusammen mit dem Formfaktor in der übersichtlichen Darstellung nach Paffet dargestellt. Die Kurve CFM ist der für dieses Modell berechnete Reibungswiderstandsbeiwert. CTM ist der gemessene Gesamtwiderstandbeiwert. Mit dem Modell wurden auch so kleine Geschwindigkeiten gefahren, dass vernachlässigbar kleine Wellenwiderstände und damit nur viskose Widerstände auftraten. Den viskosen Widerstandsbeiwert CVM erhält man aus der Multiplikation von Formfaktor und Reibungswiderstandsbeiwert. Der Widerstand des Ruders wurde nach der β-Methode mit β = 0,6 umgerechnet, d. h. 60 % des gemessenen Widerstandes des Ruders werden zusammen mit dem Schiffswiderstand umgerechnet. Dazu wurde das Modell einmal mit und einmal ohne Ruder geschleppt. Der Anteil des Ruders am Gesamtwiderstand beträgt bei der kleinsten Geschwindigkeit (3 kn) 13 % und sinkt bis auf 4 % bei der größten Geschwindigkeit (9 kn). In Abbildung 26 sind die Widerstandskurven des Modells ohne Ruder sowie die des Ruders dargestellt. Der Rauigkeitszuschlag berücksichtigt die größere Rauigkeit des Schiffes gegenüber dem Modell. Abweichend vom üblichen Rauigkeitswert kS = 0,15 mm für moderne Stahlschiffe liegt dieser Wert für Holz zwischen 0,2 mm und 1,0 mm (Sass u. a. 1961). Die Güte der Holzbearbeitung bei diesem Boot ist nicht belegt, hat aber erheblichen Einfluss auf das Ergebnis. Darum werden zwei Ergebnisse berechnet, die als obere und untere Grenze angenommen werden können. Die Außenhaut war nachweislich nicht beschichtet, und mit den Arbeitsmethoden zu dieser Zeit kann angenommen werden, dass Rauigkeitswerte im Bereich von 0,6 ≤ kS ≤ 1,0 erreicht wurden. Deshalb wurden zwei Widerstandskurven berechnet (Abb. 27). Bei einer Geschwindigkeit von 9 Knoten ergibt sich durch die unterschiedlichen Rauigkeitswerte eine Differenz von 9,5 % im Widerstand. Bewertung der Ergebnisse Aus den gemessenen Werten soll nun versucht werden, Schlussfolgerungen auf die erreichbaren Geschwindigkeiten zu ziehen. Ein normaler Mann kann über einen längeren Zeitraum (etwa zehn Stunden) 140 Watt Leistung abgeben und kurzzeitig (etwa eine Stunde) etwa 200 Watt (Asskamp / Schäfer 2008). Bei Leistungssportlern sind Leistungen von 1000 Watt für etwa eine Stunde abrufbar. Man kann bei antiken Ruderern bestimmt von einem gu- ten Trainingszustand ausgehen, dieser wird aber immer noch weit entfernt von dem Niveau heutiger Hochleistungssportler gewesen sein. Unter der Annahme, dass ein antiker Ruderer über einen längeren Zeitraum eine Leistung von 150 Watt aufbringen und diese kurzzeitig auf 400 Watt erhöhen konnte, erhält man mit 30 Ruderern 4,5 Kilowatt für die normale Marschfahrt, die auf 12 Kilowatt gesteigert werden konnten. Es kann aber nicht die volle Leistung der Ruderer für den Vortrieb genutzt werden. Verluste entstehen z. B. am Ruderblatt, weil ein Druckausgleich über die Kanten des Ruderblattes stattfindet und Wirbel gebildet werden. Auch an den Ruderdollen entstehen Reibungsverluste. Weitere Verluste entstehen dadurch, dass das Boot keine gleichmäßige Geschwindigkeit hat. Während die Ruder durch das Wasser gezogen werden ist die Geschwindigkeit des Bootes höher, wenn die Ruder wieder zurückgeführt werden ist sie niedriger als die Durchschnittsgeschwindigkeit. Von Kleshnev (2008) werden Gesamtwirkungsgrade der Propulsion beim Rudern angegeben, die zwischen 74 % beim Einer und 81 % beim Achter liegen. Diese Untersuchungen gelten für die modernen Boote bei den Olympischen Spielen. Auch wenn man annehmen kann, dass bei 30 Ruderern ein höherer Wirkungsgrad erreicht wird, ist zu bedenken, dass die technischen Voraussetzungen in früheren Zeiten auf wesentlich geringerem Niveau waren. In Asskamp / Schäfer 2008 wird ein Wirkungsgrad von 70 % verwendet, der hier übernommen wird. Es ergeben sich also Leistungen zwischen 3,15 und 8,4 Kilowatt. Damit sind Geschwindigkeiten von etwa 5,8 Knoten für die Marschfahrt erreichbar. Unter der Annahme eines etwas glatteren Schiffsrumpfes und der Aufbringung der Maximalleistung wären 8 Knoten möglich. Abbildung 28 veranschaulicht die Verhältnisse. Man sieht auch, dass die Leistungskurve mit wachsender Geschwindigkeit immer steiler wird. Will man z. B. die Geschwindigkeit um 1 Knoten von 4 auf 5 Knoten erhöhen, benötigt man dafür eine Leistungssteigerung von einem Kilowatt. Für eine Geschwindigkeitssteigerung von 6 auf 7 Knoten (ebenfalls um 1 Knoten) sind schon mehr als drei Kilowatt erforderlich. Diese Werte gelten für glattes Wasser, d. h. für ruhige See. Durch Wind und Wellen wird der Widerstand stark zunehmen und die erreichbare Geschwindigkeit herabgesetzt. Untersuchungen dazu stehen noch aus. Aber auch diese ersten Untersuchungen können schon einen Eindruck von den Möglichkeiten der antiken Seefahrer vermitteln. Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests Abb. 14 Das Modell M1504S000, schräg von vorn. Abb. 15 Das Modell M1504S000, schräg von hinten. Abb. 16 Das Modell am Schleppwagen. 247 248 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Abb. 17 Wellenbild von vorn, 3 kn. Abb. 18 Wellenbild von vorn, 5 kn. Abb. 19 Wellenbild von vorn, 7 kn. Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests Abb. 20 Wellenbild von vorn, 9 kn. Abb. 21 Wellenbild von hinten, 3 kn. Abb. 22 Wellenbild von hinten, 5 kn. 249 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde 250 Abb. 23 Wellenbild von hinten, 7 kn. Abb. 24 Wellenbild von hinten, 9 kn. 5,5 5,0     4,5            10³*C 4,0 1+k 3,5 3,0 2,5 2,0 2 3 4 5 10−6*Re 6 7 8 Abb. 25 Widerstandsanteile des Modells. Schiffstechnische Bewertung und Schlepptanktests 251 16 R BH 14 12 RM [N] 10 8 6 4 2 Abb. 26 Gesamtwiderstand des Modells ohne Ruder und Ruderwiderstand (RAPP). R App 0 0,5 0,7 0,9 1,1 1,3 1,5 VM[m/s] 1,7 1,9 2,1 2,3 9 10 3,0 2,5 2,0 R T [kN] Rauigkeit = 0,6 mm Rauigkeit = 1,0 mm 1,5 1,0 0,5 Abb. 27 Widerstandskurven für das Original. 0,0 2 3 5 4 6 V [kn] 7 14 13 12 11 Rauigkeit = 0,6 mm Rauigkeit = 1,0 mm 10 PE [kW] 9 Maximum 8 7 6 5 4 3 Minimum Erreichbare Geschwindigkeiten. 1 0 VMIN Abb. 28 2 3 4 5 6 7 V [kn] VMAX 2 8 9 10 8 252 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Symbol Name Deinition oder Erklärung SI – Einheit AM Hauptspantläche Auf halber Länge zwischen Vorderen und hinteren Lot m2 CF Reibungswiderstandsbeiwert RF / (S q) 1 CFM Reibungswiderstandsbeiwert Modell CR Restwiderstandsbeiwert RR / (S q) 1 CT Gesamtwiderstandsbeiwert RT / (S q) 1 RV / (S q), bzw. (1+k) CF0 1 V / (g L)1/2 1 CTM Gesamtwiderstandsbeiwert Modell CV Beiwert des gesamten Zähigkeitswiderstandes CVM Beiwert des gesamten Zähigkeitswiderstandes Modell Fr Froudezahl g Erdbeschleunigung m / s2 k Dreidimensionaler Formfaktor 1 kS Sandrauigkeit des Schiffes kW Kilowatt L Länge des Schiffes LOS Länge über alles, eingetaucht m LPP Länge zwischen den Loten m LWL Länge in der Wasserlinie PE, PR Effektive Leistung (Gesamtschleppleistung) RV W q Dynamischer Druck ρ V2/2 Pa Kraft, die der Längsbewegung entgegenwirkt N Mittlerer Durchmesser der Sandkörner auf einer Oberläche um eine equivalente Rauigkeit zu erhalten m Referenzlänge des Schiffes (im allgemeinen Länge zwischen den Loten) m m R Widerstand (Kraft) RAPP Anhängewiderstand RBH Widerstand des Rumpfes ohne Anhänge RM Widerstand Modell RT Gesamtwiderstand Re Reynoldszahl S Benetzte Oberläche m2 SBH Benetzte Oberläche des bloßen Rumpfes m2 T Tiefgang des Schiffskörpers m TA Tiefgang am hinteren Lot m TF Tiefgang am vorderen Lot m V Geschwindigkeit, generell für das Schiff oder das Modell m/s VM Geschwindigkeit, Modell zV dynamische Tauchung für das Modell oder das Schiff m zVA dynamische Tauchung am hinteren m zVF dynamische Tauchung am vorderen Lot zVM dynamische Tauchung an Mitte Schiff Δ Verdrängungsmasse λ Modellmaßstab μ Viskosität v Kinematische Viskosität N V L/v 1 m (zVF + zVA) / 2 m Schiffsabmessungen (Index S) dividiert durch entsprechende Modellmessungen (Index M) λ = LS / LM = BS / BM = TS / TM 1 kg kg / ms μ/ρ m2 / s π Kreiskonstante 3.1415926535 1 ρ Dichte dm / dV kg / m3 θV Dynamischer Trimmwinkel Ñ Verdrängungsvolumen Δ / (ρ g) m3 grd Tabelle 6 Verzeichnis der Symbole und Begriffe. 253 MERKMALE „NORDISCHER SCHIFFBAUTRADITION“ Die Durchmusterung der Schiffsfunde aus dem Nydam-Moor, gestützt auf Vergleiche nordeuropäischer Funde und im überregionalen Kontext, fördert ein eigenständiges Technikerbe zutage, das Konventionelles mit Neuem verbindet. Komparative Faktoren sind einerseits typologische Merkmale, wie etwa Schiffsform und die Gestalt von Beschlägen, andererseits konstruktive Prinzipien und technische Details. Mit Blick auf den oben zusammen gestellten Fundstoff wird deutlich, dass hier von Uniformität keine Rede sein kann: Bauverfahren und Materialien unterscheiden sich erheblich, teils auch Ausstattungskomponenten. Schlussfolgerungen über den indigenen Charakter oder über technikgeschichtliche Verbindungen zu anderen Schiffbauregionen lassen sich erst ziehen, verfolgt man den nordischen Bootsbau der römischen Eisenzeit weit in die Vergangenheit zurück und würdigt gleichermaßen den zeitgenössischen Fundstoff aus anderen Räumen vor- und frühgeschichtlichen Schiffbaus. Prähistorische Wurzeln Wie Ole Crumlin-Pedersen übersichtweise dargelegt hat (Crumlin-Pedersen 2003b, 209 – 218; 246), reicht eine der technologischen Wurzeln skandinavischen Plankenschiffbaus mindestens bis zur frühen Bronzezeit zurück, archäologisch belegt durch Relikte relativ schwerer plattbodiger Fahrzeuge, gefunden in England und Wales (Abb. 29). Sie gelten als Repräsentanten einer von Austausch und Beschaffung von Prestigegütern profitierenden Elite (Van de Noort 2011, 160 – 165; 176), eignen sich für den 21 Einsatz auf Binnen- und geschützten küstennahen Gewässern, unter günstigen Witterungsbedingungen womöglich sogar für die offene See (Gifford u. a. 2006; mit Einschränkungen Coates 2005b). Ihre konstruktiven Charakteristika sind starke, mit Span abhebenden Methoden zugerichtete Planken und Profilstücke aus Eichenholz, die in einer älteren Phase mittels Verzurrung und Riegeltechniken einen vergleichsweise plumpen Bootskörper entstehen ließen. Beim Formen der Komponenten binnenbords dienten ausgesparte Buckel, Dechsel und Beil mit erhabenen Rippen nach passgerechter Perforation zum Durchstecken von Keil- und Riegelhölzern (Abb. 29 – 30), die zur Querstabilität der Bodenpartie und der Seiten beitrugen, wohingegen punktuelles Verzurren entlang der Nahtkanten für den Querverband sorgte. Das Baumuster der in geringer Zahl und höchst unterschiedlichem Erhaltungszustand überlieferten Fahrzeugreste erweist sich als individuell und komplex, insbesondere beim Gestalten der zwar verjüngten, dennoch stumpfen Schiffsenden. Eher grob wirkender Ausführung der Verbindungen und Aussteifung stehen teils aufwändig hergestellte profilierte Nahtkanten gegenüber, die erahnen lassen, dass der Dichtigkeit der Rümpfe, gewährleistet durch prozessseitig eingepresste Kordeln und Stränge aus Moos, besonderes Augenmerk galt. Die Verzurrung mit Eibenruten integrierte eine binnenbords den Nahtsäumen aufgelegte halbrunde Leiste, die primär dem Straffen der Verbindung diente. Weder lässt sich Teer- oder Pechverwendung nachweisen, noch zeichnet sich eine Verwendung von Spanthölzern ab (zur Übersicht vgl. McGrail 1996, 31 – 34)21. Die an den früh- und mittelbronzezeitlichen Schiffsfunden kenntlichen Techniken, namentlich Verzurrung, durch Knaggen oder Gratprofile Die Rekonstruktion von Seitenspanten bei Eskeröd 1956, 77 f. Abb. 18 und Wright 1994, 31 – 33 Abb. 3 u. 5 ist spekulativ. Zu schiffstechnischen Details McGrail / Denford 1982, 28 – 39 Abb. 3.1 – 2.9 – 12 Tabelle 3.1. 254 Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde Abb. 29 Dover, Kent. Wrack der mittleren Bronzezeit. – Ohne Maßstab. gesteckte Riegelverbinder und Deckleisten, sind von neolithischen und bronzezeitlichen Stammbooten im westlichen Ostseeraum und auf den Britischen Inseln hinreichend bekannt; die Riegeltechnik lässt sich auf dem Kontinent bereits für den spätneolitischen Hausbau nachweisen22. Die Verwendung von Moos findet sich im Kontext von Rissreparaturen oder Brunnenabdichtung seit dem Frühneolithikum (Arnold 1995, 52). So erschließt sich das auf starre und flexible Verbindungen gestützte schiffbauliche Verfahrensmuster als ein kontinentaleuropäisches Phänomen. Auf komplementäres Zusammenwirken von Zurrings und Deckleisten trifft man zuerst im pharaonischen Schiffbau des Alten Reiches (Bockius 2002b, 200 – 203 Abb. 5). Fehlt es in Mittel- und Nordeuropa außerhalb Britanniens an archäologischen Zeugnissen bronzezeitlicher Plankenfahrzeuge – an ihre Stelle traten der Einbaum und stofflich kaum nachweisbare Boote mit Tierhautbespannung (Bockius 2002b, 200 – 203 Abb. 5) – lässt sich dort die weitere Entwicklung in Umrissen nachzeichnen. So lässt sich hier ebenso wie im Mittelmeerraum eine technologische Veränderung erkennen, die das auf relativ kurze Bindemedien reduzierte Verfahren des Verzurrens gegen im Prinzip endloses Vernähen mit gedrehter Schnur oder dünnem Tauwerk ersetzte. Den derzeit ältesten Nachweis vernähter Beplankung liefert der Fund eines Fahrzeugs in Brigg, North Lincolnshire. Dabei handelt es sich um die Überreste eines aus relativ schmalen, fast parallelseitig besäumten Planken geformten Rumpfes 22 (Abb. 30), datiert in die späte Bronzezeit (Switsur 1989, 1113 f. 1116 Tabelle 3; McGrail 1996, 34 f. mit weiterer Lit.). Wiewohl die Diskussion über dessen Rekonstruktion als Plattboden- oder rund gebautes Fahrzeug noch im Fluss ist, kündigen sich hier Gemeinsamkeiten und Unterschiede gegenüber den bis zu zwölf Jahrhunderte älteren Relikten an. Haben die Planken nun bohlenartigen Zuschnitt ohne plastische Anformungen an dem zu erzeugenden Bootskörper, verteilen sich reihig angelegte, ausgesparte längliche Knaggen mit quer verlaufenden Durchbrüchen über den gefundenen Schalenrest, und in-situ-Fragmente verdeutlichen, dass der Rumpf mit durchgesteckten Querriegeln versteift wurde. Aussehen und Konstruktion der Schiffsenden bleiben mangels Erhaltung im Dunkeln, doch ist hier mit komplexen handwerklichen Maßnahmen zu rechnen, entweder mit plastisch geformten Bauteilen, die an Bug und Heck die Seiten mit dem aufkimmenden, verjüngten Boden verbinden, oder mit dort separat eingesetzten Formteilen. Dass solche Anwendungen des britannischen Bootsbaus weit in die Eisenzeit hinein fortdauerten, legt der Vergleich des Wracks von Dover (Abb. 29) aus dem 16. Jahrhundert v. Chr. mit dem mehrteiligen Stammboot von Hasholme (Abb. 31) aus den Jahrzehnten um 300 v. Chr. nahe, die beide die Verwendung profilierter Rumpfkompartimente veranschaulichen. Vgl. die in Knagge-Riegel-Bauweise gefügte Tür aus Pappel, Hasel und Esche, gefunden in einer Siedlungsschicht des mittleren Horgen, aus der Zeit um 3232 v. Chr.: Bleicher u. a. 2011, 20 f. mit Abb.; Jahrb. Arch. Schweiz 94, 2011, 234. – Eine dem spätrepublikanischen Prahm aus dem Laibacher Moor zugeordnete „Planke“ mit mehrfach durchbohrter Knagge (Kahanov 2004, 68 f. Abb. 80) widerrät einem konstruktiven Zusammenhang mit dem Schiffsfund und könnte deutlich älter sein. Merkmale „Nordischer Schiffbautradition“ 0 1 Abb. 30 Abb. 31 255 2m Brigg, North Lincolnshire. Endbronzezeitliche Bootsreste. – Plan ohne Maßstab. Hasholme, Yorkshire. Mehrteiliges Stammboot der mittleren vorrömischen Eisenzeit. Ronald Bockius · Zur kultur- und technikgeschicht lichen Stellung der Schiffsfunde 256 Abb. 32 Lough Lene, Co. Westmeath. Mehrteiliges späteisenzeitliches Boot mit konstruktiven Merkmalen der Stamm- und Plankenboottradtion. 400 cal. bc / 100 cal. bc. – Ohne Maßstab. Kiele Die plastisch ausformende Zurichtung der Kielenden mit ursprünglich durch Klinknägel mit der Beplankung verbundenen Steven des Kiefernholzbootes aus dem Nydam-Moor (Engelhardt 1865, 11 mit Abb.) lässt sich mit dem annähernd zeitgenössischen Fund von Björke vergleichen (Rieck / Crumlin-Pedersen 1988, 121; zur Stevenkonstruktion auch Jensen 2009, bes. Abb. 3; 6). Mit seinen aufkimmenden Enden steht er der Kielplanke des Hjortspring-Bootes überaus nahe (vgl. die Detailzeichnungen bei Indruszewski 2009b, 698 Abb. 153,1). Das sieht nach dem Werk von Händen aus, die gewohnt sind, Holz zu modellieren statt es, wo immer möglich und aus moderner Perspektive sinnvoll, aus vorgefertigten Bauteilen zusammenzu23 24 setzen. Der Kiel von Nydam C mit seinen geradezu skulpierten Stevenanläufen wirkt wie das Halbzeug eines Stammbootes, zu dessen Vervollständigung lediglich noch zwei Seitenplanken fehlen. Demgegenüber verfügt Nydam B über eine mittschiffs fast 60 cm breite, aus zwei Segmenten verschäftete Kielplanke, die konzeptuell vom künstlich geweiteten Lindenholztrog des Björkebootes ebenso weit entfernt ist wie sie sich von völkerwanderungs- und wikingerzeitlichen, nicht zuletzt auch antik-mediterranen Balken- bzw. im Querschnitt T-förmigen Kielen23 unterscheidet. Kielplanken sind wiederholt an rund gebauten Plankenfahrzeugen romano-keltischer Bauart anzutreffen: nicht nur an Vertretern provinzialrömischer Binnenschifffahrt und an Wracks küstentauglicher Fahrzeuge24, sondern ebenso an den gallorömisch- Vgl. etwa die Kiele der Kvalsund-Boote: Shetelig / Johannessen 1929, 58; 62 f. Abb. 37; Taf. 3,1 – 2; 4,1 – 2.5. Als Beispiele vgl. Marsden 1994, 37 – 39 Abb. 23 Tabelle 1; 65 mit Abb. 58 (London-Blackfriars); Nayling / McGrail 2004, 21 – 23; 112 f. Abb. 6.2; 117 f. 152; 241 – 243 Abb. A2.1 – 2 (Barland’s Farm); Rule / Monaghan 1993, 29 – 31 Abb. 5 – 6; 10; 15 – 17 (Guernsey). – Zum Kiel im Mittelmeerraum Casson 1971, 212 – 215 Appendix 1; Steffy 1994, 37 – 75 Abb. 3 – 15; 1